DER ELBGEIST

Die Dichter haben Sagen und Märchen erzählt von dem Meer. Die Tiefe des Ozeans und des Mittelmeers haben sie entschleiert und die phantastischen Riesengebilde der Nordsee in den engen Rahmen des Wortes gebannt. Die goldene Leier in der Hand sind sie in die Berge geflohen und folgen der Quelle, bis sie ein Bach wird, dem Bach, bis er zum Strom anschwillt. Dann ziehen sie mit ihm durch das Land, singen von Feen und Rittern, die an seinen Ufern hausten, und von den Geistern, die auf seinem Grund herrschen. Das Reich der Poesie blüht bis zu ewigen Tagen an den Ufern der Mosel und des Rheins.

Und nur die Elbe allein, die der Nordsee ihre gelben Wogen zusendet und auf ihrem Rücken nichts als Dampfboote oder Segelschiffe trägt, wäre nichts als ein langweiliges Wasser? Ihr irrt. Freilich zeigen die Ufer der Niederelbe keine stolzen Ruinen, keine verfallenen Klöster, keine romantischen Höhen und melodisch flüsternden Kaskaden. Ihre Höhen flachen sich, im Gegenteil, bald ab, und zu beiden Seiten ziehen die Ebenen in unabsehbarer Ausdehnung weiter, bis sie, der Mündung nahe, endlich dem Blick des Beschauers entschwinden. Aber in der Tiefe ruht die Poesie der Elbe, und wem es vergönnt ist, sie zu heben, der wird das goldene Zeitalter heraufbeschwören in diesen Gegenden, und wo jetzt die Dampfschiffe die Flut durchschneiden, eine lange Rauchsäule hinter sich lassend, da wird der goldene Muschelkahn des Eibgeistes einherziehen; die Segel werden aus Rosenblättern zusammengefügt sein und der Kompaß wird nach dem Land der ewigen Glückseligkeit zeigen.

Ich habe einen Greis gekannt im Dorf Neumühlen, jener lieblichen Perle, die am Ufer des Stroms in der Sonne aufleuchtet. Dieser Greis hatte ein vom Wetter gebräuntes Gesicht, und die Furchen auf seiner Stirn deuteten an, daß er der Jahre viele gesehen und in diesen Jahren manche Abenteuer erlebt und Mühseligkeiten ohne Ende erduldet hatte. Er sprach von allen Dingen dieser Erde mit Verstand; die Leute im Dorf sagten, er sei so klug wie ein Buch. Aber als er älter wurde, und die Schmerzhaftigkeit, die das Alter begleitet, über ihn hereinbrach, öffnete sich sein Herz, und die lange verschlossenen Erlebnisse der Jugend traten an das Licht. Er sprach viel von den geheimnisvollen Tiefen, von den reichen Schlössern und prachtvollen Gärten, die von den Wellen des Stroms verdeckt würden, so wie von der Liebe des Eibgeistes zu ihm, den er im jugendlichen Übermut von sich gestoßen habe und der nun in einer schwarzen Kiste schlafe, bis ihn ein frommer Knabe aus seinem Gefängnis erlöse.

Als der Greis dies und mehreres andere erzählte, änderten die Leute ihre Meinung von ihm; sie sagten nicht mehr, daß er klug und verständig sei, sondern kamen dahin überein, er sei kindisch geworden, und es wäre wohl gut, wenn der liebe Gott ihn zu sich nähme. Ganz besonders meinten dies seine Verwandten, die ihn beerben sollten. -Aber ich habe daran nicht geglaubt. Als Knabe habe ich oft auf seinen Knien gesessen und ihm in die klaren, gutmütigen Augen geblickt. In den Augen eines Irren kann solche Kraft und Milde nimmer wohnen. Was er erzählte, mußte auch wahr sein, denn es klang zu wunderbar und doch wieder so natürlich, daß man es nicht hätte erfinden können. Mich hatte er liebgewonnen und erzählte mir alles, was er von dem Eibgeist und seinen Reichen wußte. Und was er mir anvertraut hat, das sollt ihr wieder von mir hören und so viel wie möglich mit seinen eigenen Worten.

