Der Mann in allen Farben
Es war einmal ein alter Holzhacker, welcher verwitwet war und mit seinen
sieben Söhnen mitten in einem großen Walde wohnte. Eines Tages
rief der Holzhacker seine sieben Söhne zu sich und sprach: "Ihr
Burschen! Bis heute habe ich geschwitzt, um euch euer Brot zu verdienen.
Jetzt, da ihr groß seid, geht selbst hin und arbeitet für euren
Lebensunterhalt. Ich habe noch genug Kraft, um nicht auf Almosen angewiesen
zu sein. Wenn ich nicht mehr kann, so werde ich einen Sack nehmen und
von Tür zu Tür um Brot betteln gehen, wie es einst unser Herr
Jesus Christus getan hat." "Vater, wir sind reisefertig! Wann
wir Geld haben, werden wir Euch welches bringen, und Ihr sollt nicht betteln
gehen." "So geht! Der liebe Gott bewahre euch! Aber zuvor will
ich noch jedem von euch ein Geschenk machen." Der alte Holzhacker
öffnete nun seinen Kasten, darin befand sich ein Kleid, das war aus
allen Farben zusammengestückelt, weiterhin eine Börse, die enthielt
sechs Dukaten. Er gab jedem einen Dukaten, wobei er bei dem ältesten
der Söhne anfing, so daß für den jüngsten nichts
mehr übrigblieb. Die, welche ihre Dukaten empfangen hatten, verabschiedeten
sich von ihrem Vater und gingen fort. Dann sagte der alte Holzhacker zu
dem Jüngsten, der noch wartete: "Bursch, nimm dieses zusammengestückelte
Kleid und sei nicht neidisch auf deine Brüder! Du wirst der Mann
in allen Farben sein." Gesagt, getan. Der Mann in allen Farben nahm
Abschied von seinem Vater und ging fort.
Bei Sonnenuntergang gelangte er an den Saum eines großen Waldes
und streckte sich unter einer Eiche nieder, um hier die Nacht zu verbringen.
Der Mann in allen Farben war gerade am Einschlummern, als er Schreie und
Geräusch in den Ästen vernahm. Eine Drossel war es, welche bei
ihrem Nest klagte, weil eine Schlange sich emporgeringelt hatte, um ihre
Kleinen zu fressen. Sogleich nahm der Mann in allen Farben seinen Stock
und schlug die Schlange entzwei. Die Schlange war aber von der Art derer,
die das unter der Erde verborgene Gold bewachen. Sie hatte in ihrem Bauche
zwölf Doppellouisdor und ebenso viele spanische Quadrupel. "Gut,"
sagte der Mann in allen Farben, "die Doppellouisdor sind für
mich und die spanischen Quadrupel für meinen Vater." Er streckte
sich wieder unter der Eiche aus, schlief die ganze Nacht und ging bei
Sonnenaufgang weiter.
Nach drei Stunden Marsch machte er in einer Herberge an der Seite der
Straße halt. Als er Suppe gegessen und eine Flasche getrunken hatte,
bezahlte er die Pächterin und fragte sie nach dem Weg. "Mann
in allen Farben, wenn du immer geradeaus gehst, so wirst du in drei Tagen
in Paris sein. Wenn du aber rechts gehst, so kommst du um Mittag in das
Land des Hungers und Durstes, und ich weiß nicht, wohin du dann
gelangst." Der Mann in allen Farben hielt sich rechts. Gerade um
Mittag gelangte er in das Land des Hungers und Durstes. Dort gab es keinen
Fluß, keinen Bach, keinen Brunnen, keine Quelle. Die Erde war dort
so trocken wie der Boden eines Backofens. Menschen und Tiere, groß
und klein, Gras und Bäume, alles kam dort um, gekocht und gebraten
von der Sonne. Drei Tage und drei Nächte lang wanderte der Mann in
allen Farben ohne zu essen und zu trinken. Da fand er einen Toten auf
dem Boden ausgestreckt, der noch in seiner rechten Hand eine schmiedeeiserne
Stange hielt, welche neun Zentner wog. Der Mann in allen Farben beerdigte
den Toten, betete für ihn zu Gott, nahm die neun Zentner schwere
schmiedeeiserne Stange und wanderte weiter, bis der nächste Morgen
dämmerte.
