DER KNURRHAHN

Auf der Nordsee wiegte sich, unfern der weißen Bank, ein Blankeneser Fischer-Ewer auf den Wellen. Hinten am Steuer saß der Schiffer und sah gedankenlos in die grüne Flut; am Mast hockte der Maat und besserte ein schadhaftes Netz aus, während der Junge vorn auf der Flicht herumtanzte und allerlei Possen trieb.

„Junge!" rief der alte Schiffer barsch. „Willst du still sein! Weißt du nicht, wenn die Netze im Wasser liegen, muß der Fischer schweigen, wie die Fische dort unten, sonst werden sie gewarnt und schwimmen vorbei."

„Ja, Meister Viet!" lachte der Junge. „Stumm wie ein Fisch, aber es sind nicht alle stumm. Ihr wißt doch wohl, was Euch Mutter Köhnsch, das dicke Fischweib, letzthin von der Altonaer Eibbrücke zurief: ,Hans Viet, bringt mir zum nächsten Male ein paar Stiegen Knurrhähne mit.' Und weil es allein darauf ankommt, Knurrhähne zu fangen, so kann das Tanzen und Singen auch nichts schaden. Das könnte der Knurrhahn selbst sagen, wenn einer hier wäre, denn der schwatzt so gut wie die Möwe und der Hund. Wir könnens nur nicht verstehen!"

Der Junge begann seinen Tanz aufs neue; aber der Schiffer rief eifernd zu ihm herüber:

„Bleib mir mit deinen Dummheiten vom Leibe, oder es setzt Hiebe! Ein Fisch und ein Hund sollen eine Sprache haben wie ein vernünftiger Mensch! Ist es nicht eine Sünde und Schande, wenn die Alten den Kindern so etwas einreden? Aber mir müßt ihr nur kommen mit eurem Wischiwaschi."

Da erhob sich der Maat und warf das ausgebesserte Netz auf die Seite:

„Mit Verlaub, Hans Viet! Von Wischiwaschi müßt Ihr nicht sprechen, zumal in der Nordsee und vor allem nicht in der Nähe der weißen Bank. Ihr seid ein kluger Mann, der seinen Handel versteht, aber ein Seemann seid Ihr nicht, denn Ihr kennt weder das Meer noch seine Tiefen und eine Welle ist Euch wie die andere. Hochmut tut nirgends gut, aber auf dem Meer gereicht er zum Verderben. Ihr habt doch so manchen Knurrhahn gefangen, und nie seine klagende Stimme gehört?"

„Dummheiten", brummte der Schiffer. „Das ist der Atem, der aus ihm herausgeht, sobald er an die frische Luft kommt, nichts weiter."

„Das ist nicht wahr", fuhr der Maat ruhig fort. „Ein Klagegesang ist es, den sie von sich geben, die alte Zeit und ihr früheres Glück betrauernd. Ja, Hans Viet, wenn Ihr es wüßtet, es würde Euch jammern, daß die armen Tiere, die von den Raubfischen und von den Menschen verfolgt und gegessen werden, früher ebenso vernünftige Wesen waren wie wir, und Ihr würdet Mitleid mit ihnen haben. Sie wohnten in schönen Häusern und hatten ihre Städte und Dörfer, alles zu der Zeit, als die weiße Bank noch ein großes und mächtiges Land war."

„Ich habe es Euch wohl angesehen, daß Ihr ein Träumer seid! In dem ersten Augenblick, als Ihr an Bord kamt, habe ich es gewußt!" rief der Schiffer grollend. „Wäre es mir aber in den Sinn gekommen, daß es so schlimm mit Euch stände, wie ich jetzt erfahre, Ihr hättet nie einen Fuß in meinen Ewer setzen sollen."

„So glaubt Ihr wohl auch nicht", fuhr der Maat fort und trat dicht vor den Schiffer hin, „daß die armen Geschöpfe noch immer auf ihre Befreiung hoffen und daß es einigen vergönnt ist, von Zeit zu Zeit ihre frühere Gestalt anzunehmen und an das Tageslicht zurückzukehren, um zu erspähen, ob die Stunde der Erlösung für sie noch nicht geschlagen hat?"

„Nein!" rief der Fischer im höchsten Unmut. „Das glaube ich nicht und noch vieles andere dumme Zeug auch nicht, und wenn Ihr eine leidlich gute Rückreise haben wollt, so schweigt augenblicklich und laßt nie wieder solche Albernheiten laut werden."

Er sprang in seine Koje, deren Tür er heftig zuschob, und der Junge machte sich an den Maat.

„Hört, Matthias! Ist es denn wahr, was Ihr da vom Knurrhahn erzählt und daß manchmal welche von ihnen als Menschen auf der Erde herumlaufen?"

