MEERKÖNIGS TÖCHTERLEIN

Das Meer reicht von einem Weltteil zum anderen. Es ist die Straße von Norden nach Süden und von Osten nach Westen. Wenn es an stillen Abenden ruhig und majestätisch daliegt, und die Sonne beleuchtet es mit ihren untergehenden Strahlen, dann ist es anzuschauen wie ein großer mächtiger Spiegel, dessen Rahmen die verschiedenen Küstenländer sind und in dessen Glanz sich der Himmel, nebst Sonne, Mond und Sternen spiegelt. Es ist auch der stärkste Riese, der mit Leichtigkeit auf seinem Rücken die größten Lasten trägt, und wenn er böse wird, nimmt er die gewaltigsten Schiffe in die hohle Hand und zerdrückt sie.

Aber das sind nur die Wunder des Meeres, die obenauf liegen und die jeder sehen kann, bei Tag oder bei Nacht, wenn er an das Ufer tritt und die Augen weit aufreißt. Ganz anders sieht es aus in der Tiefe, und die Herrlichkeiten nehmen dort kein Ende.

Ein weites Feld dehnt sich aus auf dem Meeresgrund. Kein Auge kann es überschauen, kein Fuß hat es durchschritten. Auf diesem Feld grünt kein Gras und blüht keine Blume. Und doch ist der Boden mit einem zierlichen Grün bedeckt; es ist ein hellstrahlender Sandgrund, auf dem die Farbe der See sich widerspiegelt, und darum sieht es aus, als wäre es Gras, mit bunten Blümlein durchwirkt. Die Blüm-lein aber sind purpurne, himmelblaue und goldgelbe Muscheln, die ein neckischer Seebold auf gut Glück dazwischen gestreut hat. Und am Ende dieses Feldes liegt ein ebenso langer Wald mit großen, seltsam gewachsenen Bäumen. Aber die Bäume tragen keine duftenden Blüten, keine erquickende Frucht; es sind mächtige Korallenstämme, die in allen Farben strahlen, und auch Blätter hängen daran, die weithin leuchten; allein diese Blätter sind nichts anderes als kleine lebendige Seetierchen. Freilich hüpfen in diesem Wald keine bunten Singvögel von Zweig zu Zweig, in seinem Schatten ruht nicht das Reh, und aus seinem Quell trinkt nicht der dürstende Hirsch; aber er ist dennoch von Tieren belebt, und dichte Scharen von Fischen steuern durch die verschlungenen Waldpfade hin, alle einem Ziel zu, das sie mit ungestümer Hast aufsuchen und sich nicht links noch rechts verlocken lassen.

Und wohin eilt dieser Fische große Zahl? Sie schwimmt dem Ende des Waldes zu, wo der Palast des Meerkönigs liegt. Dort müssen sie allmorgendlich zusammenkommen und sich in Reih und Glied aufstellen. Es sind lange, dichtgedrängte Reihen und kein Menschenauge wäre imstande, sie zu übersehen. Aber das Auge des Meerkönigs leuchtet wie eine Sonne, und wenn er ans Fenster tritt, sieht er sie vom ersten bis zum letzten, und wenn sich auch mancher niederduckt oder hinter seinem größeren Nachbarn verkriecht, er sieht ihn doch.

Dann sagt er zu seinem Mundkoch, der ihm zur Seite steht: „Zu meinem Frühstück will ich jene beiden, zu meinem Mittagessen den und den und ihre drei Nachbarn, zu meinem Abendessen aber genügen die beiden Flügelmänner dort unten."

Der Mundkoch macht eine tiefe Verbeugung und winkt den bezeichneten Fischen, die folgsam zu ihm in die Küche schwimmen; die andern aber ziehen ruhig weiter.

Was hat doch der Meerkönig für einen schönen Palast! Rund herum geht die breite Säulenhalle, die den Bewohnern des Schlosses zu einem Spaziergang dient, und jede einzelne Säule leuchtet sanft und mild wie der Mond. Dann kommt eine Grotte, ganz lichtblau, als ob es der Himmel wäre, die ist überall mit schönen Silberstickereien bedeckt, so daß es aussieht, als leuchte hier das Firmament mit allen seinen Sternen. Und daneben gibt es eine andere Grotte, die ist rosenrot und durch den roten Schimmer blitzen einzelne goldene Strahlen, so daß man meint, es wäre der purpurne Abendhimmel, und die goldenen Streifen, die zwischendurch blitzen, wären die letzten Strahlen der untergehenden Sonne. Was man aber zuletzt sieht, das ist die Herrlichkeit des Herrn: eine weite Grotte mit silbernen Wänden und goldenen Säulen. Den Fußboden ziert ein kunstvolles Mosaik von kostbaren Edelsteinen und die Decke ist ein großer Spiegel, worin sich alles noch einmal widerspiegelt. Im Hintergrund steht ein Thron, der leuchtet so sehr, daß man ihn kaum ansehen kann, denn er ist von puren Diamanten. Da sitzt der Meerkönig in all seiner Pracht und Herrlichkeit, die Krone auf dem Haupt, das Zepter in der Hand und beherrscht alle seine Untertanen, wie es ihm einfällt, nach Lust und Laune.

Meerkönig hatte eben gegessen, und wer ihn jetzt auf dem Thron sitzen gesehen hätte, der hätte sich gewundert, weshalb er das Zepter stets auf und nieder bewege und wem er eigentlich zunicke, da er doch ganz allein war. Es ging aber ganz natürlich zu, denn er war, vom Essen und vom Regieren gleich ermüdet, eingeschlafen und sah und hörte nichts. Wenn aber der Meerkönig schlief, hatten die Bewohner des Palastes gute Zeit, sie konnten dann machen, was sie wollten.

Kaum verbreitete sich also die Nachricht, daß der König schlafe, als sich die Tür einer verborgenen Grotte öffnete, aus der die drei Töchter des Königs hervortraten. Es waren drei liebliche Kinder, freundlich anzuschauen wie ihre Mutter, die aber schon längst gestorben war. Sie gingen Hand in Hand durch die strahlenden Gemächer, ohne sie eines Blickes zu würdigen, und betraten die Säulenhalle, die so lieblich im Mondlicht glänzte. Hier weilten sie am liebsten, denn es kam ihnen öfters vor, als ob sie die Stimme ihrer Mutter vernähmen, und wenn ein kühler Hauch durch die Säulen wehte, dann glaubten sie, die Mutter streife an ihnen vorüber.

Heute aber waren die Kinder ganz besonders lustig und dachten nicht daran, daß sie irgend etwas zu beweinen hatten; vielmehr sprachen sie nur von Dingen, die ihnen angenehm waren, und vertrieben sich so die Langeweile aufs Beste.