Es war gegen Abend, als ich in meiner Jolle saß und, wie tolle Buben es wohl zu tun pflegen, hin und her schaukelte. Die Elbe war spiegelglatt, und die Sonne streute ihr flüssiges Gold darüber hin. Es war schön, wunderschön, aber ich dachte - ich weiß nicht, wie es kam - es müsse unter dem Wasser noch schöner sein, und trug großes Begehren, mich dort einmal umzusehen. Da schwamm mit dem letzten Zug der sanft einsetzenden Flut ein majestätischer Schwan von Westen her so dicht bei meiner Jolle vorüber, daß ich nur die Hand auszustrecken brauchte, um ihn zu greifen; aber ich wagte es nicht, denn das Tier sah so vornehm aus, daß ich Respekt vor ihm empfand. Seine klugen Augen waren auf mich gerichtet; er kehrte wieder um und blieb hart am Backbord meiner Jolle stehen.

Nicht lange dauerte es, daß der Abend hereingebrochen und der letzte Strahl des Lichtes im Westen völlig verschwunden war. Es fing an zu dunkeln und aus dem Bett des Stromes stiegen die Abendnebel auf. Da erhob sich plötzlich ein Singen und Klingen, das leise durch die Luft zitterte, und als ich genau achtgab, entdeckte ich, daß der Schwan diese Töne erklingen ließ. Das wunderte mich sehr, denn ich hatte nie vernommen, daß ein Schwan singen könne. Bald war aus der Bewunderung ein stilles Entzücken geworden, denn die Musik klang so freundlich, sie füllte mein Herz mit namenloser Wonne und süße Tränen strömten meine Wangen herab. Aber wie ward mir, als ich plötzlich entdeckte, daß es in mir lebendig wurde, daß Ton um Ton sich bildete und Gesang auch aus meiner Kehle zu den Sternen am blauen Himmel emporstieg.

„Hilf mir Gott, was ist das?" sprach ich zitternd zu mir selbst. Dabei blickte ich den Schwan fragend an, der eben jetzt den Hals höher emporstreckte als früher. Da sah ich, daß von ihm ein seltsamer Glanz ausströmte, der das ganze Stromgebiet erleuchtete, und dabei wuchs er zusehends. Zitternd schlug ich die Augen nieder und wagte nicht aufzusehen. Aber der Schwan bewegte die Flügel und ich vernahm ein leises Flüstern: „Fürchte dich nicht. Du hast gewünscht, die Wohnung des Eibgeistes zu sehen, die er sich im Bett des Stromes erbaut hat. Dir ist es vor allen Sterblichen vergönnt, jene Räume zu betreten, denn du bist reinen Herzens und hast eine Stimme voll des zarten Wohllauts, die dir die geheimnisvoll verschlossene Pforte seines Palastes öffnen kann."

„Ach, lieber Vogel", antwortete ich zitternd, „wie geht es zu, daß ich vor allen anderen Menschenkindern eines solchen Glückes teilhaftig werden soll?"

„Ich will es dir sagen", entgegnete der kluge Schwan. „Deine Stimme ist hinabgedrungen und der Eibgeist hat sie gehört. ,Ein solcher Ton', sagte unser weiser Herrscher, ,kommt nur aus einem schuldlosen Herzen, und ein solches ist berufen, große Dinge zu tun. Darum rudere aufwärts und lade ihn zu einem Besuch ein.'"

„Ist es denn wirklich möglich?" fragte ich ungläubig lächelnd.

„Hat das der Eibgeist gesagt?"

„So ist es."

„Und wie willst du es anfangen, seinen Auftrag auszurichten?"

„Das ist meine Sorge. Ich habe ein Paar schöne Ruder, das sind meine Füße, und ein Paar blendend weiße Segel, das sind meine Flügel. Wenn ich die ausspanne, geht es mit Sturmeseile davon. Wir wollen keine Zeit verlieren."

