Der Jüngling und die große Bestie mit dem Menschenkopf
In Crastes lebte einst ein junger Mann, der weder Vater noch Mutter hatte
und allein in seinem Häuslein wohnte. Dieser junge Mann war schön
wie der Tag und stark und kühn wie sonst keiner. Er war ferner so
schlau, so schlau, daß er die schwierigsten Dinge erlernte und durchschaute.
Die Leute von Crastes sagten oft im Scherz zu ihm: "Junger Mann,
du bist arm wie die Steine. Aber es steht bei dir, dein Glück zu
versuchen und so reich zu werden wie das Meer. Droben im Gebirge ist eine
Höhle voll Gold, gehütet von einer großen Bestie mit einem
Menschenkopf. Sie hat dem, der ihr drei Fragen beantwortet, die Hälfte
ihres Goldes versprochen. Mehr als hundert Leute sind schon dort gewesen.
Aber sie sind stumm geblieben und die große Bestie mit dem Menschenkopf
hat sie lebendig aufgefressen. Sieh zu, daß du dein Glück machst!"
Der Jüngling antwortete: "Danke, ich habe keine Lust, lebendig
aufgefressen zu werden!"
In dieser Zeit lebte in Schloß Roquefort ein Edelmann, der zwei
Söhne hatte und eine Tochter, die war treu wie das Gold und schön
wie der Tag. Der junge Mann erblickte sie. Auf der Stelle verliebte er
sich kopflos in sie. Eines Abends klopfte er an das Tor von Schloß
Roquefort. "Guten Abend, Fräulein!" "Guten Abend,
mein Freund! Was wünschest du?" "Fräulein, ich wünsche
Euren Vater!" "Mein Vater ist heute früh mit meinen beiden
Brüdern auf die Jagd gegangen. Er ist noch nicht zurückgekehrt.
Was willst du meinem Vater sagen?" "Fräulein, ich will
ihm sagen, daß ich kopflos in Euch verliebt bin und daß ich
Euch zur Frau begehre." "Mein Freund, ich werde deine Frau werden
oder mich niemals verheiraten. Unglücklicherweise ist mein Vater
nicht begütert. All sein Besitz wird auf meine Brüder übergehen.
Morgen trete ich in ein Kloster in Auch ein." "Fräulein,
tretet in ein Kloster in Auch ein. Aber bindet Euch nicht vor Ablauf von
sieben Tagen. Ich will mein Glück versuchen. Wenn ich sterbe, so
nehmt den schwarzen Schleier und werdet Nonne für immer. Wenn ich
wiederkomme, so werde ich genug haben, um Euch reicher zu machen als die
größten Damen des Landes." "Mein Freund, ich werde
tun, wie du gesagt hast." "Lebt wohl, Fräulein; ich gehe
zufriedenen Herzens." "Leb wohl, mein Freund!"
Der Jüngling verabschiedete sich von dem Fräulein und suchte
unverzüglich den Erzbischof von Auch auf. "Guten Abend, Erzbischof
von Auch!" "Guten Abend, mein Freund! Was steht dir zu Diensten?"
"Erzbischof von Auch, ich bin in ein Fräulein verliebt, das
schön ist wie der Tag und treu wie das Gold. Niemals wird sie meine
Frau werden, wenn ich nicht alsbald reich werde. Ich will mein Glück
versuchen. Ehe ich gehe, möchte ich Euch um Rat fragen." "Rede,
mein Freund!" "Erzbischof von Auch, Ihr seid ein weiser und
gelehrter Mann. Man sagt, da droben im Gebirge sei eine Höhle voll
Gold, gehütet von einer großen Bestie mit einem Menschenkopf.
Sie hat dem, der ihr drei Fragen beantwortet, die Hälfte ihres Goldes
versprochen. Mehr als hundert Leute sind schon dort gewesen. Aber sie
sind stumm geblieben und die große Bestie mit dem Menschenkopfe
hat sie lebendig aufgefressen." "Mein Freund, man hat dir die
Wahrheit gesagt." "Erzbischof von Auch, ich will mein Glück
versuchen. Noch diese Nacht wandere ich ins Gebirge, suche die große
Bestie mit dem Menschenkopf in ihrer Höhle auf und beantworte ihre
drei Fragen. Wenn ich stumm bleibe, wird sie mich lebendig auffressen.