Bei Sonnenaufgang hatte er das Land des Hungers und Durstes hinter sich.
Aber vor ihm lag ein Gebirge, steil wie eine Mauer, welches mehr als hundert
Klafter hoch aufstieg. Am Fuße des Gebirges gewahrte er ein Haus,
dessen Türen und Fenster sperrangelweit offenstanden. Es war das
Haus des Ohneseele, welcher gerade ausgegangen war, um seinen Rundgang
zu machen. Der Mann in allen Farben trat ein. Er nahm einen Brocken Brot
vom Brett, stieg in den Keller, um sich Wein zu holen, und begann zu essen
und zu trinken. Hierauf legte er sich ins Bett mit der neun Zentner schweren
schmiedeeisernen Stange in Reichweite und schlief bis Mitternacht. Da
wurde er durch lautes Gepolter geweckt. Es war Ohneseele, welcher von
seinem Rundgang zurückkam. "Ho! Ho! Ho! Wer hat sich da bei
mir eingenistet? Warte, du Dieb, warte! Ich will dir den Geschmack am
Brot verleiden!" Aber der Mann in allen Farben war schon aus dem
Bett gesprungen und hatte die neun Zentner schwere schmiedeeiserne Stange
mit der Hand umklammert. Nun gab es einen großen Kampf, welcher
drei geschlagene Stunden währte. Schließlich wurde der Ohneseele
durch einen gewaltigen Schlag auf den Kopf zu Boden gestreckt. "Mann
in allen Farben, laß mich nicht länger leiden! Nie wirst du
mich töten können. Es ist geweissagt, daß ich nicht sterben
kann bis zum Ende der Welt, um nie wieder aufzuerstehen. Laß mich
nicht länger leiden, und ich werde alles tun, was du mir gebietest."
"Gut, Ohneseele, zeige mir, wo man den Berg erklimmt. Aber zeige
recht, sonst hüte dich vor meiner neun Zentner schweren schmiedeeisernen
Stange!" Nun zeigte der Ohneseele dem Mann in allen Farben die gute
Straße, und dieser kletterte wie eine Geiß durch die hohen
und steilen Felsen.
Plötzlich bemerkte er einen Wolf, der war so groß wie ein Stier
und lief im Galopp mit offenem Rachen auf ihn los. Was tat nun der Mann
in allen Farben? Er schwang seine neun Zentner schwere schmiedeeiserne
Stange und schlug damit solchermaßen auf den Kopf des Tieres, daß
es auf den Tod verwundet niederstürzte. "Mann in allen Farben,"
sagte der Wolf, "du bist nicht der erste, der ohne zu sterben das
Land des Hungers und Durstes durchquert und dem Ohneseele seinen Willen
aufgezwungen hat. Von denen, die bis hierher gekommen sind, habe ich viele
gefressen. Aber manche sind weitergegangen und sind nun an einem Ort,
welchen du alsbald erreichen wirst. Da ich durch deine Hand falle, so
iß mein Fleisch und trink mein Blut, denn du brauchst Mut und bist
noch nicht am Ende deiner Leiden." Der Mann in allen Farben wartete,
bis der Wolf tot war. Dann aß er sein Fleisch und trank sein Blut
und fühlte sich alsbald von einer gewaltigen Kraft durchdrungen.
Eine Stunde später stand er auf dem Kamme des Gebirges, welches hier
an hundert Klafter tief unmittelbar in einen Fluß abstürzte,
der eine halbe Meile breit war. Das Wasser dieses Flusses machte ein furchtbares
Getöse und strömte schneller als der Wind. Auf der anderen Seite
des Flusses erblickte er ein Land so wunderschön, so wunderschön,
daß man glauben konnte, es sei das Paradies des lieben Gottes. Auf
dem Kamme des Gebirges traf der Mann in allen Farben eine Menge Leute,
die ihren ganzen Mut dazu aufgewendet hatten, um bis hierher zu gelangen.
Einige weinten, andere knieten nieder, falteten die Hände und riefen:
"Mein Gott, mein Gott, gib, daß wir hinüberkommen!"
Da dachte der Mann in allen Farben: "Der liebe Gott steht denen nicht
bei, die alles ihm überlassen. Diese Leute werden nie hinüberkommen."
