Die armen Seelen
Es war einmal vor langen Zeiten ein junges Mädchen namens Isabeau,
welches sehr unglücklich war; es hatte seine Mutter verloren, und
sein Vater hatte sich wieder verheiratet mit einer Frau namens Seraphine,
welche alt und bösartig war, so bösartig, daß die Dorfbewohner
sich abwandten, um sie nicht anschauen zu müssen. Besonders die arme
Isabeau hatte unter der Bosheit der Stiefmutter zu leiden. Isabeau war
von ihrer ersten Mutter mit Peter verlobt worden, einem braven Burschen,
der tüchtig bei der Arbeit und immer beim ersten Hahnenschrei auf
den Beinen war. Die böse Seraphine wollte ihre Stieftochter peinigen,
daher schickte sie Peter fort und verbot ihm, in das Haus zurückzukehren.
Isabeau und Peter hatten einander sehr lieb; sie beschlossen, sich trotzdem
zu treffen und gaben sich Stelldichein hinter der Gartenhecke nach dem
abendlichen Angelusläuten. Aber kaum waren sie beisammen, so sahen
sie Seraphine mit einem Prügel bewaffnet herbeieilen; sie ergriffen
die Flucht, aber die Stiefmutter erreichte die arme Isabeau und schlug
sie ohne Erbarmen.
Isabeau war blau und braun geschlagen und zerfloß in Tränen;
sie fürchtete, noch grausamer geschlagen zu werden, wenn sie nach
Hause zurückkehrte, daher wanderte sie immer gerade aus. Lange wanderte
sie so, ohne groß daran zu denken, wohin sie ginge; und als sie
sich endlich wieder auskannte, befand sie sich mitten auf einer großen
Heide. Von Müdigkeit erschöpft, ließ sie sich am Fuße
eines Felsblocks nieder und fing an, reichliche Tränen zu vergießen;
dann schlief sie nach und nach ein. Als sie erwachte, stand der Mond hoch
am Himmel, die Sterne funkelten und Isabeau fürchtete sich so allein
inmitten dieser öden, nackten Ebene. Sie zitterte, da sie den Schrei
einer Eule, des Unglücksvogels, hörte, und bebte, als sie Sterne
über den Himmel hinwegfliegen sah, denn die Sternschnuppen, hatte
man ihr gesagt, sind die Seelen der Toten, die in die andere Welt gehen.
Plötzlich glaubte sie in der Stille der Nacht von ferne eine Dorfuhr
die zwölf Mitternachtsschläge anschlagen zu hören, und
gleich darauf sah sie die Heide zittern und sich bewegen. Zuerst erblickte
sie ein kleines Wesen, nicht größer als ein Kind, welches unter
einem Stein hervorschlüpfte; es hatte einen dicken Kopf und einen
langen weißen Bart, der bis zum Boden reichte; gleich darauf begegnete
ihm eine kleine, alte, ganz runzelige Frau, welche mehr als hundert Jahre
alt zu sein schien; dann kroch unter jedem Kieselstein, unter jedem Heidekraut
ein ähnliches kleines Wesen hervor. Es waren ihrer Tausende, soviel
als Hirsekörner auf einen Scheffel gehen, und alle liefen und bewegten
sich auf das lebhafteste. Schließlich begannen alle zu tanzen und
zu singen: "Alle frommen Seelen, alle frommen Seelen ..." Das
junge Mädchen wollte fliehen, aber eines der kleinen Wesen nahm es
bei der Hand und sprach: "Da ist Isabeau, ein Menschenkind, das mit
uns tanzen und singen soll." "Ja, tanze mit uns, Isabeau, tanze
mit uns!" wiederholten alle die andern. "Wie soll ich mit euch
tanzen?" entgegnete das arme Mädchen, "ihr singt ja immer
dasselbe!" "So füge etwas hinzu, Isabeau, dann wirst du
unsere Leiden beenden. Wir sind arme Seelen, verdammt von Mitternacht
bis Tagesanbruch zu tanzen und zu singen, und das solange, bis wir unsern
Lobgesang zum Preise des Herrn vollendet haben. Seit mehr als hundert
Jahren arbeiten wir daran, und wir haben erst das erfunden, was du soeben
gehört hast." Und alle armen Seelen begannen wieder mit flehender
Stimme zu rufen: "Fahre fort, Isabeau, fahre fort, fahre fort!"