Da breitete der Schwan die stolzen Flügel aus und ließ eine glänzende Furche zurück, die gleich einer Strömung zischte und brauste. Da hinein glitt mein Boot und flog dem Schwan nach, ohne daß irgendein Ruder bewegt wurde.

Anfangs belustigte mich diese Fahrt, aber bald ergriff mich ein ängstliches Gefühl, daß ich hätte weinen mögen, denn ich wußte nicht, wie die Reise enden sollte. Zuletzt aber wurde ich von all dem Ungwöhnlichen so betäubt, daß ich in einen tiefen Schlaf sank.

Der Gesang des Schwans weckte mich, und als ich munter geworden war, sagte der Vogel: „Du bist am Ziel und brauchst mich nicht mehr. Steige getrost hinab, und wenn dir's wohl geht, denke an mich." Nach diesen Worten wurde er immer kleiner, bis er zuletzt einer leichten Schaumblase glich, die sich in einem Augenblick auf dem Rücken einer Welle bildet, um in dem nächsten wieder zu verschwinden.

Als ich mich ganz allein sah, ergriff mich eine große Furcht. Ich sah nichts als die breite Fläche des Stroms, worin der Mond sich spiegelte. Was sollte ich hier beginnen?

Da reckten ein paar kluge Seehunde die Hälse aus der Flut empor und warfen ein Geflecht von Seetang über die Duchten meines Bootes. Ich entdeckte bald, daß es eine Strickleiter war, setzte einen Fuß darauf und blitzschnell ging es hinunter.

Anfangs ängstigte ich mich, weil ich glaubte, die Leiter würde reißen; auch war mir das Wasser zuwider, das mich von allen Seiten umrauschte. Aber bald war jede Besorgnis verschwunden. Tageshelle verbreitete sich, als ich den Fuß auf festen Boden setzte. Ich fühlte, daß ich von Wasser umrauscht wurde, aber es hinderte mich nicht, und ich vernahm nur eine leise Musik, die durch das Vorüberfließen hervorgebracht wurde.

Ich war allein. So weit das Auge reichte, sah ich nichts als eine gleichmäßige Fläche, die in allen Farben schimmerte. Erst glaubte ich, es wären Blumen, fand aber bald, daß es Muscheln, Seesterne und andere Wassergewächse waren. Sie sahen so allerliebst aus, daß ich einige aufzusammeln begann, als ein naseweiser Stint mich umschwamm, und mit seinem Schwanz mir ins Gesicht schlug. „Was machst du da?" piepte er und war auf und davon. Ich war darüber so erschrocken, daß ich alles von mir warf und geradeaus lief, so schnell ich nur konnte. Während dieses angestrengten Laufens sah ich wohl rechts und links Scharen von Fischen ziehen, aber sie ließen mich gehen, bis endlich eine rotgefleckte Eibbutte mir gerade entgegensteuerte und anzuhalten befahl.

„Wenn du auf diesem Weg weiter fortwillst, gelangst du in die salzige See und marschierst aus dem Reich des Eibgeistes hinaus. Er kann dich dann nicht weiter schützen und du bist dem grausamen Nordseefürsten verfallen, der dich zum nächsten Frühstück verzehrt."

Erschrocken stand ich still und fragte zitternd, wohin ich mich wenden müsse, um einem solchen Unglück zu entgehen, worauf die Butte recht freundlich erwiderte: „Du kannst einfach mir nachfolgen, so gelangst du an den Ort, wo man dich erwartet. Die Robben haben denselben Auftrag gehabt, aber sie haben ihn vergessen und gehen noch heute als Tribut für die Küche des Nordseefürsten ab, obgleich die ganze Familie, die sehr reich und mächtig ist, sich für sie verwendet hat, und eine Million Fischschuppen als Strafe zahlen will."