„Freilich ist's wahr. Aber die armen Dinger dort unten werden wohl noch lange im Salzwasser ausharren müssen, noch sehr lange."

„Was muß denn geschehen, damit sie wieder frei werden?" fragte teilnehmend der Junge.

Der Maat zog den Jungen auf seine Knie, sah ihm fest ins Auge und sagte:

„Dann müßten die Menschen wieder werden wie früher, still und einfältig in ihrem Tun und Reden, nicht aber voll eingebildeter Weisheit, wie unser Schiffer und viele andere. Zu der Zeit, als die weiße Bank ein schönes, von der Sonne beschienenes Land war, blühte auch die Blumeninsel Terschelling, das Auge von Neuwerk flammte noch und der Arm des Wasserriesen Ligur war noch nicht durch den Felsen von Helgoland gebohrt. Damals war die ganze Nordsee eine Kette von glückseligen Inseln, von den kristallenen Wogen umflutet; jetzt ist sie eine kalte, tote Wüste, die die Menschen mit ihren Schiffen bevölkern. - Ein furchtbarer Dämon hatte sich einst auf seiner Wanderung hierher verirrt und langte auf der weißen Bank an, die damals von einem gütigen und frommen König regiert wurde. Der spielte und sang den ganzen Tag, und seine Untertanen konnten ihm keine größere Freude bereiten, als wenn sie mit ihm spielten und sangen. Das wurde ihnen auch überaus leicht, denn da ihr Land alles in Überfluß hervorbrachte, was sie zum Lebensunterhalt brauchten, so hatten sie es nicht nötig zu arbeiten und konnten unaufhörlich neue hübsche Lieder dichten oder neue fröhliche Weisen ersinnen. Kaum hatte der böse Dämon von dieser Unschuldswelt Kenntnis erhalten, als er sich sehr erboste. Neidisch auf das stille Glück der Insulaner, selbst ruhelos und flüchtig, ihnen ihre Freistatt nicht gönnend, suchte er sie zu verderben. Er tat, als ob ihm das lustige Leben gefiele, war mit jedem freundlich und hing sich besonders an solche, deren Lieder am wenigsten gefallen hatten. Wenn er sie dann mißgestimmt fand, stellte er ihnen vor, daß es noch viele andere Dinge in der Welt gäbe, die den Menschen zur Freude gereichten, und überredete sie, es ihm nachzumachen.

Viele folgten ihm, von seinen verführerischen Worten hingerissen. Der eine warf Netze aus und tat einen Zug, wodurch er einen großen Haufen Gold ans Tageslicht brachte; dann kam der Dämon in der Gestalt eines fremden Handelsmannes und bot ihm allerlei artige Spielereien an, die er für das Gold eintauschte, und diese Spielereien weckten den Neid der Nachbarn, die auch gern solche Kostbarkeiten gehabt hätten. Einem anderen hatte der Dämon einige Sämereien gegeben; sie wurden in die Erde gesenkt, und prächtige Pflanzen mit wunderbaren Blüten schössen daraus auf. Da kam ein Unbekannter und gab ganze Hände voll Gold für diese Blumen. Der Mann, der einen so glücklichen Tausch gemacht hatte, stolzierte mit seinem Schatz umher und sah verächtlich auf seine Nachbarn herab, die dergleichen nicht besaßen. Bald herrschte im ganzen Land eine unselige Verwirrung. Einer zog hier-, der andere dorthin, jeder schätzte seine Freunde gering, denn er hielt sich für etwas ganz Besonderes. Die frühere Glückseligkeit war verschwunden, kein fröhliches Lied erscholl, keine zarte Melodie wurde gehört. Nur wenige wagten es, in der früheren Weise fortzuleben, aber sie verschmachteten im Elend, denn mit der Unschuld der Bewohner war auch der üppige Ertrag des Bodens verschwunden; er ernährte seine Kinder nicht mehr. Die anderen gaben den armen Liedersängern nichts von ihren Schätzen, sondern ermahnten sie nur, nicht so unnütze Possen zu treiben, sondern zu arbeiten, dann würden sie es ebenso gut haben. Zuletzt bauten sie in ihrem Übermut gar Schiffe und fuhren mit ihren Reichtümern von dannen. Das arme Land, das nur noch einer trostlosen, weißschimmernden Sandfläche glich, stand verödet.

Der König hatte mit großer Betrübnis den Untergang seines blühenden Reiches gesehen, aber er vermochte nicht, ihn aufzuhalten. Er versammelte die wenigen Untertanen, die treu bei ihm ausgehalten hatten, und sprach: ,Ihr seht unseren Untergang vor Augen. Wollt ihr allmählich verschmachten und der Spott unserer abtrünnigen Brüder sein, oder wollt ihr freiwillig mit mir sterben in den Fluten des Meeres?'