„Gut", sprach die Älteste. „Ich weiß etwas. Wir wollen ausreiten, aber nicht zusammen, sondern jede für sich allein und nach einer anderen Richtung. Dann kommen wir hier unten nach einiger Zeit wieder zusammen, und jede soll erzählen, was ihr auf ihrem Spazierritt begegnet ist."

Die beiden anderen waren damit wohl zufrieden, denn sie versprachen sich viel Spaß davon. Sie wollten sogleich wegreiten.

Meerkönig hatte es gern, daß in seinem Schloß alles möglichst schnell ging, darum mußten auch die fliegenden Fische den leichten Lakaiendienst versehen, und es durfte keiner von ihnen sein Amt bis zum fünfzigjährigen Jubiläum versehen, damit er nicht alt und steif werde, sondern er wurde stets vorher gefressen. Ein solcher dienender Geist wurde nun herbeigerufen, und ihm befohlen, daß er gleich drei stattliche Delphine satteln lasse. Gehorsam entfernte sich der fliegende Fisch und vollzog seinen Auftrag sehr glücklich, was bemerkenswert war; denn es ist bekannt, daß die Delphine die fliegenden Fische fressen, und wenn es hier nicht geschah, so ist das nur ein Beweis, was für ein strenges Regiment der König führte, und daß mit dem Schloßbann nicht zu spaßen war.

Die älteste Prinzessin stieg zuerst auf. Sie drückte ihrem Delphin die großen Rückenflossen nieder, und nun wußte der Bescheid, denn er tauchte gleich unter und schwamm so tief, wie es nur gehen wollte. Sie wollte einmal sehen, wie es in der Tiefe des Meeres aussehe, denn so weit war sie noch nie gekommen, und die Bewohner der dortigen Gegend waren nicht wenig erstaunt, als sie die Tochter ihres Königs ohne alles Gefolge ankommen sahen. Sie bemühten sich, ihr alle mögliche Ehre zu erweisen, da aber die Leute nicht besonders in den Hofsitten bewandert waren, rümpfte die Prinzessin das Naschen und gab nicht undeutlich zu verstehen, man möge sie in Ruhe lassen. Übrigens wunderte sie sich nicht wenig über das, was sie hier vorfand, denn auf dem Grund des Meeres pflegt das zu liegen, was von oben herunterfällt. Sie sah hier gesunkene Schiffe, einige noch ganz wohl erhalten, vom platten Kiel bis zum Oderdeck, mehrere auseinandergeborsten und das kahle, nackte Rippenmark zeigend. Auch lagen große Ballen mit kostbaren Waren umher, die hier unten niemand brauchen konnte und um deretwillen oben an der Küste sich die Bevölkerung eines halben Landes in Bewegung gesetzt hätte. Man fand auch große blinkende Haufen von Gold- und Silbermünzen, ohne die die Menschen nicht glauben auch nur einen Tag lang leben zu können; doch die Fische machen sich nichts daraus und sind doch viel besser daran als die Menschen, denn es heißt schon im Sprichwort: „Wohlig, wie ein Fisch im Wasser". Daneben sah man die Gerippe von verwesten Leichnamen liegen. Es waren guter Leute Kinder gewesen, aber sie hatten nicht begraben werden können und mußten es dulden, daß die Fische um sie herum oder gar hindurchschwammen und allerlei Kurzweil mit ihnen trieben. Das machte der Prinzessin nicht besondere Freude, deshalb kürzte sie auch ihren Spazierritt sehr ab, und ehe sie es noch selbst glaubte, war sie schon wieder auf dem Heimweg.

Die zweite Prinzessin hatte es nicht der Mühe wert gehalten, ihrem Delphin durch einen Druck auf seine Flossen die Richtung anzugeben, wohin sie wollte. Er schwamm also geradeaus, oder wie sie auf dem Lande sagen: ins Blaue hinein. Das war eine sehr bequeme Straße, denn es gab weder Hügel noch Täler, und mußte man einmal links oder rechts ausweichen, so war es vor einem Walfisch, der zu ungeschlacht war, um höflich zu sein. Nötig hatte er es außerdem nicht, denn er war reichsunmittelbar und durfte selbst vor dem König mit bedecktem Haupt erscheinen. Aber auf dieser ganzen Reise war auch nicht etwas Bemerkenswertes zu sehen. Die Prinzessin ward es daher bald müde und sagte dem Delphin, er möge nach dem Palast ihres Vaters zurückkehren, wo sie fast zu gleicher Zeit mit ihrer ältesten Schwester eintraf. Von der Jüngsten war übrigens noch keine Spur zu sehen.

Wo war sie denn hingekommen?

Sie schwamm auch, wie ihre Schwester, geradeaus, aber nach der entgegengesetzten Seite und nicht lange. Sie hatte schon früher immer sehen wollen, wie es auf der Oberfläche des Meeres sei, aber bisher hatte sie es noch nicht gewagt, denn der Meerkönig hatte es verboten und dem Übertreter seinen Zorn angedroht. Nun aber wurde in der jungen Prinzessin die Sehnsucht nach dorthin so mächtig, daß sie diese nicht länger unterdrücken konnte. Und von der Stunde an hatte sie den Grund zu ihrem künftigen Unglück gelegt, und sie durfte sich nicht beklagen, denn es war selbst verschuldet. Merkts euch: Ein Seefräulein paßt nicht fürs feste Land, und eine Auster muß nur schmecken, aber nicht singen wollen wie eine Nachtigall. Aber, wie gesagt, Prinzessin Übermut hatte für weise Ratschläge ein taubes Ohr. Freundlich bittend beugte sie sich zu dem Delphin herab und machte ihn mit ihrem Wunsch bekannt. Der aber ließ die Flossen hängen, denn er dachte an den Zorn des Königs und wie er ihn, samt seiner Familie, quälen würde, wenn er der Prinzessin den Gefallen tue. Darum stellte er sich auch, als habe er gar nichts gehört, und schwamm unbefangen weiter. Die Prinzessin aber, die ihn nicht durch ihre Bitten zu bewegen vermochte, schritt nun zur Gewalt, indem sie ihn unbarmherzig an den Flossen zog, so daß er fast senkrecht in die Höhe steigen mußte.