Wenn ich antworte, wird mir die große Bestie mit dem Menschenkopf
die Hälfte ihres Goldes geben und ich werde das Fräulein heiraten,
das ich liebe." "Mein Freund, du bist verliebt. Nichts wird
dich hindern zu tun, wie du sagst. Handle also nach deinem Kopf, da dir
kein Ratschlag nützen kann. Über die große Bestie mit
dem Menschenkopf hat man dir gesagt, was man weiß, aber das ist
noch nicht die ganze Wahrheit. Bevor die große Bestie mit dem Menschenkopf
die Leute dreimal fragt, trägt sie ihnen drei unmögliche Dinge
auf. Kümmere dich nicht darum. Beweise, daß sie unmöglich
sind. Was die drei Fragen anlangt, so ist das eine andere Sache. Du wirst
lebendig aufgefressen werden, wenn du stumm bleibst. Höre gut zu!
Versteh sie recht! Antworte ohne Überstürzung! Wenn du richtig
antwortest, wird die große Bestie mit dem Menschenkopf ihre Macht
verlieren und zu dir sagen: 'Nimm die Hälfte meines Goldes!' Nimm
sie und kehre eilends um, wenn du dich außerstande glaubst, mehr
zu unternehmen. Wenn du dich aber für hinreichend schlau hältst,
so bleib und sprich: 'Große Bestie mit dem Menschenkopf, ich habe
erst die Hälfte meiner Arbeit verrichtet. Du hast mich nicht aus
der Fassung bringen können. Jetzt ist die Reihe an mir, deine Stelle
einzunehmen.' Dann wirst du drei Fragen an sie richten, die schwersten,
die du dir ausdenken kannst. Bleibt sie stumm, so wirst du dieses goldene
Messer nehmen, welches du unter deinen Kleidern verbergen mußt,
um es erst im rechten Augenblick hervorzuziehen. Du wirst die große
Bestie mit dem Menschenkopf abschlachten, dann wirst du ihr den Kopf abschneiden
und schleunigst mit ihrem ganzen Gold heimkehren." "Danke, Erzbischof
von Auch!"
Der Jüngling verbarg das goldene Messer unter seinen Kleidern, um
es erst im rechten Augenblick hervorzuziehen, verabschiedete sich vom
Erzbischof von Auch und ging noch in derselbigen Nacht ins Gebirge auf
die Suche nach der großen Bestie mit dem Menschenkopfe. Drei Tage
später kam er in eine wüste Gegend, in ein wildes und dunkles
Land, wo die Wasser tausend Klafter tief herabstürzten, wo die Berge
so hoch, so hoch sind, daß die Vögel nicht hinauffliegen können
und daß der Schnee darauf niemals schmilzt. Dort hauste die große
Bestie mit dem Menschenkopfe. Der junge Mann trat ohne Angst und Schrecken
in die Höhle. "Ho! Große Bestie mit dem Menschenkopfe!
Ho! Ho! Ho!" "Was willst du von mir?" "Große
Bestie mit dem Menschenkopf, ich will deine drei Fragen beantworten und
die Hälfte deines Goldes erwerben. Wenn ich stumm bleibe, wirst du
mich lebendig auffressen." Während die große Bestie mit
dem Menschenkopf sich bereitmachte, um ihn aus der Fassung zu bringen,
dachte der junge Mann an das, was der Erzbischof von Auch zu ihm gesagt
hatte: "Bevor die große Bestie mit dem Menschenkopf die Leute
dreimal fragt, trägt sie ihnen drei unmögliche Dinge auf. Kümmere
dich nicht darum. Beweise, daß sie unmöglich sind. Was die
drei Fragen anlangt, so ist das eine andere Sache. Du wirst lebendig aufgefressen
werden, wenn du stumm bleibst. Höre gut zu! Versteh sie recht! Antworte
ohne Überstürzung!" Schließlich sprach die große
Bestie mit dem Menschenkopf: "Ich gebe dir auf, das Meer zu trinken."