Ich ging neben der Butte her, die mir so viele Neuigkeiten erzählte, daß ich nicht bemerkte, wohin ich gelangte. Mir lag das Schicksal der beiden Robben am Herzen, nicht minder das des Stints, der mir einen Schlag ins Gesicht gegeben hatte. Er sollte, zugleich mit zwei Heringen, die sich auf dem gestrigen Hofball eine Unart hatten zuschulden kommen lassen, in einen wasserleeren Topf gebracht werden und dort jämmerlich sterben.

„Wir sind am Ziel", sagte die Butte und entfernte sich, als wir uns vor einem Palast befanden, der aus Muscheln und Pflanzen erbaut war. Unschlüssig stand ich da und die Pforte war fest verschlossen. Da fiel mir ein, was der Schwan von meiner Stimme gesagt hatte, und ich begann sofort ein Lied, das von dem Glück eines unbefleckten Gewissens handelte. Die Töne drangen leicht aus meiner Kehle hervor, und wie Ton auf Ton erscholl, öffnete sich die hohe Eingangspforte, so daß ich ungehindert eintreten konnte.

Ich stand in einer großen Halle, die von einer doppelten Säulenreihe gebildet ward und ein seltsames Licht von sich strahlte. Eine der Säulen war rot, eine andere blau, eine dritte grün, eine vierte gelb und von jeder ging ein anderer Lichtstrom aus, bis diese Ströme sich in der Mitte miteinander vermengten. Im Hintergrund der Halle aber erblickte man einen goldenen Thron und darauf eine zusammengekauerte, eingeschrumpfte Gestalt, die sich bei meinem Eintritt erhob und mir zuwinkte.

Ich darf gestehen, daß ich bei dem Anblick jenes seltsamen Wesens nicht wenig erschrocken war. Es wurde häßlicher, je näher ich kam. Gern wäre ich zurückgeblieben, und doch war eine geheime Macht in oder neben mir, die mich bis zu den Stufen des Thrones trieb, wo ich dann das seltsame Wesen näher betrachten konnte. Es war weder die Gestalt eines Menschen noch die eines Fisches oder die eines Krebses, sondern von allen dreien etwas und in solcher Zusammenstellung, daß es komisch war und entsetzlich zugleich und man weinen und lachen konnte durcheinander.

Eine geraume Zeit verging, während deren mich dies Geschöpf von oben bis unten betrachtete; endlich aber sagte es mit einer zitternden Stimme: „Ich danke dir, daß du gekommen bist, denn wie groß auch meine Macht hier unten ist, kann ich doch keinen Bewohner der Oberwelt zwingen, mich zu besuchen. Tote kommen genug zu mir, namentlich zur Zeit der Frühlings- und Herbststürme, die kann ich aber nicht gebrauchen und lasse sie wieder fein sauber auf den Strand legen."

Ich faßte mir nun ein Herz und sagte: „Mächtiger Geist, der du hier unten gebietest, sage, wo der Eibgeist haust, damit ich ihm meine Ehrfurcht bezeige."

„Dieser Eibgeist bin ich selbst", sagte jener und setzte nach einer Pause hinzu: „Du bist erstaunt, daß ich so wenig dem Bild entspreche, das man dir von mir entworfen hat, denn man hält mich für das schönste und vollkommenste Wesen. Doch die Zeiten sind leider vorüber. Ebenso schön wie mein Leib war vormals meine Stimme. Aber das ist alles vorbei, und wenn ich jetzt singen wollte, würde vor Schrecken alles Lebende in meiner Nähe versteinern. Aber wenn du aufmerken willst, so werde ich dir erzählen, wie ich in diese trostlose Lage geraten bin."