Es dauerte auch gar nicht lange, da tauchte die Prinzessin aus der Tiefe empor an das Licht, und der Delphin schwamm in majestätischen Bögen auf der Oberfläche der See umher. Die Prinzessin war wie betäubt, denn zum ersten Mal atmete sie Luft und wärmte sich an der Sonne. Und je länger sie die Luft atmete, je glühender die Sonne sie beschien, desto wehmütiger wurde es ihr ums Herz und sie hätte nun nicht wieder in die Tiefe hinabtauchen mögen. Da fügte es der Zufall, daß ein großes Schiff vorüberzog mit blendend weißen Segeln und bunten Flaggen, die lustig im Wind flatterten. Das Deck des Schiffes aber war mit fröhlichen Matrosen bedeckt, die lachten und jubelten, tanzten und sprangen, daß jeder seine Lust daran hatte, der es sah, vor allem aber die Prinzessin und der Delphin. Da rief plötzlich einer von den Schiffsleuten: „Eine Meerjungfer!" Alle reckten die Hälse und konnten doch nichts sehen, denn der Delphin hatte es vernommen und tauchte geschwind unter, aber nicht tief, denn die Prinzessin ließ es nicht zu. Als das Schiff längst seine Straße gezogen war, kamen sie wieder an das Licht, und nun ging es geradeaus, denn auch dem Delphin gefiel es hier oben, und er traute sich zu, den Rückweg zu dem Palast wiederzufinden.

Da bemerkten beide plötzlich etwas, woran sie nicht gedacht hatten, nämlich Land. Es war ein schönes, sonniges Land mit grünen Hügeln, klaren Seen und schattigen Wäldern. Die Prinzessin klatschte vor Freude in die Hände, und der Delphin mußte viele Vorwürfe über seine Langsamkeit hinnehmen. Endlich erreichten sie den Strand, und mit einem Sprung war die Prinzessin von dem Rücken des Delphins auf dem grünen Rasen. Hier sprang sie, außer sich vor Vergnügen, umher, tändelte mit den roten und gelben Blumen und trieb Possen mit einem Schmetterling, der sich nicht von ihr greifen lassen wollte. Lange dauerte aber die Freude nicht; sie war das Gehen und die Luft nicht gewöhnt, darum sank sie bald vor Mattigkeit nieder und fiel in einen tiefen Schlaf.

Der Delphin wartete, aber schließlich merkte sich das Tier genau die Richtung und schwamm schweren Herzens zu dem Palast zurück, weil mit dem Zorn des Königs nicht zu spaßen war. Das spürte man auch bald unter der See und auf dem Wasser, denn als der König das Schicksal seiner jüngsten Tochter vernommen hatte, machte er einen solchen Spektakel, daß alles sich im Wirbel drehte und die Leute am Land sagten, ein so wilder Sturm wäre seit Menschengedenken nicht gewesen. Er konnte es aber nicht ändern, und obgleich er am nächsten Morgen den Delphin samt dessen Weib und Kindern zum Frühstück verzehrte, wurde die Sache dadurch nicht um ein Haarbreit anders.

Die Anwohner der nächsten Küsten waren indessen während der Nacht vor Angst und Schrecken fast umgekommen, und als der erste Sonnenstrahl in ihre Fenster fiel, eilten sie hinaus, um zu sehen, was der Sturm für Unglück angerichtet habe. Ein alter Fischer schritt bedächtig über den Rasen hin, auf dem die Prinzessin immer noch arglos schlummerte, und zog mit einem Ruf des Erstaunens den Fuß wieder zurück, denn er hätte beinahe das hübsche Kind getreten.

„Ach, mein Gott", sagte er. „Ist das nicht ein Anblick zum Erbarmen! Ein so junges Kind und schon so unglücklich." Er setzte nämlich voraus, daß hier in der vergangenen Nacht während des Sturmes ein Schiff gestrandet sei, und da er ringsumher kein lebendes Wesen weiter erblickte, so schloß er, daß sie ganz allein davongekommen wäre.

Da schlug die Prinzessin die Augen auf und sah den alten Fischer mit einem so freundlichen Blick an, daß er eine tiefe Zuneigung zu ihr faßte und im stillen gelobte, wenn sich niemand zu dem armen Kinde finden sollte, es als sein eigenes aufzunehmen und erziehen zu wollen. Er reichte ihr die Hand, um ihr aufzuhelfen, und fragte dann so leutselig wie er nur vermochte, wer sie sei und woher sie komme. Nun aber mußte die arme Prinzessin die Antwort darauf schuldig bleiben, denn sie hatte nie die menschliche Sprache gehört.

„Gott bessers", dachte der Fischer, „das arme Kind ist nicht von hier, denn sie versteht unsere Sprache nicht." Aber ein tüchtiger Fischer ist nie um Rat verlegen. Da er mit Leuten aus aller Herren Länder in Berührung kommt, so bleiben ihm auch von jeder Sprache einige Worte kleben, und er fragte sie nun bald englisch, bald französisch oder spanisch, so gut er es verstand, doch alles war vergebens, denn jede Antwort blieb aus und er sah nur, wie das arme Kind mit ihren schönen Händen auf das Meer deutete und dann zu weinen anfing. Die Tränen aber, die sie weinte, waren Perlen, die unbeachtet in das Gras fielen, denn der Fischer achtete nicht darauf.

„Nun sehe ich wohl, wo es fehlt", sprach der alte Mann weiter. „Sie ist entweder stumm geboren, oder sie ist es durch den Schrecken der vergangenen Nacht geworden und das ist kein Wunder. So will ich sie in meine Hütte tragen, da sie zum Gehen viel zu schwach ist. Das andere wird sich finden."

Er nahm die Prinzessin auf seine Arme und trug sie fort, indem er sie sanft wiegte und ihr gut zusprach. Der Prinzessin gefiel das über die Maßen gut, denn sie war solche Liebkosungen nicht gewöhnt. Der Meerkönig wiegt seine Kinder niemals, und wenn es einmal nötig sein sollte, so winkt er einigen gehorsamen Wellen, daß sie diesen Dienst verrichten.

Der Fischer kam mit seiner Last zu Hause an und sagte zu seiner Alten: „Da, Mutter, bringe ich dir etwas in die Wirtschaft." Sie aber sprach: „Was wirds sein?" Da stellte er die Kleine vor sie hin und erzählte, auf welche Weise er sie gefunden hatte.

Die gute Frau hatte ein weiches Herz und konnte die Tränen nicht zurückhalten. Bei dem Anblick des Kindes regten sich traurige Gedanken in ihrem Kopf, und alte Zeiten, die sie längst vergessen geglaubt hatte, tauchten mit Jugendkraft wieder auf und überwältigten sie. Die Erinnerung ist eine starke Zauberin, die auch das härteste Herz weich machen kann. Darum, als die Alte das Kind der See vor sich stehen sah, dachte sie daran, daß auch sie vor vielen Jahren ein Töchterlein geboren hatte, das in Gesundheit aufgewachsen war und von Jugend und Schönheit strahlte. Sie war schon ein stattliches Mägdlein geworden, als sie eines Tages am abschüssigen Ufer spielte, von dem sie, ohne daß es jemand bemerkte, hinab in die See fiel, und war auch nie wieder aufgefunden worden.