Das junge Mädchen dachte einen Augenblick nach, dann nahm es eine
der armen Seelen bei der Hand und sang: "Alle frommen Seelen, alle
frommen Seelen / loben Gott den Herren, loben Gott den Herrn." Alle
Seelen fingen in rasender Freude mit noch größerer Lebhaftigkeit
an zu tanzen und wiederholten, was Isabeau sie soeben gelehrt hatte. Sie
tanzten bis Tagesanbruch. Isabeau war vor Müdigkeit erschöpft.
Aber die Seelen baten sie immerfort mit ihren feinen Stimmchen und sagten:
"Fahre fort, fahre weiter fort, Isabeau!" "Heute nicht,"
entgegnete sie, "aber ich werde wiederkommen, ehe der Hahn viermal
gekräht hat." "Um dir für den Dienst zu danken, den
du uns erwiesen hast," sagte die Seele zu ihr, welche die älteste
zu sein schien, "stellen wir dir eine Bitte frei und werden dir gewähren,
was du willst." "Gut," erwiderte Isabeau, "meine Stiefmutter
will nicht, daß ich meinen Bräutigam treffe: gebt mir ein Mittel,
daß sie sich entfernen muß, wenn ich bei ihm bin." "Nimm
diesen Ring," versetzte die Seele, "jedesmal, wenn du ihn an
den Finger streifst, wird deine Stiefmutter gezwungen sein, zu gehen und
ihren Kohl zu zählen, und sie wird so lange dazu brauchen, wie du
willst."
Isabeau nahm den Ring und kehrte zu ihrem Vater zurück. Als sie heimkam,
stand die Sonne schon sehr hoch; sie begegnete Peter, der in der Hoffnung,
sie zu treffen, um den Hof streunte. Als die böse Seraphine ihrer
gewahr wurde, nahm sie einen Stock und eilte herbei, um sie zu schlagen;
aber Isabeau streifte ihren Ring an, und sogleich ließ die Stiefmutter
ihren Stock fallen und wandte sich mit eiligen Schritten nach dem Garten,
wo sie sich daran machte, ihren Kohl zu zählen. Vom Garten ging sie
auf den Acker, und als sie fertig war, fing sie wieder von vorn an. Als
sie heimkam, war sie so müde, daß sie nicht einmal daran dachte,
Isabeau zu schlagen. Am nächsten Tage kam Peter, um seine Verlobte
zu besuchten, und diese schickte ihre Stiefmutter zum Kohlzählen.
Isabeau hätte ihren Geliebten am liebsten ständig bei sich gehabt,
und sie bestand darauf, daß er länger bleiben solle; aber Peter,
der einen wankelmütigen Charakter hatte, war bald dieser leichten
Mühe satt, und am dritten Tage sagte er zu dem Mädchen: "Es
lohnt sich nicht mehr, deine Stiefmutter zum Kohlzählen zu schicken;
ich mag nicht mehr zu dir kommen. Heute gehe ich mit Miette auf den Ball,
die ist hübscher als du und hat nicht so rote Augen vom vielen Weinen.
Adieu, Isabeau!" Das arme Mädchen grämte sich sehr. "Ach,"
sagte sie, "dieser Ring hat mir nur dazu gedient, meinen lieben Peter,
den ich so innig liebe, zu verlieren! Heute abend noch werde ich ihn den
armen Seelen zurückerstatten."
Als es Abend wurde, begab sie sich von neuem auf die Heide und wanderte
lange Zeit in der Finsternis. Ihr Herz pochte heftig, das geringste Geräusch
machte sie erzittern. Als sie an die Stelle kam, an welcher sie vor drei
Tagen eingeschlafen war, war es fast Mitternacht, daher gewahrte sie alsbald
die armen Seelen, welche sie umringten mit dem Ruf: "Ah! Da ist Isabeau!
Sie wird wieder mit uns tanzen und singen!" Sie faßten sie
bei der Hand und zogen sie in ihren Reihen, indem sie dabei wie das vorige
Mal sangen: "Alle frommen Seelen, alle frommen Seelen / loben Gott
den Herren, loben Gott den Herren." "Aber das ist noch nicht
genug", sagte Isabeau. "Fahre fort, fahre weiter fort, Isabeau!"
riefen alle armen Seelen. Da sang das junge Mädchen: "Alle frommen
Seelen, alle frommen Seelen / loben Gott den Herren, / der die Welt erlösen
wird." Und die Seelchen begannen begeistert zu tanzen, bis der Tag
heraufdämmerte. Beim ersten Strahl der Morgenröte hielt der
Tanz an. Die älteste Seele trat zu Isabeau und sagte wie das erstemal
zu ihr: "Du hast uns wieder einen großen Dienst geleistet,
Isabeau; bitte uns, um was du willst, wir werden es dir gewähren."