Manche beratschlagten sich immer und entschlossen sich nie; sie sagten:
"Gut wegkommen ist alles, nur keine Eile! Wir haben Zeit!" Da
dachte der Mann in allen Farben: "Diese reden und handeln nie bis
zum Tage des Gerichts. Es gibt Zeiten, da es zu reden, und Zeiten, da
es zu handeln gilt. Wer nichts wagt, gewinnt nichts. Diese Leute werden
nie hinüberkommen." Andere redeten miteinander: "Stürzen
wir uns alle auf einmal hinab. Helfen wir einander, schwimmen wir mitsammen,
alle mitsammen!" Da dachte der Mann in allen Farben: "In diesem
Falle muß man alles geben und nimmt nichts. Diese Leute werden nie
hinüberkommen." Es waren auch zwei oder drei da, die, kühn
wie sie waren, hinabsprangen. Aber anstatt sich geradeaus zu halten, kehrten
sie sich nach denen um, welche vom Kamm des Gebirges aus zuschauten und
schrien: "Rechts! Links! Nicht so! Ihr seid verloren!" Diese
Leute kamen nie hinüber und die Fluten bedeckten sie für immer.
Da dachte der Mann in allen Farben: "Jetzt weiß ich, was ich
zu tun habe." Er versteckte sich hinter einem Felsen, rollte seine
Kleider zusammen und band sie sich auf den Rücken, dann machte er
das Zeichen des Kreuzes und sprach: "Mut, Freund!" Er sang ein
lustiges Lied und sprang ohne Furcht und Grauen hinab. Als er im Wasser
war, schwamm er immer geradeaus, er schwamm sicher und ausdauernd wie
ein Fisch, ohne sich umzukehren und auf die Rufe der Leute auf dem Gebirge
zu hören.
Eine Stunde später zog er auf dem andern Ufer des Stromes seine Kleider
wieder an. Der Mann in allen Farben begrüßte höflich die
Leute, welche auf dem jenseitigen Ufer des Flusses zurückgeblieben
waren, aber diese wurden zornig, als sie sahen, daß er herübergekommen
war. Sie zeigten ihm die Faust und überhäuften ihn mit Schmähungen.
Aber er lachte nur darüber. Er setzte seinen Weg fort.
Als er eine Stunde gegangen war, begegnete er einem bärtigen Zwerg,
welcher keine zwei Spannen groß war. "Mann in allen Farben,
du mußt mir folgen!" "Gern, Zwerg!" Beide gingen
Seite an Seite, bis sie an eine große, schwarze Höhle kamen,
welche sich weit unter die Erde erstreckte. Lange, lange stiegen sie in
dieser Höhle abwärts. Der Zwerg jedoch, welcher hinten nachging,
richtete es so ein, daß später kein Mensch mehr hindurchgehen
konnte, sei es, um hinab- oder hinaufzusteigen. Der Mann in allen Farben
und der Zwerg kamen schließlich unten an und gewahrten ein kleines
Licht. Sogleich hielten sie sich in dieser Richtung. Während sie
wanderten, wurde das Licht immer größer. Endlich befanden sie
sich auf der Schwelle eines großen Tores, welches sich gegen ein
schönes Land öffnete; in diesem stand ein großes Schloß
mit hundert Meierhöfen ringsherum. "Mann in allen Farben! Ich
schenke dir dieses große Schloß und die hundert Meierhöfe
ringsherum. Von nun ab versuche glücklich hier unter der Erde zu
leben, denn nie wirst du Mann noch Weib wiedersehen."
Der Zwerg verschwand, und der Mann in allen Farben klopfte an die Türe
des großen Schlosses. Sogleich öffnete eine Hand das Tor. Eine
andere Hand führte ihn in einen großen Saal, wo eine Tafel
gedeckt war und ein Mahl von einem Dutzend Händen dargereicht wurde.
Aber es war dort weder Mann noch Weib. Nach dem Essen durchsuchte der
Mann in allen Farben das ganze Schloß vom Speicher bis zum Keller.
Überall sah er Hände, welche in der Küche arbeiteten, welche
die Zimmer besorgten und ähnliche Dinge verrichteten. Im Hofe stand
ein großer eiserner Käfig, in welchem ein Adler saß,
dessen Fuß mit einer Kette gefesselt war. Hände brachten ihm
zweimal am Tage rohes Fleisch. Drei Stuten waren im Stall, eine weiß
wie Schnee, die andere schwarz wie ein Rabe und die dritte rot wie Blut.