„Guter Gott, Vater", rief die Alte. „Ist es doch gerade, als ob die Adelgunde wieder ms Haus getreten wäre und wir hätten sie gar nicht verloren. Ich glaube sogar, sie sieht unserem Engel ähnlich."

Das war nun nicht so. Die kleine Prinzessin war ganz anders geformt, als die Fischerstochter vordem gewesen war. Jana war bleich und hatte seltsam dunkelglühende Augen; das Fischerkind war voll und blühend gewesen, es hatte blaue Augen gehabt, und wenn diese Augen weinten, waren wirkliche Tränen zum Vorschein gekommen, aber keine Perlen. Wie dem nun sei: die Mutter glaubte es, der Vater glaubte es ihr zu Gefallen mit und sagte: „Es soll unser Kind sein." Die Mutter aber setzte noch hinzu: „Was wird der Gottfried für eine Freude haben, wenn er nach Hause kommt und eine solche schmucke Schwester findet!"

Dieser Gottfried war ihr Sohn, ein stattlicher Bursche von sechzehn Jahren, der dem Vater schon tüchtig zur Hand ging und Netze strickte wie keiner im Dorf. War das ein Leben, als der Gottfried erschien und ihm die Kleine vorgestellt wurde, wobei die Mutter sagte: „Das ist deine Schwester." Er schrie laut auf, gab dem kleinen Wesen einen Kuß nach dem ändern und sagte: „Die soll's gut haben." Dabei sah er dem lieben Kind so treuherzig in die Augen, daß es sich ganz glücklich fühlte und lächelte, die einzige Antwort, die sie geben konnte; dann aber ergriff sie die Hand des ehrlichen Jungen, und von Rührung überwältigt, weinte sie einige Perlen hinein.

„Gott! Was ist das?" riefen erschrocken die Alten; Gottfried aber sagte fröhlich: „Das ist mir ein artiges Schwesterlein, das so schöne Spielereien hervorbringt. Für die müssen wir ganz besonders sorgen, denn ich sehe wohl, mit ihr ist das Glück zu uns eingezogen. Wir sollten ihr aber doch einen Namen geben, und da sie so glänzend weiß aussieht und so schöne Perlen weinen kann, könnte sie wohl Perlweißchen heißen." Die Alten waren damit zufrieden, und die kleine Prinzessin wurde fortan so genannt. Aber das ist wahr, die Fischerfamilie hatte mit Perlweißchen ihre liebe Not. Das kleine Wesen war an keine menschlichen Gewohnheiten und Bedürfnisse gewöhnt; alles mußte sie lernen, wie ein neugeborenes Kind. Das Schlimmste aber war, daß sie nicht die menschliche Sprache verstand, so daß man ihr nichts begreiflich machen konnte. Da fand sich endlich eine mächtige Eehrerin, die Liebe, die brachte alles zustande. Der Gottfried hatte das gute Kind gern, weil es so zart und hilflos war; die Großen und Starken aber neigen sich gern den Schwachen zu. Die Kleine dagegen schloß sich fest an Gottfried an und rankte an ihm empor, etwa wie im Garten der Efeu sich um den starken Eichbaum windet. So kam es auch, daß Perlweißchen schnelle Fortschritte machte und sich bald wohl auszudrücken wußte. Nun fehlte nichts mehr zu ihrem Glück und alle waren zufrieden, besonders aber Gottfried, wenn das artige Kind, aus Rührung über seine Liebe, glänzende Perlen weinte, die er dann auffing und sorgsam verwahrte: denn er hatte seine Freude daran, wie alle Menschen, denen die Liebe zu Gold, Silber und Perlen angeboren ist. Doch muß man es ihm zu seinem Ruhm nachsagen, daß er dem lieben Schwesterchen niemals eine Kränkung bereitete, damit es nur weine, um seinen Reichtum zu mehren.

Nun ging seit einiger Zeit ein Gerücht im Dorf um, das fand je länger, je mehr Erzähler und Hörer. Es hieß, man vernehme allmorgendlich, wenn der erste Lichtschimmer im Osten sichtbar werde, ein Murmeln vom Meer her, wie man es sonst nie gehört habe. Bald klänge es wie ein entferntes Rufen, bald wieder wie ein banges Klagelied, aber von wem es ausginge, das wußte niemand zu sagen. Auch sollten sich öfters in der Nacht Lichtstreifen auf der See zeigen und Geistergestalten über die Wellen hingleiten. Es war aber alles nur Gerede, denn recht hatte es keiner gesehen, und wenn man beim anbrechenden Morgen genau hinschauen wollte, war es nichts und man mußte sich auslachen lassen.

Es war aber jemand im Dorf, der alles wohl sah und hörte, nämlich Perlweißchen. Das arme Kind hatte zwar alle menschlichen Sitten und Gewohnheiten angenommen; sie wußte sich in alles zu finden, half der Mutter in der Wirtschaft und verstand es so nett einzurichten, daß die Alte öfter sagte, wenn sie nicht dabei war: „Vater, das wird einmal unseres Gottfrieds Frau oder keine." Aber dennoch konnte sie die Vergangenheit nicht vergessen.

Perlweißchen wußte wohl, was das bedeutete mit den Lichtstreifen. Es waren die hellstrahlenden Men of wars, die ausgesendet wurden, um sie zu suchen und ihr den Pfad zu erhellen, wenn sie geneigt sein sollte, wieder zurückzukehren. Der König hatte wohl sehr gezürnt, als sie entflohen war, und in seinem Grimm alles vernichtet, was in seine Nähe kam, aber allmählich legte sich sein Zorn, und sein Herz sehnte sich nach dem Kind, das er immer am liebsten gehabt hatte. Wenn dann der Vater so getrübt war, daß sein großes Sonnenauge nicht funkelte, und er nicht essen wollte, obgleich die Köche alles herrlich zubereitet hatten, dann grämten sich die Schwestern sehr und sangen Klagegesänge und riefen nach der verlorenen Schwester. Das war das Gemurmel, das die Leute während der Nacht vernahmen und nicht zu deuten wußten.

Als es nun eines Nachts gar traurig vom Meeresgrund herauf klang, verließ Perlweißchen ihr Lager und ging zum Strand hinab. Das war auch eine Eigenschaft, die sie aus ihrer Heimat mitgebracht hatte, daß ihre Augen zur Nachtzeit hell strahlten und weit hinausleuchteten auf die See, wie ein Lichtsignal, wonach der Schiffer steuert und seine Straße findet. Als sie nun ans Ufer kam und ihre Augen auf die See hinausstrahlten, da erkannten sie die Wellen; sie wurden beweglich und streckten die Hälse nach ihr aus. Sie hätten sie gern ergriffen und mit sich fortgeführt, wenn sie nur bis zu dem hohen Ufer hätten hinaufreichen können.