"Ich gebe euch eueren Ring zurück," sagte Isabeau, "er
hat mich recht unglücklich gemacht und hat mir nur dazu gedient,
meinen Verlobten zu verlieren. Er zieht mir ein anderes Mädchen vor,
welches er hübscher findet als mich. Ich möchte schön sein,
sehr schön, damit er mich alleweil liebe." Da nahm die alte
Seele ein Halsband von ihrem Halse und legte es um den des jungen Mädchens
mit den Worten: "Geh, du bist jetzt schöner als der Tag, kein
Menschenkind kann sich dir vergleichen; aber du wirst glücklich sein
und vielleicht wirst du uns vergessen; ohne dich können wir niemals
unseren Lobgesang vollenden. Komm wieder zu uns, Isabeau!" "Was
auch kommen mag," erwiderte das junge Mädchen, "ich komme,
ehe der Hahn viermal gekräht hat."
Isabeau machte sich wieder auf den Weg nach ihrem Dorf, aber sie verirrte
sich und kam an einem Bauernhofe vorüber, auf welchem man gerade
am Dreschen war; sie bat die Drescher, ihr den Weg zu weisen. Kaum hatten
sie diese bemerkt, als sie ihre Arbeit im Stich ließen und ihre
Flegel zur Erde warfen; sie stürzten sich auf Isabeau und brachen
in verwunderte Rufe aus: "Oh! Wie ist sie schön, wie ist sie
schön!" Alle umringten sie und boten sich an, sie zu ihrem Vater
zurückzubringen, der eine schlug seinen Karren vor, der andere seinen
Esel, der dritte seinen Rücken. Aber die Frauen bedrohten bei diesem
Anblick das junge Mädchen, zeigten ihm die Faust, fuchtelten mit
ihren Besen und Rechen herum und behandelten sie wie eine Straßendirne
und wie eine freche Person. Isabeau setzte ihren Weg fort, aber je weiter
sie vorwärts kam, desto dichter wurde das Gedränge von Bewunderern.
Alle Männer, die ihr auf dem Wege begegneten, wurden von ihr angezogen
wie das Eisen vom Magneten. So kam sie in ihr Dorf. Peter bemerkte sie
und bezeigte eine große Bewunderung. Isabeau war trotz ihres Ärgers
darüber sehr befriedigt, aber die böse Seraphine geriet in heftigen
Zorn, sie stürzte sich auf das junge Mädchen los, um es zu schlagen.
Sie berührte Isabeau, aber da sie ihr schönes Halsband gewahrte,
bemächtigte sie sich desselben und legte es sich um den Hals. Sogleich
sah sich die wackere Frau trotz ihres runzligen Gesichts und ihres wackelnden
Kopfes von allen Männern, die zugegen waren, umringt. Sie überstürzten
sich, um bei ihr zu sein, um sie zu sehen; sie drückten sie und stießen
sie, so daß die böse Alte, zerschlagen und halb zerquetscht
an den Rand des Gemeindebrunnens gedrängt, endlich begriff, daß
das Halsband, welches sie trug, all ihre Leiden verursachte. Sie riß
es ab und warf es auf den Grund des Wassers. Sogleich wich der Zauber,
die Männer zerstreuten sich und lachten und spotteten über die
Alte, die sie einen Augenblick zuvor noch bewundert hatten. Die böse
Frau kehrte in ihr Haus zurück und rächte sich an Isabeau für
die erduldete Unbill. Sie überhäufte sie mit Schlägen,
und selbst Peter warf dem jungen Mädchen vor, daß es nächtlicherweile
weit umher streune und Hunderte von Männern hinter sich herziehe.
"Übrigens", sagte er zu ihr, "werde ich nicht wiederkommen,
denn ich besuche jetzt ein junges Mädchen, welches reicher ist als
du."
Isabeau weinte den ganzen Tag und die ganze Nacht. "Ich sehe ein,"
sagte sie, "daß die Gaben der Seelen mir zu nichts gedient
haben. Warum habe ich nicht den Reichtum von ihnen verlangt? Nächste
Nacht werde ich zurückkehren und sie darum bitten." Abends,
als alles schlafen gegangen war, begab sie sich zum dritten Male auf die
große Heide, und beim Mitternachtsschlag erschienen die armen Seelen.
"Wir warteten schon auf dich, Isabeau", sagten sie zu ihr. "Hast
du unseren Lobgesang weitergedichtet? Singe, Isabeau, singe doch wieder!"
Und die Seelchen begannen um das junge Mädchen herumzuwirbeln, indem
sie dabei wie das vorige Mal sangen: "Alle frommen Seelen, alle frommen
Seelen / loben Gott den Herren, / der die Welt erlösen wird."