,Wir wollen mit dir sterben!' riefen alle.

Der König ging voran. Das Saitenspiel in der Hand schritt er in die schäumenden Wogen.

Da stieg der böse Dämon aus der Flut empor, und indem er eine heranrollende Welle ergriff und als Mantel um seine Schultern schlug, sagte er grinsend: ,So einfach ist es nicht! Euer Reich ist noch nicht aus; es dauert bis an das Ende aller Tage. Aber ihr dürft nicht ganze Länder besitzen und eure Zeit nur mit Sang und Klang hinbringen. Hinab mit euch in die Tiefe! Aber sterben werdet ihr dort nicht. Seid, was alle dort unten sind, Fische! Und damit ihr euch von den übrigen unterscheidet, behaltet die Sprache; dann könnt ihr im Wasser singen nach Herzenslust. Von Zeit zu Zeit soll es euch erlaubt sein, einen von euch in menschlicher Gestalt herauf zu senden, der dahin arbeitet, daß euer Liederreich wieder hergestellt werde auf Erden. Wenn ein Tag kommt, an dem jeder Reiche seine Schätze verläßt und die Laute spielt, wenn die Ehrsüchtigen sich freiwillig ihrer Pracht entkleiden und Lieder dichten, wenn die Gewaltigen das Schwert von sich werfen und zarten Weisen nachsinnen, dann entsteht auch euer Reich wieder. Bis dahin seid von der Erde verbannt!'

Sprachs und tauchte wieder in die Wogen. Und mit ihm zugleich versank die Insel, und die wenigen Bewohner, die noch darauf zurückgeblieben waren, samt ihrem König."

„Das sind verwundersame Geschichten", sagte der Junge, der aufmerksam dem Maat zugehört hatte. „Da werden aber wohl die armen Knurrhähne noch lange warten müssen?"

„Noch sehr lange", entgegnete der Maat mit einem Seufzer.

In diesem Augenblick kam der Schiffer wieder zum Vorschein und befahl, daß die Netze gehoben werden sollten. Sie machten sich an die Arbeit, und bald war das Deck mit Fischen aller Art bedckt; jede Sorte wurde in eine besondere Buhne getan, aber vorzugsweise sonderte der Knecht die Knurrhähne mit großer Sorgfalt aus, die man diesmal in ungewöhnlicher Menge gefangen hatte und die der Junge mit besonderer Teilnahme betrachtete.

Allmählich brach der Abend herein und jeder begab sich zur Ruhe. Es war eine laue Sommernacht und der Junge, dem es unter Deck zu heiß wurde, streckte sich beim Mast nieder, den Blick bald auf das wallende Meer, bald auf die leuchtende Sternendecke gerichtet. Er versank in einen Halbtraum und es kam ihm vor, als ob der Maat auf das Deck kam, sorgfältig um sich schaute, und eine der Buhnen aufzog. Er legte die Fische sauber auf das Deck und warf die leere Buhne über Bord. Der Junge sah deutlich, daß es die Knurrhähne waren. Der Maat warf sich mitten unter sie, und, o Wunder, seine Gestalt schrumpfte zusammen.

„Unsere Zeit ist noch nicht gekommen", sprach er traurig.

Da vernahm man einen tiefen Klagelaut, den die Fische ausstießen. Der Leib des Maat bedeckte sich mit Schuppen, sein Kopf gestaltete sich zu einem Fischrachen, seine Beine wuchsen zu einem Schwanz zusammen, die Arme schrumpften zu leichten Flossen ein. So scharf der Junge hinsah, vermochte er den Maat kaum mehr von den übrigen Fischen zu unterscheiden. Gleich darauf versank er in einen festen Schlaf.

Das Poltern des Schiffes schreckte den Jungen aus seiner Ruhe auf: „Was ist hier mit den Fischen vorgegangen? Und wo ist der Matthias, den ich nirgends finde?"

„Der Maat ist zu seinen Brüdern, den Knurrhähnen, zurückgekehrt und liegt dort mitten unter ihnen."

„Wischiwaschi", brummte der Schiffer. „Wasch dir die Augen aus, dann siehst du klar. Der Kerl hat mir von diesen Fischen stehlen wollen, und ist dabei über Bord gefallen. Nun sind sie gestorben und der Schaden ist mein."

Unmutig stieß er die toten Fische auf die Seite und warf die Netze wieder über Bord. Der Junge stand dabei und sprach vor sich hin: „Nur keine Knurrhähne wieder!"


Quelle: Heinrich Smidt, Seemanns-Sagen und Schiffer-Märchen, zweite vollständige Ausgabe 1849