Es ward ihr so wunderseltsam zumute, daß sie sich vor Rührung nicht zu lassen wußte, als sie das Meer vor sich sah, worin ihr Vater herrschte und worin sie geboren war; als sie die lichtstrahlenden Boten gewahrte, die sie oft von einem Ende des Ozeans zum ändern gesandt, und die Wellen, die sie seit ihrer Kindheit stets so sanft geschaukelt hatten. Sie mußte unaufhörlich weinen und die kostbaren Perlen rollten ihr die Wangen hinab. Aber sie rollten weiter bis an den Rand der See; da griffen die Wellen danach und brachten sie dem Vater mit den Worten: „Das sind die Tränen deines Kindes!"

Diese Tränen überwältigten den alten Herrn ganz und gar, so daß er alle Strenge vergaß und so weich wurde wie Wachs. Da rief er seine beiden ältesten Töchter und tat, was er nie zuvor getan hatte. Er gab ihnen die Erlaubnis, hinaufzusteigen an das Eicht, um ihre Schwester zu sehen, und sie zu bitten, daß sie wieder herunter käme. Darauf hatten die armen Kinder, die schier vergingen vor Sehnsucht und Schmerz, längst gehofft. Keinen Augenblick zögerten sie, und als sie nun emportauchten, war es, als ob die ganze See von einem Lichtschein widerstrahle; sie streckten die Arme nach der am Ufer stehenden Schwester aus und winkten ihr, zu ihnen zu kommen. Als Perlweißchen dies sah, wurde sie von Schmerz und Wonne so übermannt, daß sie fast das Bewußtsein verlor und sie mußte sich an dem Stamm einer alten Weide halten, denn sie drohte niederzusinken.

Da erhoben die Schwestern ihre Stimmen:

„Schwesterlein!
Schwesterlein!
Denke des Vaters dein!
Sein Äug' ist tränenleer,
Sein Herz ist sorgenschwer:
Fehlt ihm sein liebes Kind.
Komm geschwind, geschwind!
Sehnt sich nach stiller Ruh',
Drück ihm die Augen zu!"

„Ach, der arme, arme Vater", schluchzte Perlweißchen. „Was mag er meinetwegen leiden!"

Die Schwestern aber sangen weiter:

„Schwesterlein!
Schwesterlein!
Höre die Schwestern dein!
Schaffe uns Freud'und Glück,
Kehre zu uns zurück;
Kehre zum Meeresgrund,
Eichtweiß und farbenbunt;
Kehre als edler Gast
Ein in den Meerpalast!"

„Ihr guten, lieben Schwestern!" rief Perlweißchen in großer Bewegung. „Wie sehnt sich mein Herz danach, an dem eurigen zu schlagen! Ach, ihr guten Kinder, wie würde ich eilen, zu euch zu kommen, wenn ich nur nicht immer an den Gottfried denken müßte. Es stößt mir das Herz ab, daß ich eure Klagetöne vernehme. Wie seht ihr doch so gut und freundlich aus!"

Und abermals sangen die Schwestern:
„Schwesterlein!
Schwesterlein!
Eile zum Vater dein!
Bleich ist sein goldnes Haar,
Trübe sein Augenpaar;
Willst du nicht heimwärts ziehn,
Tötest du sicher ihn.
Rette den Vater dein,
Herziges Schwesterlein!"

Da wurde das arme Kind so von Schmerz übermannt, daß es nicht mehr zu widerstehen vermochte. Sie breitete die Arme gegen das Meer aus und rief: „Ich komme! Ich komme!"

Nun ward überall Eeben und Fröhlichkeit. Perlweißchen warf die irdische Kleidung ab und leuchtete und strahlte wie eine Herrscherin des Geisterreiches. Aber ganz schwand die Erinnerung doch nicht aus ihrem Gedächtnis, und mit Schmerz und Angst rief sie laut: „Gottfried! Gottfried!" Dann sprang sie in das Meer. Die Wellen trugen sie im Triumph davon und tauchten mit ihr in die Tiefe hinab.

Gottfried hatte, von einem sonderbaren Gefühl bewegt, nicht schlafen können. Er stand auf, um frische Euft zu schöpfen. Als er über die Schwelle trat, verwickelte sich sein Fuß in etwas, und als er danach faßte, war es ein Tuch, das Perlweißchen gehörte. Das fiel ihm schwer aufs Herz, und er eilte zu ihrer Kammer. Aber diese stand offen, und das Mägdelein war nirgends zu finden. „Ach du mein Gott!" rief er so laut, daß alle es hörten, „Perlweißchen ist fort! Böse Menschen haben sie uns gestohlen!" Er lief allen voraus dem Strand zu, und nur wenige Schritte hatte er getan, als er den Gesang der Schwestern vernahm. Das Eied klang so fromm und feierlich, und obgleich er kein Wort davon verstand, hatte es doch für ihn Sinn und Bedeutung. Gleich nachher vernahm er den Ruf: „Gottfried! Gottfried!" und nun gab es kein Halten. Mit der Schnelle eines Vogels eilte er dem Strand zu. Trostlos irrte er rufend in der Dunkelheit umher, aber Perlweißchen antwortete nicht. Endlich kamen auch die Eltern und Nachbarn herbei, die trugen brennende Fackeln und allerlei Rettungswerkzeuge, auch Wehr und Waffen. Aber hier war nichts zu retten und auch kein Feind zu besiegen. Einige meinten, das Kind sei durch böse Menschen vom Haus weggelockt; andere meinten, es wäre im eigenen Übermut weggelaufen und in die See gefallen. Keiner wußte das Rechte. Aber jeder begriff, daß hier nichts mehr für ihn zu tun sei und ging nach Hause. Gottfried aber konnte sich gar nicht zufriedengeben, sondern sprach wehmütig vor sich hin: „Sie war nicht von dieser Erde und ihr war nur vergönnt, kurze Zeit hier zu verweilen. Die Frist ist verstrichen und jetzt ist sie fort. Das sei Gott geklagt, daß ich nun zum zweiten Male ein liebes, herziges Schwesterchen verloren habe, für die ich so gern arbeitete."

Dann ging er hin, betrachtete den Perlenschatz, den sie ihm hinterlassen hatte, und es dauerte lange, ehe er wieder froh werden konnte.

Das aber war richtig: keiner der Strandbewohner hat mehr zur Nachtzeit das unheimliche Gemurmel gehört und niemand die glänzenden Lichtstrahlen über die dunklen Wogen hinblitzen sehen. Die Leute meinten also, sie müßten sich wohl früher geirrt haben, und es wäre nichts als fernes Donnern und Wetterleuchten gewesen.