Diese drei Tiere wurden ebenfalls von Händen bedient, die sie striegelten,
ihnen Streu gaben und es ihnen nicht an Heu, Stroh und Hafer fehlen ließen.
Aber es war dort weder Mann noch Weib.
Der Mann in allen Farben lebte also wohlversorgt lange Zeit im großen
Schloß, aber er war immer allein und wurde eines solchen Lebens
recht herzlich müde. Um seine Zeit zu vertreiben, ging er morgens
und abends in den Stall, und wenn er die drei Stuten versorgt hatte, trug
er dem Adler, der im Eisenkäfig gefesselt war, rohes Fleisch zu.
Diese vier Tiere schlossen so innige Freundschaft mit ihrem Herrn, daß
sie nicht mehr von den Händen bedient werden wollten. Eines Tages
begann der Adler zu reden: "Mann in allen Farben, du langweilst dich,
weil du ständig allein in diesem großen Schlosse bist. Glaubst
du, daß ich mich besser unterhalte, ich, der ich immer am Fuße
gefesselt und in einen Eisenkäfig eingesperrt bin? Befreie mich!
Ich werde durch die Höhle, in welcher du herabgekommen bist, auf
die Erde fliegen. Jeden Tag werde ich kommen und dir Nachricht von oben
bringen." Der Mann in allen Farben befreite den gefangenen Adler
und sprach zu ihm: "Adler, geh in mein Heimatland und bringe mir
Nachricht von meinem Vater. Sage ihm, daß ich unter der Erde gefangengehalten
werde und daß er mich niemals, niemals wiedersehen wird." Der
Adler flog davon und kehrte noch am gleichen Abend zurück. "Mann
in allen Farben, ich habe deinen Vater gesehen. Er ist uralt, er kann
nicht mehr arbeiten. Drei deiner Brüder helfen ihm, so gut sie können.
Aber sie verdienen nicht genug, um ihn zu ernähren. So kommt es,
daß der arme alte Mann oft seinen Sack nimmt und von Tür zu
Tür um sein Brot bettelt, wie es einst unser Herr Jesus Christus
getan hat. Jetzt habe ich alles gut eingerichtet, und das soll nicht mehr
vorkommen. Ich weiß, wo ich mich zu versorgen habe, und dein Vater
soll alltäglich sein Auskommen haben." "Danke, Adler!"
Von diesem Tage an waren der Mann in allen Farben und der Adler innige
Freunde. Jeden Morgen flog der Adler an seine Geschäfte, und jeden
Abend brachte er Nachrichten von oben mit.
Eines Abends sagte er zu seinem Freund: "Mann in allen Farben, dort
oben geht etwas vor, was des Redens wert ist. Es ist da ein König,
der hat vier Töchter, schön wie der Tag. Ein Zwerg hat ihm die
drei ältesten geraubt und hält sie irgendwo versteckt, nur die
jüngste ist bei ihrem Vater geblieben. Jetzt höre, was der König
heute morgen in allen Gemeinden des Landes durch einen Trommler hat verkünden
lassen: 'Ran plan, plan! Ran plan plan! Alle tapferen Leute und kühnen
Ritter werden vom König aus benachrichtigt, daß im nächsten
Monat in der Stadt Babylon drei große Pferderennen abgehalten werden,
jeden Sonntag eines. Wer dreimal den Sieg erringt, soll am Sonntag darauf
die Tochter des Königs heimführen.'" Nun wurde der Mann
in allen Farben traurig. Tag und Nacht dachte er über das nach, was
der Adler zu ihm gesagt hatte.
Eines Morgens gewahrte die Stute, die so rot war wie Blut, daß ihr
Herr weinte. "Mann in allen Farben, ich weiß, warum du weinst.
Aber ich kann dir aus deiner Not helfen. Mit mir wirst du das erste Rennen
gewinnen, denn ich weiß einen geheimen Weg, der auf die Erde führt.