Von Zeit zu Zeit unterbrachen sie sich und sagten: "Fahre fort, Isabeau,
fahre fort, fahre weiter fort!" Das junge Mädchen dachte lange
nach, endlich begann es zu singen: "Alle frommen Seelen, alle frommen
Seelen / loben Gott den Herren, / der die Welt erlösen wird, / die
Guten und die Bösen." Alle armen Seelen sangen diese Worte Isabeaus
nach. Aber bald hielten sie in ihrem Tanz inne, brachen in Freudenschreie
aus und bezeugten ihre Fröhlichkeit durch Tänze und Sprünge.
Die ganze Heide schien in einem Zittern des Glücks zu erbeben. Und
alle riefen: "Dank, Isabeau, du hast uns erlöst, unser Lobgesang
ist vollendet und wir dürfen in die ewige Glückseligkeit eingehen.
Bitte uns um etwas, Isabeau, bitte uns, um was du willst!" "Um
die Liebe meines Peter zu besitzen," sagte sie, "möchte
ich den Reichtum." "Du sollst ihn haben, du sollst ihn haben!"
riefen Tausende von dünnen Stimmchen. "Du sollst reich sein,
reich, reicher als der König!" Und eine der kleinen Seelen berührte
Isabeaus Hand und sprach zu ihr: "Geh, Menschenkind, jede deiner
Tränen wird von nun an eine Perle sein oder ein Diamant von unermeßlichem
Werte." Dann trat ein kleiner Greis mit einem langen weißen
Bart hinzu und hielt in der Hand einen winzig kleinen Gegenstand, eine
bescheidene Nadel. "Nimm," sagte er zu ihr, "nimm diese
Nadel! Solange du sie an dein Mieder steckst, wird dir Peter mit treuer
Liebe zugetan sein. Leb wohl, Isabeau!" Die Morgenröte dämmerte
herauf und die Schar der armen Seelen machte sich nach und nach von der
Heide los und erhob sich wie ein Morgennebel zum Himmel, sie stiegen empor
und verschwanden im glühenden Azur des Firmaments.
Isabeau kehrte zu ihrem Vater zurück, betrübt über die
Trennung von den armen Seelen, aber glücklich, da sie an die Rückkehr
ihres Peter dachte. Als sie ins Haus trat, stürzte sich ihre Stiefmutter
mit geballten Fäusten auf sie und begann sie zu schlagen und mit
Schmähworten zu überhäufen. Isabeau weinte, und ihre Tränen
rieselten in Perlen und Diamanten verwandelt auf den Boden. Die böse
Seraphine, nachdem sie sich von ihrer ersten Überraschung erholt
hatte, begann wie verrückt und trunken vor Freude über den Anblick
solchen Reichtums mit Wut auf ihre arme Stieftochter loszuschlagen und
rief: "So weine, weine doch, Unselige! Weine, so weine doch heftiger!"
Sie brauchte, um die kostbaren Tränen zu sammeln, den Eimer, den
Zuber, die Salzkiste, kurz alle Geräte, die in Reichweite waren,
und sie waren bald voll von Perlen und wunderbaren Diamanten. In diesem
Augenblicke ging Peter vorüber und fühlte sich angezogen ohne
Zweifel durch die Nadel der stetigen Liebe, welche das junge Mädchen
besaß. Er trat in das Haus, und ohne die Reichtümer, die er
mit Füßen trat, zu beachten, erblickte er nur eines: seine
Verlobte grausam geschlagen von der Stiefmutter. Von Unmut ergriffen,
stürzte er sich auf diese, packte sie bei der Gurgel und hielt sie
fest, aber die Alte rief ihm zu: "Schlag sie, Peter, schlag sie doch,
sie weint ja Perlen!" Peter hielt sie immer noch fest, und rasend
vor Zorn, daß sie ihre Stieftochter nicht schlagen konnte, um noch
mehr Reichtümer zu erlangen, erstickte sie und fiel plötzlich
tot zu Boden. Wenige Wochen später heiratete Peter Isabeau. Jedermann
bemerkte, daß sie einander innig zu lieben schienen. Sie waren die
reichsten Leute des Landes und bekamen vierzehn Kinder. Peter verspürte
niemals Lust, sein Vermögen zu vermehren, indem er seine Frau weinen
ließ, der er bis zu seinem Tode in treuer Liebe zugetan war.
Quelle: Ernst Tegethoff, Französische Volksmärchen. Jena, 1923. Band 2, Nr. 47