Das kleine bucklige Mädchen*
Es war einmal eine
Frau, die hatte ein einziges Töchterchen, das war sehr klein und
blaß und wohl etwas anders wie andre Kinder. Denn wenn die Frau
mit ihm ausging, blieben oft die Leute stehen, sahen dem Kinde nach und
raunten sich etwas zu. Wenn dann das kleine Mädchen seine Mutter
fragte, weshalb die Leute es so sonderbar ansähen, entgegnete die
Mutter jedesmal: "Weil du ein so wunderschönes, neues Kleidchen
anhast." Darauf gab sich die Kleine zufrieden. Kamen sie jedoch nach
Hause zurück, so nahm die Mutter ihr Töchterchen auf die Arme,
küßte es wieder und immer wieder und sagte: "Du lieber,
süßer Herzensengel, was soll aus dir werden, wenn ich einmal
tot bin? Kein Mensch weiß es, was du für ein lieber Engel bist;
nicht einmal dein Vater!"
Nach einiger Zeit
wurde die Mutter plötzlich krank, und am neunten Tage starb sie.
Da warf sich der Vater des kleinen Mädchens verzweifelt auf das Totenbett
und wollte sich mit seiner Frau begraben lassen. Seine Freunde jedoch
redeten ihm zu und trösteten ihn; da ließ er es, und nach einem
Jahre nahm er sich eine andere Frau, schöner, jünger und reicher
als die erste, aber so gut war sie lange nicht. Und das kleine Mädchen
hatte die ganze Zeit, seit seine Mutter gestorben war, jeden Tag von früh
bis Abend in der Stube auf dem Fensterbrett gesessen; denn es fand sich
niemand, der mit ihm ausgehen wollte. Es war noch blässer geworden,
und gewachsen war es in dem letzten Jahre gar nicht.
Als nun die neue Mutter ins Haus kam, dachte es: "Jetzt wirst du
wieder Spazierengehen, vor die Stadt, im lustigen Sonnenschein auf den
hübschen Wegen, an denen die schönen Sträuche und Blumen
stehen und wo die vielen geputzten Menschen sind." Denn es wohnte
in einem kleinen, engen Gäßchen, in welches die Sonne nur selten
hineinschien; und wenn man auf dem Fensterbrette saß, sah man nur
ein Stückchen blauen Himmel, so groß wie ein Taschentuch. Die
neue Mutter ging auch jeden Tag aus, vormittags und nachmittags. Dazu
zog sie jedesmal ein wunderschönes buntes Kleid an, viel schöner,
als die alte Mutter je eins besessen hatte. Doch das kleine Mädchen
nahm sie nie mit sich.
Da faßte sich
das letztere endlich ein Herz, und eines Tages bat es sie recht inständig,
sie möchte es doch mitnehmen. Allein die neue Mutter schlug es ihr
rund ab, indem sie sagte: "Du bist wohl nicht recht gescheit! Was
sollen wohl die Leute denken, wenn ich mich mit dir
sehen lasse? Du bist ja ganz bucklig. Bucklige Kinder gehen nie spazieren,
die bleiben immer zu Hause."
Darauf wurde das
kleine Mädchen ganz still, und sobald die neue Mutter das Haus verlassen,
stellte es sich auf einen Stuhl und besah sich im Spiegel; und wirklich,
es war bucklig, sehr bucklig! Da setzte es sich wieder auf sein Fensterbrett
und sah hinab auf die Straße und dachte an seine gute alte Mutter,
die es doch jeden Tag mitgenommen hatte. Dann dachte es wieder an seinen
Buckel:
"Was nur da
drin ist?" sagte es zu sich selbst, "es muß doch etwas
in so einem Buckel drin sein."
Und der Sommer verging,
und als der Winter kam, war das kleine Mädchen noch blässer
und so schwach geworden, daß es sich gar nicht mehr auf das Fensterbrett
setzen konnte, sondern stets im Bett liegen mußte. Und als die Schneeglöckchen
ihre ersten grünen Spitzchen aus der Erde hervorstreckten, kam eines
Nachts die alte, gute Mutter zu ihm und erzählte ihm, wie golden
und herrlich es im Himmel aussähe.
Am andern Morgen
war das kleine Mädchen tot.
"Weine nicht,
Mann!" sagte die neue Mutter; "es ist für das arme Kind
so am besten!" Und der Mann erwiderte kein Wort, sondern nickte stumm
mit dem Kopfe. Als nun das kleine Mädchen begraben war, kam ein Engel
mit großen, weißen Schwanenflügeln vom Himmel herabgeflogen,
setzte sich neben das Grab und klopfte daran, als wenn es eine Türe
wäre. Alsbald kam das kleine Mädchen aus dem Grabe hervor, und
der Engel erzählte ihm, er sei gekommen, um es zu seiner Mutter in
den Himmel zu holen. Da fragte das kleine Mädchen schüchtern,
ob denn bucklige Kinder auch in den Himmel kämen. Es könne sich
das gar nicht vorstellen, weil es doch im Himmel so schön und vornehm
wäre.
Jedoch der Engel
erwiderte: "Du gutes, liebes Kind, du bist ja gar nicht mehr bucklig!"
und berührte ihm den Rücken mit seiner weißen Hand. Da
fiel der alte garstige Buckel ab wie eine große hohle Schale. Und
was war darin?
Zwei herrliche, weiße
Engelflügel! Die spannte es aus, als wenn es schon immer fliegen
gekonnt hätte, und flog mit dem Engel durch den blitzenden Sonnenschein
in den blauen Himmel hinauf. Auf dem höchsten Platze im Himmel aber
saß seine gute, alte Mutter und breitete ihm die Arme entgegen.
Der flog es gerade auf den Schoß.
*) Das Motiv zu diesem Märchen rührt nicht von mir her. Ich
kenne es wohl schon seit meiner Kinderzeit, doch weiß ich nicht,
wo es herstammt.
Quelle: Richard von
Volkmann-Leander, Träumereien an französischen Kaminen, Leipzig
1871, Nr. 17