"Trink es selbst! Weder du noch ich haben einen hinreichend großen
Magen, um das Meer zu trinken." "Ich gehe dir auf, den Mond
zu essen." "Iß ihn selbst! Der Mond ist zu fern, als daß
ich oder du ihn erreichen könnten." "Ich gebe dir auf,
hundert Meilen Tau aus Meeressand zu drehen." "Dreh es selbst!
Der Meeressand läßt sich nicht binden wie Flachs oder Hanf.
Niemals werden weder du noch ich solche Arbeit verrichten." Da dachte
die große Bestie mit dem Menschenkopf, daß sie ihre Zeit damit
vergeudet habe, daß sie ihm drei unmögliche Dinge aufgetragen
hätte. Sie streckte ihre Klauen aus und fletschte die Zähne.
Der Jüngling wußte, daß sie nun ihre drei Fragen stellen
wolle, und er dachte an das, was der Erzbischof von Auch zu ihm gesagt
hatte: "Höre gut zu! Versteh sie recht! Antworte ohne Überstürzung!"
Schließlich sprach die Bestie mit dem Menschenkopf: "Es geht
schneller als die Vögel, schneller als der Wind, schneller als ein
Blitz." "Das Auge geht schneller als die Vögel, schneller
als der Wind, schneller als ein Blitz." "Der Bruder ist weiß
und die Schwester ist schwarz. Jeden Morgen tötet der Bruder die
Schwester. Jeden Abend tötet die Schwester den Bruder. Dennoch sterben
sie nie." "Der Tag ist weiß. Er ist der Bruder der schwarzen
Nacht. Jeden Morgen bei Sonnenaufgang tötet der Tag die Nacht, seine
Schwester. Jeden Abend bei Sonnenuntergang tötet die Nacht den Tag,
ihren Bruder. Dennoch sterben Tag und Nacht nie." "Es kriecht
bei Sonnenaufgang wie Schlangen und Gewürm. Es geht um Mittag auf
zwei Beinen wie die Vögel. Es entschwindet bei Sonnenuntergang auf
drei Beinen." "Wenn der Mensch klein ist, kann er nicht gehen.
Er kriecht auf dem Boden wie Schlangen und Gewürm. Wenn er groß
ist, geht er auf zwei Beinen wie die Vögel. Wenn er alt ist, hilft
er sich mit einem Stock, der sein drittes Bein ist." Da sagte die
große Bestie mit dem Menschenkopf: "Nimm die Hälfte meines
Goldes!" Aber der junge Mann dachte an das, was der Erzbischof von
Auch zu ihm gesagt hatte: "Nimm sie und kehre eilends um, wenn du
dich außerstande glaubst, mehr zu unternehmen. Wenn du dich aber
für hinreichend schlau hältst, so bleib und sprich: 'Große
Bestie mit dem Menschenkopf, ich habe erst die Hälfte meiner Arbeit
verrichtet. Du hast mich nicht aus der Fassung bringen können. Jetzt
ist die Reihe an mir, deine Stelle einzunehmen.' Dann wirst du drei Fragen
an sie richten, die schwersten, die du dir ausdenken kannst." Als
der Jüngling dieses gedacht hatte, sprach er: "Große Bestie
mit dem Menschenkopf, ich habe erst die Hälfte meiner Arbeit verrichtet.
Du hast mich nicht aus der Fassung bringen können. Jetzt ist die
Reihe an mir, deine Stelle einzunehmen: was befindet sich am einen Ende
der Welt?" Die große Bestie mit dem Menschenkopf blieb stumm.
"Am einen Ende der Welt befindet sich ein gekrönter König,
ein König in purpurnem und goldbetreßtem Gewand, der sich zum
Kampfe bereitet und ein großes Schwert schwingt. Er schaut auf den
Himmel, die Erde und das Meer. Aber der gekrönte König sieht
nichts kommen. Große Bestie mit dem Menschenkopf, was befindet sich
am andern Ende der Welt?" Die große Bestie mit dem Menschenkopf
blieb stumm. "Am andern Ende der Welt befindet sich ein großer
Rabe, der siebentausend Jahre alt ist. Er hockt auf dem Gipfel eines Berges.
