Von dem Burschen, der zu dem Nordwind ging und das Mehl zurückforderte

Es war einmal eine alte Frau, die hatte einen Sohn, da sie schon sehr elend und gebrechlich war und  nicht mehr recht fortkonnte, sollte der Bursch für sie auf die Vorratskammer gehen und Mehl holen. Der Bursch ging auch hin; als er aber wieder die Treppe hinunterstieg, kam der Nordwind gestoben, nahm ihm das Mehl weg und flog damit durch die Luft. Der Bursch ging noch einmal hinauf in die Vorratskammer- als er aber die Treppe hinunterstieg, kam der Nordwind abermals gestoben und nahm ihm das Mehl weg, und ebenso geschah es auch das drittemal. Das verdroß den Burschen, und er meinte, es wäre unrecht, daß der Nordwind ihm so mitgespielt hatte, und er gedachte daher, ihn aufzusuchen und sein Mehl zurückzufordern.

Er machte sich nun auf; aber der Weg war lang, und er ging und ging, und endlich kam er zum Nordwind. "Guten Tag!" sagte der Bursch. "Guten Tag!" sagte der Nordwind und fragte mit grober stimme: "Was willst du?" — "Oh," sagte der Bursch, "ich wollte dich bitten, mir das Mehl wiederzugeben, das du mir auf der Treppe weggenommen hast; denn wir haben nur wenig, und wenn du uns das bißchen, das wir haben, noch dazu nimmst, so wird's nichts anderes als Hungerpfotensaugen." — "Ich habe kein Mehl," sagte der Nordwind; "aber weil es dir so dürftig geht, will ich dir ein Tuch geben; das schafft dir alles, was du dir nur zu essen wünschest, wenn du bloß sagst: ,Tuch, deck dich mit allerlei köstlichen Speisen!"

Nordwind © Fritz Loehr

Damit war der Bursch sehr wohl zufrieden. Weil aber der Weg so lang war, daß er nicht in einem Tage nach Hause kommen konnte, kehrte er bei einem Gastwirt an der Landstraße ein. Als nun die Gäste, die schon vor ihm gekommen waren, zu Abend essen wollten, breitete der Bursch sein Tuch auf einem Tisch aus, der in der Ecke stand, und sprach dann: "Tuch, deck dich mit allerlei köstlichen Speisen!" Kaum hatte er das gesagt, so tat das Tuch seine Schuldigkeit. Da meinten alle, besonders die Wirtsfrau, das wäre ein gar herrliches Tuch, wie es nun Nacht geworden war und alle lagen und schliefen, schlich sich die Wirtsfrau herbei und stibitzte das Tuch und legte ein andres an die Stelle, das ebenso aussah wie jenes; aber das konnte nicht einmal mit trockenem Brot aufdecken.

Als der Bursch am Morgen erwachte, nahm er sein Tuch und ging damit fort, und an diesem Tage kam er nach Hause zu seiner Mutter. "Nun", sagte er, "bin ich beim Nordwind gewesen. Das ist ein recht schicklicher Mann; denn er hat mir dieses Tuch gegeben, und wenn ich bloß sage: ,Tuch, deck dich mit allerlei köstlichen Speisen!' so bekomme ich alles, was ich mir zu essen wünsche." — "Ja, das mag wahr sein," sagte die Mutter,' "aber ich glaub' es nicht, eh' ich es sehe." Sogleich stellte der Bursch einen Tisch hin, legte das Tuch darauf und sprach: "Tuch, deck dich mit allerlei köstlichen Speisen!"  Aber das Tuch deckte sich nicht einmal mit einem Stück Brot.

"Es ist kein andrer Rat, ich muß wieder zum Nordwind," sagte der Bursch und machte sich auf den Weg. "Guten Tag!" sagte er, als er beim Nordwind ankam. "Guten Tag!" sagte der Nordwind, "was willst du?" — "Ich wollte gern Ersatz fürs Mehl haben, das du mir genommen hast," sagte der Bursch' "denn das Tuch, das du mir gegeben hast, taugt nichts." — "Ich habe kein Mehl," sagte der Nordwind, "aber da hast du einen Bock, der speit lauter Golddukaten, wenn du bloß sagst: ,Bock, mach Gold!" Damit war der Bursch wohl zufrieden. weil er aber so weit nach Hause hatte, daß er an einem Tage nicht hinkommen konnte, nahm er wieder Nachtherberge bei dem Gastwirt. Eh' er aber etwas zu essen verlangte, probierte er seinen Bock, um zu sehen, ob es auch wahr sei, was der Nordwind ihm gesagt hatte. Die Sache verhielt sich aber wirklich so. Als der Gastwirt das sah, meinte er, das wäre ein prächtiges Tier, und wie der Bursch eingeschlafen war, holte er sich den Bock und setzte einen andern an die Stelle, der machte aber keine Golddukaten.

Am andern Morgen ging der Bursch weiter, und als er nach Hause zu seiner Mutter kam, sagte er: "Der Nordwind ist doch ein guter Mann, er hat mir jetzt einen Bock gegeben, der speit lauter Golddukaten, wenn ich bloß sage: ,Bock, mach Gold!'" — "Das könnte wahr sein," sagte die Mutter; "aber es ist wohl nur wieder Schnickschnack, und ich glaub' es nicht, eh' ich es sehe." — "Bock, mach Gold!" sagte der Bursch, aber es war kein Gold, was der Bock machte.

Da ging der Bursch wieder zum Nordwind und sagte, der Bock tauge nichts, und er wolle Ersatz fürs Mehl haben. — "Ja, nun hab' ich dir nichts anderes zu geben", sagte der Nordwind, "als den alten Stock, der da in der Ecke steht; der hat aber die Eigenschaft, daß, wenn du sagst: ,Stock, schlag zu!' er so lange zuschlägt, bis du sagst: ,Stock, steh still!'"

Weil nun der Weg nach Hause wieder nicht kurz war, so kehrte der Bursch auch an dem Abend wieder bei dem Gastwirt ein. Da er aber sich wohl denken konnte, wie es mit dem Tuch und dem Bock zugegangen war, streckte er sich sogleich auf die Bank hin und fing an zu schnarchen. Der Wirt, der sich wohl denken mochte, daß der Stock zu etwas tauge, suchte einen andern hervor, der diesem ganz ähnlich war, und wollte ihn an die Stelle setzen; denn er glaubte nicht anders, als daß der Bursch schliefe, wie aber der Gastwirt den Stock wegnehmen wollte, rief der Bursch: "Stock, schlag zu!" Der Stock schlug auf den Gastwirt los, daß dieser über Tisch und bänke fuhr und rief und bat: "Ach Herrgott! Herrgott! Laß bloß den stock wieder aufhören,' sonst schlägt er mich noch tot! Ich will dir auch gern dein Tuch und deinen Bock wiedergeben."

Als es dem Burschen schien, daß der Gastwirt wohl genug hätte, rief er: "Stock, steh still!" Er nahm nun sein Tuch und steckte es in die Tasche, band dem Bock eine Schnur um die Hörner und nahm den Stock in die Hand, und fort ging er mit allem, bis er nach Hause zu seiner Mutter kam. Und nun hatte er guten Ersatz fürs Mehl bekommen.

Quelle: Norwegische Volksmärchen, Peter Asbjörnsen und Jörgen Moe, o.J., S. 17
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