Ich darf ihn aber nur einmal hin und zurück durchmessen, und du mußt
mir schwören, daß du wieder mit mir heimkehrst." "Blutrote
Stute, ich schwöre es dir bei meiner Seele!" "Gut, gehen
wir!" Die blutrote Stute rannte schneller als der Wind davon und
kam eine Stunde später in die Stadt Babylon. Es war an einem Sonntagabend.
Die Vesper war zu Ende, das Rennen begann, und es fehlte nicht an Rittern,
die einander den Sieg streitig machten. Aber die blutrote Stute flog schneller
als der Wind, und sie war am Ziel, als die andern Rosse noch keine hundert
Schritte gemacht hatten. Da rief das Volk: "Es lebe der Mann in allen
Farben!" Die blutrote Stute aber rannte schneller als je davon. Eine
Stunde später war der Mann in allen Farben wieder unter der Erde
in seinem großen Schloß.
Der Mann in allen Farben wurde wieder sehr traurig. Tag und Nacht dachte
er über das nach, was der Adler zu ihm gesagt hatte. Am nächsten
Sonntag gewahrte die Stute, die so schwarz war wie ein Rabe, daß
ihr Herr weinte: "Mann in allen Farben, ich weiß, warum du
weinst. Aber ich kann dir aus deiner Not helfen. Mit mir wirst du das
zweite Rennen gewinnen, denn ich weiß einen geheimen Weg, der auf
die Erde führt. Ich darf ihn aber nur einmal hin und zurück
durchmessen, und du mußt mir schwören, daß du wieder
mit mir heimkehrst." "Rabenschwarze Stute, ich schwöre
es dir bei meiner Seele!" "Gut, gehen wir!" Die rabenschwarze
Stute rannte schneller als der Wind davon und dennoch kam sie erst zwei
Stunden später in die Stadt Babylon. Es war an einem Sonntagabend.
Die Vesper war gesungen, seit einer Stunde hatte das Rennen begonnen,
und es fehlte nicht an Rittern, die einander den Sieg streitig machten.
Aber die rabenschwarze Stute flog noch schneller als die blutrote, und
sie war am Ziel, als die andern noch auf der Hälfte des Weges waren.
Da rief das Volk: "Es lebe der Mann in allen Farben!" Die rabenschwarze
Stute aber rannte schneller als je davon. Eine Stunde später war
der Mann in allen Farben wieder unter der Erde in seinem großen
Schloß.
Der Mann in allen Farben wurde wiederum sehr traurig. Tag und Nacht dachte
er über das nach, was der Adler zu ihm gesagt hatte. Am folgenden
Sonntag gewahrte die Stute, die so weiß war wie der Schnee, daß
ihr Herr weinte. "Mann in allen Farben, ich weiß, warum du
weinst, und ich könnte dir aus deiner Not helfen. Mit mir würdest
du das dritte Rennen gewinnen, denn ich weiß einen geheimen Weg,
der auf die Erde führt, und ich darf ihn einmal hin und zurück
durchmessen." "Gut, so hilf mir aus der Not!" "Ich
will nicht!" "Ich bitte dich darum!" Der Mann in allen
Farben bat solange, bis die schneeweiße Stute schließlich
erwiderte: "Gut, schwöre mir, daß du wieder mit mir heimkehrst!"
"Schneeweiße Stute, ich schwöre es dir bei meiner Seele!"
Die schneeweiße Stute rannte schneller als der Wind davon. Dennoch
kam sie erst drei Stunden später hinkend in die Stadt Babylon. Es
war an einem Sonntagabend. Die Vesper war gesungen, das Rennen war beinahe
zu Ende, und es fehlte nicht an Rittern, die einander den Sieg streitig
machten. Die schneeweiße Stute ging in kurzem Trab und hinkte. Da
rief das Volk: "Schade, der Mann in allen Farben wird nicht zum Ziel
kommen." Und der Mann in allen Farben schrie in Verzweiflung: "So
lauf doch, schneeweiße Stute!" "Ich kann nicht, ich hinke
ja!" Und der Mann in allen Farben verzweifelte, denn drei Reiter
hatten nur noch hundert Schritte bis zum Ziel und waren nahe am Sieg.
Da wieherte die schneeweiße Stute und flog so schnell, so schnell,
daß man sie kaum mit den Augen verfolgen konnte. In der Zeit, die
man braucht, um Amen zu sagen, hatte sie alle anderen Rosse überholt
und war am Ziel. Da rief das Volk: "Es lebe der Mann in allen Farben!"
