DAS SCHIMMELCHEN

Einem armen Kleinhäuslersohne waren die Eltern gestorben. Er mußte deshalb hinaus in die Welt, sich anderwärts sein Brot zu suchen. Als er so durch den Wald ritt, kam er zu einem hohlen Baume, in dem ein altes Weib saß und Butter rührte.

Er grüßte sie freundlich, und die Alte sprach: "Wenn du Zeit hast, kannst du mir helfen; ich werde dich dafür recht gut belohnen." - "Zeit habe ich genug", sagte der Jüngling und machte sich sogleich an die Arbeit.

Als die Butter fertig war, tauchte die Alte ihre Hand in das Faß, bestrich sein Gesicht und sagte: "Jetzt wirst du ein hoher Herr werden, wie es nicht viele im Land gibt. Dort im Gebüsch steht ein Häuschen, darin findest du ein Rößlein, das schenke ich dir zum Lohne."

Freudig bedankte er sich und ging in das Gebüsch, wo er das Häuschen fand und in diesem ein winziges Schimmelchen. Er führte das Rößlein heraus, setzte sich auf und ritt davon. Als er eine Weile dahinritt, begann das Schimmelchen zu sprechen: "Lieber Junge, kehre in der Stadt im Gasthaus ,Zur goldenen Rose` ein, dort wirst du dein großes Glück machen." Der Junge wunderte sich, daß das Rößlein sprechen konnte, folgte aber dem Rat und begab sich in das Wirtshaus. Das Schimmelchen kroch wie ein Hündchen unter den Tisch, während er sich hinsetzte und eine Zeche machte.

Es war aber auch ein königlicher Diener im Gasthaus, mit dem er ins Gespräch kam. Der erzählte, daß am nächsten Tag eine große Jagd stattfinden solle, aber der König befürchte, kein Wild zu bekommen, weil der Forst schon ganz ausgeschossen sei. "Nein, nein!" rief das Schimmelchen. "Es werden Tiere in Menge geschossen werden!"

Der Diener stutzte und fragte: "Woher kommt diese Stimme?" - "Sieh da unter den Tisch, mein Rößlein hat gesprochen", entgegnete der Junge.

Sogleich ging der Diener nach Hause und erzählte dem König, was er gehört hatte, und dieser wunderte sich sehr, daß das Schimmelchen reden konnte. "Nun gut", sagte er, "so wollen wir sehen, ob es wahr gesprochen hat" Die große Jagd wurde veranstaltet, und viele Gäste nahmen daran teil. Sie erlegten dabei eine so große Menge Wild, daß alle darüber erstaunten.

Jetzt dachte sich der König: "Wenn das Rößlein das gewußt hat, dann kann es mir vielleicht auch sagen, was meiner Tochter fehlt." Denn die Königstochter war krank, und bisher hatte niemand vermocht, sie zu heilen. Er schickte den Diener in das Gasthaus, damit er das Schimmelchen hole.

Dieses ging gerne mit. Sie führten es in das Zimmer der Königstochter. "Weißt du, was mir fehlt?" fragte die Jungfrau das kluge Tier. "O ja", sagte das Schimmelchen, "du leidest an einer Gemütskrankheit." Da lachte sie und sagte: "Du hast es erraten!"

Als der König das hörte, sprach er: "Weißt du auch, wer meiner Tochter helfen kann?" - "Freilich", entgegnete das Schimmelchen, "dort im Gasthaus weilt ein Junge, wie es weitum keinen schöneren gibt. Wenn den die Königstochter sieht, wird sie augenblicklich von ihrer Krankheit geheilt."

Gleich schickte der König nach dem Häuslersohn und ließ ihn zu sich ins Schloß kommen. Als die Tochter den schönen Jüngling erblickte, färbten sich ihre blassen Wangen, und sie war plötzlich gesund. Der König beschenkte ihn in seiner Freude reichlich und wollte ihn wieder entlassen. Aber die Jungfrau wollte ihn bei sich behalten, und so gab sie so lange, nicht nach, bis ihr Vater erlaubte, daß sie den Besitzer des Schimmelchens heiratete. Und sie selbst ritt auf dem Rößlein am Hochzeitstage.

Nicht lange überlebte der alte König das fröhliche Mahl, und als er starb, wurde der Häuslersohn König des Landes.


Quelle: Die schönsten Märchen aus Österreich, o. A., o. J.,