Geschrieben steht: „Wenn ein Verirrter wiederkehrt und wandelt fortan auf der Bahn des Rechtes, so ist tausendfache Freude bei den Menschen." So war es auch bei Perlweißchens Rückkehr. Und freuten sich auch nicht die Menschen, die nichts davon wußten, so freuten sich doch alle Geschöpfe im Meer. Da wurden Feste angestellt, die waren glänzender, als man je gesehen hatte, und wenn man auf Erden sagt, die Leute kamen meilenweit, um dies oder jenes zu sehen, so konnte man hier sagen: sie schwammen Meere weit, um diesen Festen beiwohnen zu können. Von allen Seiten kamen sie herbei, und da waren die vom Roten Meer rot angezogen, die vom Weißen Meer weiß, die vom Schwarzen Meer schwarz und so weiter, alle nach Stand und Würden. Der König war gnädig. Er fraß nicht gleich alle Leute, die zu ihm kamen, sondern war höflich, gesprächig und heftete vielen goldene oder silberne Schuppen an, zum Zeichen, daß er sie auszeichnen wollte vor den übrigen, wußten sie auch nicht warum.

Anfangs ging mit Perlweißchen alles gut. Aber als die Feste vorüber waren und es still ward im Schloß, wurde auch sie stiller und stiller. Vergebens versuchten die Schwestern diese Veränderung dem Vater zu verbergen. Der merkte doch, was vorging, und grämte sich im stillen.

„Mag sie denn ihren Willen haben", sprach er zu sich selbst, „und auf die Oberwelt zu den Menschen zurückkehren. Ich will nichts mehr mit ihr zu tun haben und meine Hand von ihr abziehen. Doch will ich großmütig dafür sorgen, daß sie oben nicht in Jammer und Elend vergehen muß, und ihr deshalb die Natur eines Geistes nehmen."

Darauf sandte er seine Boten nach allen Ecken und Enden. Die fliegenden Fische mußten fliegen und taten es auch, außer daß sie, wenn ihnen auf dieser oder jener Straße ein guter Freund begegnete, den sie lange nicht gesehen hatten, einige Zeit mit unnützem Plaudern hinbrachten. Und darin sind sich die Dienstboten in dem Meer und auf dem Land völlig gleich.

Es kam eine große stachelige Roche angeschwommen mit blitzenden Augen, die steuerte geradewegs zum König hinein und sagte: „Warum hast du mich rufen lassen, Herr König? Willst mich etwa fressen?"

Da lachte der und sagte: „Damit deine Stacheln mir in der Kehle sitzen bleiben und ich gehindert würde zu schlucken? Geh! Du bist zu einem Leckerbissen zu alt!"

„Was willst du denn von mir?" fragte sie kurz, denn es verdroß sie, daß der König sie zu alt fand zum Verspeisen, obgleich sie sich dadurch am Leben erhielt. Und darin sind sich die Landweiber und Seeweiber gleich. Sie haben es nicht gern, wenn man sie alt nennt, lieber haben sie ein neues Kleid, oder einen schönen Schmuck und einen jungen Liebsten.

„Ich will", sagte der König, „daß du mir beistehst. Du bist eine weise Frau und schickst dich in Zeit und Ort. Meine jüngste Tochter -"

„Erspare dir eine lange Geschichte, die ich schon weiß", unterbrach ihn die Röche. „Ich weiß, daß du dein Kind nach der Oberwelt senden willst, und dazu soll ich sie tüchtig machen."

„Es ist erstaunlich", sprach der König vor sich hin, „wie sehr unsere guten Untertanen von den Verhältnissen bei Hofe unterrichtet sind. Das Bedientenpack plaudert alles aus, dafür will ich es auch später nacheinander fressen." Alles dieses sagte der König so leise, daß die Alte es nicht verstehen konnte, laut aber sprach er: „Du hast ganz recht geraten, liebe Frau, und wenn du Unseren Wunsch erfüllst, so sei Unserer königlichen Huld und Gnade sicher."

„So schickt die Prinzessin zu mir", sagte die Röche und schwamm zum Palast hinaus, und die Prinzessin wurde ihr sofort nachgesandt. Eine alte Meerquappe, die früher als Wäscherin bei Hofe gewesen war, empfing die Prinzessin. Die Waschfrauen verstehen das Waschen und Klatschen, darum begann sie sogleich viel von den Eigenheiten der Herrschaft zu erzählen, daß es hingereicht hätte für hundert Ohren. Aber die Prinzessin schlug der geschwätzigen Quappe die Tür vor der Nase zu und brachte ihr Anliegen bei der Roche vor.

„Mag es geschehen", antwortete diese, „und mögest du es nie bereuen, was du jetzt beginnst. Setze dich dort auf den Stuhl, es wird sogleich geschehen sein."

Die Alte nahm eine goldene Schere, damit schnitt sie die goldenen Flechten der Kleinen ab und sagte: „So durchschneide ich das Band, das dich an die Unterwelt bindet. Du teilst jetzt das Los der Sterblichen und deine Tage sind gezählt."

Darauf reichte ihr die Alte einen Trank, den mußte sie trinken, und als das geschehen war, sagte sie: „Mit diesem Trank trankst du zugleich die tausend Bedürfnisse und Leiden, die die Menschen quälen. Du wirst hungern und dursten wie sie, du wirst vor Hitze glühen und frieren, du wirst arbeiten müssen, um dir deinen Unterhalt zu erwerben."

Die Prinzessin lächelte und dachte bei sich: „Ich wills gern. Komme ich doch zu meinem lieben Bruder Gottfried."

Nun nahm die Alte ein weißes Tüchlein, das bestrich sie mit einer Salbe und legte es auf die Augen der Prinzessin: „Jetzt", sagte sie, „schwindet der Glanz aus deinen Augen. Wenn dich in Zukunft Kummer trifft, so wirst du nicht Perlen weinen, sondern bittere und salzige Tränen." Die arme Prinzessin hörte es und dachte: „Mag es sein, was es will, ich ertrage es um meines lieben Bruders willen."

„Du bist nun fertig", sagte die Röche stolz, „und sollst deine Reise antreten. Du wirst dich über die Herrlichkeit freuen, wenn du ein armes Fischweib geworden bist. Deine Kraft, unter dem Wasser zu leben, ist gebrochen und du kannst umkommen, noch ehe du das Land betrittst. Darum nimm schnell Abschied. Bist du aber oben, so hüte dich, jemals wieder der See zu nahe zu kommen, denn du müßtest dann jämmerlich ertrinken."

Von Schmerz und Trübsal bewegt, langte Perlweißchen bei ihrem Vater an. Jedermann wich vor ihr zurück und die Schwestern weinten. Sie war zu Tode betrübt, und wie Felsen lag es auf ihrer Brust. Sie konnte keine Tränen finden, um sich den harten Augenblick zu erleichtern.