Ich nickte mit dem Kopf und der Geist fuhr fort: „Weit und breit bin ich geachtet. Meine Brüder, die Geister der Maas, des Rheins, der Eider und so vieler anderer Flüsse sind mir treue Genossen gewesen. Wir haben uns öfter Besuche abgestattet und fröhliche Feste gefeiert. Aber auch an unserem Lehnsherrn, dem mächtigen Nordseefürsten, hatte ich mehr einen Freund als einen Gebieter und war öfters an seinem Hofe. Einst unterhielt ich mich dort auf eine angenehme Weise. Es ging diesmal besonders vornehm zu, und zwar deshalb, weil der Beherrscher der Themse seine Tochter an den Hof des Nordseefürsten gesandt hatte. Sie führte einen glänzenden Hofstaat mit sich, und dieser plauderte aus, der Themsegeist sei überaus stolz und habe den Gedanken gefaßt, seine Tochter mit dem Nordseefürsten zu vermählen. Dies wäre wohl möglich gewesen, denn die Prinzessin war sehr hübsch, und ihr Vater besaß einen unermeßlichen Reichtum, zu dem er auch die Städte rechnete, die an seinen Ufern standen; denn, sagte er, ich brauche sie nur zu untergraben, so fallen sie mir von selbst zu. Dies machte mich sehr neugierig auf die Prinzessin, die ich auf dem nächsten Hofball sah, der ihr zu Ehren mit einer Anglaise eröffnet wurde, und auf dem sie durch ihre Gestalt und ihr liebenswürdiges Benehmen alle bezauberte, am meisten aber mich. Dabei tat ich alles, was ich nur vermochte, um in ihre Nähe zu gelangen und ihr die Gefühle meines Herzens zu offenbaren. Das Glück war meiner Kühnheit hold. Zwischen zwei malerisch gelegenen Sandbänken führte ein einsamer Pfad zu einem Seetangwäldchen. Hier spazierte sie, während ich im Wald eine Serenade für sie komponierte, und was war natürlicher als eine Begegnung? Sie nahm meine Huldigungen wohlgefällig auf, schwieg anfänglich, sagte dann zögernd, sie habe mich recht gern, und beteuerte zuletzt, sie fände mich weit interessanter als den Nordseefürsten. Es ist leicht begreiflich, daß dies Geständnis meiner Eitelkeit schmeichelte, denn es wäre doch nichts Geringes gewesen, wenn die Themse und die Elbe durch ein solches Bündnis hätten vereinigt werden können. Aber mein Glück sollte nicht von langer Dauer sein. In einer der beiden Sandbänke, die den Pfad bildeten, worauf wir wandelten, befand sich ein verdeckter Einschnitt, und hier lag lauernd ein alter Rochen, der mit den Jahren aus der Mode gekommen und deshalb nicht wenig grämlich war. Er hatte uns belauscht, und da er alle Verhältnisse genau kannte, wußte er nichts Eiligeres zu tun, als zum Hof zu eilen und dem Fürsten alles zu erzählen. Dieser war außer sich vor Zorn und leistete einen heiligen Eid, er wolle uns jämmerlich vernichten und seiner Rache freien Lauf lassen. Treue Freunde warnten uns, aber zu spät. Die fürstlichen Gefolgsleute, zusammengestellt aus einer unabsehbaren Schar von Heringen, hatten das ganze Gebiet besetzt und jede Flucht unmöglich gemacht. Wir wurden von unseren Freunden getrennt und in ein finsteres Gefängnis gebracht, wo man uns genügend Zeit ließ, über unser Geschick nachzudenken. Endlich ward ich vor Gericht gefordert und ein bleicher Schellfisch, der mein Kerkermeister war, sagte mir, sämtliche Notabilitäten wären eingeladen, der Sitzung beizuwohnen.