Er weiß und sieht alles, was geschieht und alles, was geschehen
wird. Aber der große Rabe, der siebentausend Jahre alt ist, will
nicht sprechen. Große Bestie mit dem Menschenkopf, sage mir, was
die wilde Nachtigall am Karfreitag singt. Sage mir, was sie am heiligen
Samstag singt. Sage mir, was sie am Ostertag bei Sonnenaufgang singt."
Die große Bestie mit dem Menschenkopf blieb stumm. "Am Karfreitag
singt die wilde Nachtigall von der Passion unseres Herrn Jesu Christi,
der von Judas verraten wurde. Am heiligen Samstag singt die wilde Nachtigall
von den sieben Schmerzen der heiligen Jungfrau Maria. Am Ostertag bei
Sonnenaufgang singt die wilde Nachtigall von der Auferstehung unseres
Herrn Jesu Christi." Da kauerte sich die große Bestie mit dem
Menschenkopf zusammen. Der junge Mann aber dachte an das, was der Erzbischof
von Auch zu ihm gesagt hatte: "Du wirst das goldene Messer nehmen,
welches du unter deinen Kleidern verbergen mußt, um es erst im rechten
Augenblick hervorzuziehen. Du wirst die große Bestie mit dem Menschenkopf
abschlachten, dann wirst du ihr den Kopf abschneiden und schleunigst mit
ihrem ganzen Gold heimkehren." Im rechten Augenblick zog also der
junge Mann das Messer, das ihm der Erzbischof von Auch gegeben hatte,
aus seinen Kleidern hervor. Hierauf packte er die große Bestie mit
dem Menschenkopf bei den Haaren und schlachtete sie ab. Während ihr
Blut entströmte, sprach die große Bestie mit dem Menschenkopf:
"Höre! Ich muß sterben. Trink mein Blut! Sauge meine Augen
und mein Hirn aus! So wirst du stark und kühn wie Samson werden und
brauchst niemanden auf der Welt zu fürchten. Reiß mir das Herz
aus, bring es deiner Liebsten und laß sie es am Hochzeitsabend ganz
roh essen. Dann wird sie sieben Kinder gebären, drei Knaben und vier
Mädchen. Die drei Knaben werden stark und kühn werden wie du.
Die vier Mädchen werden schön werden wie der Tag. Sie werden
den Gesang der Vögel verstehen. Wenn sie zu ihren Jahren gekommen
sein werden, werden sie Könige heiraten." Die große Bestie
mit dem Menschenkopf starb. Da schnitt ihr der Jüngling den Kopf
ab. Er trank ihr Blut. Er sog ihre Augen und ihr Hirn aus. Er riß
ihr das Herz aus, um es seiner Liebsten zu bringen. Dann bestattete er
die große Bestie mit dem Menschenkopf, ohne dabei zu Gott zu beten,
denn Tiere haben keine Seele. Als die Arbeit beendet war, eilte der Jüngling
in die nächste Stadt, wo er hundert Rosse mietete. Darauf kehrte
er zur Höhle zurück und belud die Rosse mit dem ganzen Golde,
das die große Bestie mit dem Menschenkopf hinterlassen hatte.
Drei Tage später klopfte er an das Tor des Schlosses von Roquefort.
"Guten Abend, Herr von Roquefort! Ich komme mit hundert goldbeladenen
Rossen. Ich komme, um deine Tochter heimzuführen, die in ein Kloster
in Auch eingetreten ist." "Mein Freund, ich gebe sie dir. Heiratet
euch ohne Verzug."
Sieben Tage später wurde die Hochzeit gefeiert. Abends, als die junge
Frau im Bette lag, trat der Jüngling in die Kammer. "Frau, erhebe
dich und iß dies ganz roh!" Die Frau erhob sich und aß
das Herz der großen Bestie mit dem Menschenkopf ganz roh. Später
gebar sie sieben Kinder, drei Knaben und vier Mädchen. Die drei Knaben
wurden stark und kühn wie ihr Vater. Die vier Mädchen waren
schön wie der Tag. Sie verstanden den Gesang der Vögel. Als
sie zu ihren Jahren gekommen waren, heirateten sie Könige.
Quelle: Ernst Tegethoff, Französische Volksmärchen. Jena, 1923. Band 2, Nr. 55