Der König sah sie lange an und sagte endlich: „Es ist nun gut, geh deines Weges! Soviel ich mich um dich gehärmt hatte, so gleichgültig bist du mir jetzt. Tue oder lasse, was du willst, ich bekümmere mich nicht um dich. Damit du aber nicht wie eine Bettlerin aus diesem Hause ziehst, will ich dir eine Aussteuer geben, um dich vor Hunger zu schützen. Heda! Mein Finanzminister soll kommen!"

Da schwamm ein wohlgenährter Fisch heran, mit glänzenden Flossen und Schuppen bedeckt, und eine goldene Feder im Mund. Zu dem sagte der König, daß er seiner gewesenen Tochter eine Summe Gold zu ihrer Reise zahlen solle. Als der Fisch diesen Befehl empfangen hatte, fing er an, sich zu drehen und zu wenden, wie die Geldleute wohl zu tun pflegen, wenn sie auszahlen sollen. Und wie er sich drehte und wendete, fielen ihm die goldenen Schuppen vom Leibe und auf einen Haufen. Wenn man aber recht hinsah, war es eine ziemliche Menge guter Goldstücke.

„Das ist dein Erbteil!" sprach der König kurz.

Perlweißchen folgte dem Befehl des Vaters und raffte das Gold zusammen. Der Finanzminster gab ihr die goldene Feder, damit sie den Empfang quittiere, und als dies geschehen war, schwamm er wieder davon. Der König hatte unterdessen seine beiden anderen Töchter fortgeschickt und sich selbst abgewandt; das war das Zeichen, daß nun alles aufhören mußte. Die Wellen ließen sichs gesagt sein; sie drangen in den Palast und nötigten Perlweißchen auf eine ziemlich unhöfliche Weise, sich zu entfernen. Als sie aber draußen war, ängstigten sie das Kind so sehr, daß es das Bewußtsein verlor. Als sie wieder erwachte, lag sie auf dem festen Ufersand und hörte nur in der Ferne das Meer toben und grollen, denn ganz gleichgültig war es denen da unten doch nicht, daß sie eine so hübsche Prinzessin verloren hatten; und wenn es dem König verdrießlich war, so stellten sich die Untertanen an, als sei es ihnen noch zehnmal ärgerlicher.

Schnell sprang Perlweißchen vom nassen Sandboden auf und sah sich um, ob es die Gegend kenne. Darauf schlug es wohlgemut den Weg zu dem Dorf ein, wo die guten Alten wohnten, und freute sich schon im stillen darüber, wie die sich wundern würden, wenn sie wiederkäme und zugleich eine ansehnliche Summe Geld mitbrächte. Aber als sie nun weiter auf dem Weg fortschritt, kam es ihr ganz anders vor und es wurde ihr sehr ängstlich zumute, da sie nicht begriff, wie sich in wenigen Tagen alles so verändert habe. Es war noch der alte Kirchturm und das alte Kirchendach, aber oben auf dem Turm war eine neue goldene Wetterfahne, und die Bäume, die sonst den Eingang zur Kirche beschatteten, konnte sie nicht mehr entdecken. Wo ein kahler Sandfleck gewesen war, da prangte jetzt ein duftender Blumengarten, und wo die morastige Wiese sonst lag, war eine stattliche Baumpflanzung zu sehen. Auch die Häuser hatten sich verändert und die Zäune, so wie die Menschen, die davor saßen oder standen. Nur ein einziges Haus fand sie noch ganz so, wie sie es verlassen hatte, und darüber schlug ihr Herz vor Freuden, denn es war das Haus ihrer lieben Pflegeeltern. Aber es war verschlossen und der kleine Hof ganz verwildert, so daß man mit Recht annehmen durfte, hier habe lange keines Menschen Fuß gewandelt. Auch achtete niemand auf ihr Pochen.

Nicht weit von dieser Hütte stand ein stattliches Haus mit hellen Fenstern, das hatte sie vorher auch nicht gesehen. Aus diesem trat soeben ein junger Mann, der sah fast so aus wie der Gottfried und doch auch wieder ganz anders.

Da kam dem armen Kind so große Angst, daß sie kaum zu atmen vermochte. Sie wollte aber aller Ungewißheit ein Ende machen, trat dem jungen Mann also entgegen und sagte: „Wie gehts, Gottfried? Kennst du mich wieder?"

Der Bursche schaute das Mägdlein verwundert an und sagte: „Was will denn das Ding da und aus welchem fernen Lande kommt es her?"

Da bedachte Perlweißchen, daß sie gar nicht nach der Landessitte gekleidet war, sondern noch ihr Gewand von grünem Seetang umhatte. Aber das könnte sie doch nicht so entstellen, daß der Gottfried sie nicht wiedererkennen wollte. Sie fragte also noch einmal: „Kennst du mich denn wirklich nicht, Gottfried?"

„Ich weiß nicht, was die Dirne will!" rief der Bursche ärgerlich. „Ich heiße nicht Gottfried, sondern Anton und habe keine Zeit, denn ich halte heute Hochzeit mit des Bauernvogts Anneliese."

„Ach Gott, wie unglücklich bin ich, daß sich alles so verändert hat. Wo sind denn deine Eltern?"

„Die sind in der Stube drinnen", sagte der Bursche und rannte davon. Perlweißchen aber sprach: „Gebe Gott, daß die mich besser wiedererkennen, sonst bin ich verloren."

Da erschien ein robuster Mann auf der Schwelle, sah das zitternde Mägdlein und fuhr sie an: „Wo willst du hin?"

„Ich will zu den guten Alten, die da drüben wohnten, und habe auch schon Gottfried gesehen, der mich nicht erkennen will."

„Du hättest den Gottfried schon gesehen? Das ist nicht wahr, denn der Gottfried bin ich."

„Nicht doch! Er war hier und sagte, daß er heute Hochzeit machen wolle."

„Das ist mein Sohn, der Anton, gewesen. Ja, der Junge ist mir recht ähnlich geworden. Aber woher weißt du kleines Ding denn, wie ich in meiner Jugend ausgesehen habe?"

Das arme Kind zitterte. Die Zeit war ihr unter dem Wasser so kurz vorgekommen. Man mißt dort nach einem anderen Maßstab wie hier oben und was dort eine Stunde ist, sind hier Tage. Darum waren in der Zeit ihrer Abwesenheit auch die beiden Alten gestorben. Gottfried, der sich sehr um den Verlust des Kindes gegrämt hatte, vergaß sie nach und nach, heiratete die Tochter seines Nachbarn und hatte nun selbst schon einen Sohn, der Hochzeit machen wollte. Wenn Gottfried das liebliche Kind auch bald vergaß, so gedachte er doch der schönen Perlen, die sie ihm hinterlassen hatte. Er verkaufte sie und baute dafür das neue große Haus, worin er jetzt wohnte, hatte aber dann im Glück alle Träume und Schäume seiner Jugend vergessen.