Aber die schneeweiße Stute rannte schneller als je davon. Eine Stunde
später war der Mann in allen Farben wieder unter der Erde in seinem
großen Schloß.
Der Mann in allen Farben wurde wiederum sehr traurig. Tag und Nacht dachte
er über das nach, was der Adler zu ihm gesagt hatte. Am Sonntag darauf
gewahrte der Adler, daß sein Herr weinte. "Mann in allen Farben,
ich weiß, warum du weinst, und ich möchte dir aus deiner Not
helfen. Unglücklicherweise sind die Wege, welche die drei Stuten
durchmessen haben, jetzt für ewig verschlossen. Es bleibt nur noch
die Höhle, durch welche du mit dem Zwerg herabgeschritten bist. Steige
rittlings auf meinen Rücken, ich werde dich im Fluge davontragen.
Aber das ist keine kleine Mühe. Um bis zum Ende zu kommen, muß
ich während der Reise gut ernährt werden. Nimm eine Menge rohes
Fleisch mit, um mich auf der Reise zu versorgen." Der Mann in allen
Farben holte eine Menge rohes Fleisch und stieg auf den Rücken des
Adlers, der seinen Flug begann. "Mutig, mein Adler!" Und der
Adler flog gewaltig geradeaus. Jeden Augenblick schrie er: "Rohes
Fleisch! Rohes Fleisch!" Und der Mann in allen Farben versorgte ihn
und rief ihm fortwährend zu: "Mutig, mein Adler!" Hundert
Klafter unter dem Erdboden begann die Speise auszugehen. "Rohes Fleisch!
Rohes Fleisch!" Da zog der Mann in allen Farben sein Messer, schnitt
ein Stück von seinem Schenkel ab, versorgte den Adler und gab ihm
sein warmes Blut zu trinken. Fünf Minuten später gelangten beide
in die Stadt Babylon. Es war acht Uhr morgens. Jedermann trug sein Feiertagsgewand.
In allen Kirchen läuteten die Glocken wegen der Hochzeit der Königstochter.
"Mann in allen Farben," sagte der König von Babylon, "du
kannst meine Tochter erst haben, wenn du mir ihre drei Schwestern wiederbringst!"
Da sagte der Adler: "Warte hier auf mich!" Der Adler flog davon;
eine Stunde später kam er wieder und zerrte den bärtigen Zwerg,
der keine zwei Spannen groß war, an den Haaren mit. Der Zwerg klopfte
mit dem Absatz auf den Boden. Sogleich erschienen die drei Stuten: die
eine war weiß wie Schnee, die andere schwarz wie ein Rabe und die
dritte rot wie Blut. Die drei Stuten waren die drei ältesten Töchter
des Königs von Babylon, welche der Zwerg in Stuten verwandelt hatte,
um sie besser verstecken zu können. Alsbald nahmen sie ihre alte
Gestalt wieder an. "Mann in allen Farben," sagte der König
von Babylon, "ich kann dir nun nichts mehr abschlagen." Nun
wurde die Hochzeit gefeiert. Niemals wird man etwas Ähnliches sehen.
Der Mann in allen Farben ließ seinen Vater holen. Ebenso ließ
er seine drei Brüder kommen, welche dem alten Mann geholfen hatten,
und jeder von ihnen heiratete eine Prinzessin. Am Ende der Hochzeit, welche
einen ganzen Monat dauerte, sagte der Adler: "Mann in allen Farben,
schon lange diene ich dir. Und doch hast du mich noch nicht ausgelohnt."
"Adler, verlange, was du willst." "Mann in allen Farben,
gib mir den höchsten Turm in Babylon, damit ich darauf mein Nest
baue! Gib mir auch den bärtigen Zwerg, welcher keine zwei Spannen
groß ist!" "Adler, es ist gut, nimm, was du brauchst!"
Da zerrte der Adler den bärtigen Zwerg, der keine zwei Spannen groß
war, auf den höchsten Turm von Babylon. Dort riß er ihm die
Augen aus und fraß ihn bis auf die Knochen.
Quelle: Ernst Tegethoff, Französische Volksmärchen. Jena, 1923. Band 2, Nr. 53