Jetzt wogte es in ihm auf und nieder. Ein Gedanke ergriff ihn plötzlich und machte es ihm hell im dunklen Gemüt, wie an schwülen Sommerabenden, wenn ein Wetterleuchten die Wolken zerreißt. Er ließ sich alles von dem zitternden Mägdlein erzählen, die sich Mühe gab, es so deutlich zu sagen, wie sie nur konnte, und dann erschöpft innehielt.

„Ja, ja", sagte Gottfried. „Ich besinne mich. In meiner allerfrühe-sten Jugend hatte ich ein Schwesterchen, das mußte ich aber verlieren. Dann fand sich nach langer Zeit ein Kind wieder, und die Alten sagten, das wäre jetzt mein Schwesterlein. Aber auch das ging verloren. Und nun kommt solch ein Balg zum dritten Male, und nach so vielen Jahren. Das geht nicht mit rechten Dingen zu."

Perlweißchen verstummte. Sie hatte alle höhere Erkenntnis im Meer zurückgelassen und wußte nichts zu erwidern. Aber ihr Herzchen tobte und pochte, als wolle es zerspringen.

Da begannen die Glocken auf dem Kirchturm zu läuten; es waren dieselben wie damals, und es gab einen guten Klang. Anton erschien mit der Braut, darauf die Musik, dann der Brautvater und die Brautmutter, die zierlich gekleiteten Brautjungfern mit dem Myrthenkranz, die jungen Burschen mit mächtigen Blumensträußen, zuletzt alle Nachbarn und Nachbarinnen, die Kinder und Müßiggänger des Dorfes, wie es sich für eine gute Bauern- und Fischerhochzeit schickt. Alle sahen auf das Mägdlein, das neben dem Gottfried stand und sehr traurig auf all die Lust blickte. Sie fragten, was das bedeuten sollte? Da erzählte Gottfried alles, was er wußte, und die Nachbarn hörten mit offenen Mäulern zu.

Da trat der Bauernvogt, der auch der Vater der Braut war, hervor und sagte: „Das ist Betrug, Gevatter! Laßt nur einmal mich fragen, da wirds anders klingen, denn einer Gerichtsperson bleibt nichts verborgen."

Das war dumm vom Bauernvogt, denn dem Gericht bleibt vieles dunkel, wie eine stürmische Novembernacht, wenn es auch tausend Verstandeslaternen anzündet. Der Bauernvogt fragte aber doch, kurz und grob, wie es bei Gerichtspersonen üblich ist. Er bekam nur keine Antwort.

Gottfried hatte inzwischen lange nachgedacht und rief jetzt: „Wartet noch einen Augenblick, Gevatter! Mir fällt ein, wie wir der Sache auf den Grund kommen. Das Kind, das uns damals ins Haus gelaufen kam, hatte eine sehr sonderbare Eigenschaft an sich. Wenn es nämlich weinte, so waren die Tränen schöne helle Perlen, die funkelten wie die Sonne, und die Goldschmiede in der Stadt zahlten ein gutes Geld dafür. Da dies Mägdlein nun die Verlorene sein will, so soll sie nur ein wenig weinen, und wir werden gleich sehen, woran wir sind."

Das fiel Perlweißchen schwer aufs Herz, denn sie wußte ja, daß sie nicht mehr Perlen weinen konnte, sondern nur bittere, salzige Elendstränen, wie sie der Mensch weint; deshalb wurde sie noch einmal so bleich wie vorhin.

„Papperlapapp!" schrie der Bauernvogt. „Die sieht mir auch danach aus, als ob sie Perlen weinte. Wie kommt Euch so närrisches Zeug in den Sinn? Seht nur, wie das Ding zittert und bebt! Hierher, du kleine Landstreicherin! Wo ist dein Paß und was trägst du da unter dem Arm?"

Es waren die Goldstücke, die sie zur Aussteuer empfangen hatte. Der Vogt nahm sie ihr ab und schrie: „Da haben wirs! Pures blankes Gold! Und so viel, daß man unser ganzes Dorf dafür kaufen könnte. Geht das auch mit natürlichen Dingen zu ? Eine Diebin ists, eine ganz gemeine Diebin! Wer weiß, wo sie dies Geld mag gestohlen haben!"

Diese harte Anschuldigung überwältigte Perlweißchen ganz und gar; sie sank in die Knie und rief: „Ich bin keine Diebin!" Zugleich stürzte ein heller Tränenstrom über ihre Wangen, die ersten menschlichen Schmerzenstränen, die sie weinte. „Da habt Ihr Tränen, so viel Ihr wollt!" rief der Bauernvogt triumphierend. „Solches Volk kann lachen und weinen, wenn es will. Schaut nur, Gevatter, obs wirklich kostbare Perlen sind. Ich hätte Euch doch für vernünftiger gehalten! Nun aber wollen wir uns die Hochzeitsfreude nicht verderben, sondern die Person ins Gefängnis werfen bis morgen. Das Gold legen wir einstweilen in die Gerichtslade."

Aber im höheren Rat war es beschlossen, daß sie die Trübsal der Erde nicht mehr empfinden sollte. Die Decke des Kerkers öffnete sich: ein Engel schwebte hernieder und geflügelte Genien um ihn her. Er beugte sich zu ihr herab und hauchte einen Kuß auf ihre Stirn.

„Sei glücklich", sprach er, „die Tiefe hat dich ausgestoßen und die Erde will nichts von dir wissen, aber oben im Licht thront Gott der Vater, der ist die Quelle aller Barmherzigkeit und Liebe. Und weil du fromm warst und gabst alles hin um der Liebe willen, so ruft Er dich zu sich in Sein himmlisches Freudenreich, damit du seist der Engel einer."

Und der Engel nahm sie in seinen Arm und trug sie aufwärts.

Als nun die Hochzeit vorüber war und das Gericht sich in den Kerker begab, wollte es seinen Augen nicht trauen. Die Leute im Dorf sagten, das könne ein Dummer begreifen, daß alles nur ein böser Spuk gewesen sei, der für die neue Ehe nicht viel Gutes bedeute. Der Bauernvogt aber, der das Geld in der Gerichtslade hatte, wußte besser, daß etwas Wahres daran war. Er ließ aber die Gemeinde bei ihrem Glauben und legte das Gold in seinen eigenen Kasten.

Quelle: Heinrich Smidt, Seemanns-Sagen und Schiffer-Märchen, zweite vollständige Ausgabe 1849