Beim Eintritt in den Saal entsetzte ich mich sehr. Der Nordseefürst hat nämlich, mit Hilfe eines Talismans, die Macht, jede beliebige Gestalt anzunehmen, und um uns recht zu imponieren, erschien er als mächtiger Hai, den alle mit Furcht und Zagen erblickten. In einer Ecke aber bemerkte ich die Prinzessin mit ihrem Vater. Der Fürst hielt erst eine lange Rede, die aus dem Hairachen doppelt entsetzlich klang, und sagte dann zur Prinzessin:,Glaubt nicht, daß Ihr meiner Macht entflohen seid. Nach der Beleidigung, die Ihr mir zugefügt habt, liebe ich Euch nicht mehr; aber dennoch müßt Ihr noch heute abend meine Frau werden, denn so haben es Euer Vater und ich beschlossen.' Nun wandte sich der Fürst zu mir und tat den Rachen so weit auf, daß ich glaubte, er würde mich sogleich, ohne Urteil und Recht, verschlingen. Aber er tat es nicht, sondern brüllte mich mit folgenden Worten höchst unfürstlich an: ,Niedriger Knecht, dem Wir stets Liebes und Gutes erwiesen, von dem Wir nie mehr als den doppelten Tribut erhoben und den Wir an Unserem Hofe mit Wohltaten überschüttet haben, du hast es gewagt, Uns so sehr zu beleidigen, daß alles Wasser, worüber Wir gebieten, nicht hinreichend ist, diese Beleidigung von Uns abzuwaschen. Darum wird die Strafe, die Wir dir auferlegen, so unerhört sein, daß selbst der grausamste Bewohner des Meeres, der scheußliche Krake, Mitleid mit dir fühlen wird.' Mein Gemüt erfüllte Angst und Furcht, aber ich hatte zugleich die Genugtuung, meine Freunde zu erkennen; denn die edlen Geister der Weser, der Maas und der Eider warfen sich dem grollenden Fürsten zu Füßen und flehten um Schonung für mich. Es half ihnen nichts. Das Urteil wurde gesprochen und klang so fürchterlich, daß ich es nicht über die Lippen bringen kann. Fast tot vor Schrecken krümmte ich mich am Boden. Doch die Flußprinzen richteten mich auf und erklärten, da ihre Bitten und Tränen nichts gegen den Zorn des Königs vermocht hätten, so würden sie mich jetzt mit Gewalt verteidigen. Der Weserprinz aber ging einen Schritt weiter und rief unerschrocken: Ja, durchlauchtigster Herr, wir flehen Euch nochmals an, die schreckliche Strafe von dem Haupt unseres ebenbürtigen Eibbruders zu nehmen. Beharren Euer Durchlaucht aber bei Ihrem Willen, so kündigen wir Ihnen den Gehorsam auf und lassen Ihnen keinen Tropfen Wasser mehr zufließen, wenn wir auch in unserem Überfluß ersticken müßten. Mögen Euer Durchlaucht zusehen, was aus Ihnen wird, wenn Sie keinen Tropfen süßes Wasser als Zuschuß erhalten und Gefahr laufen, im eigenen Salz zu sterben.'

Diese Drohung schien dem Fürsten zu imponieren. Er blähte sich vor Wut auf und fiel dann wieder zusammen. Am liebsten hätte er uns allen den Kopf vor die Füße gelegt, aber, unsere Übermacht erkennend, lenkte er ein. Er warf die Gestalt des Hais von sich, nahm seinen goldenen Schärpenmantel um und sagte nach einer Pause mit holdseligem Lächeln: ,So recht, meine Prinzen! Möge der Bedrängte stets solche Beschützer in euch finden, dann werden eure Reiche glücklich und meine Vasallen die Blüte der Ritterschaft sein. Um euch einen Beweis meiner Hochachtung zu geben, ziehe ich mein Urteil zurück und heiße die Folterknechte sich entfernen.' Während dies geschah, erbebte der Palast vom Jubelgeschrei, zu dem die Prinzen das Signal gaben und das in der Brust des ärmsten Herings ein Echo fand.

Der Fürst nahm alle diese Huldigungen äußerst gnädig auf und geruhte zu versichern, daß diese Stunde die schönste seines Lebens sei. Dann aber wandte er sich zu mir und sagte sehr ernst: ,Unseren strengen Urteilsspruch haben Wir zwar zurückgenommen, doch ist dein Verbrechen zu groß, als daß es ungestraft bleiben dürfte. Wir legen dir also folgende Buße auf. Kehre in dein Reich zurück. Du bist der Schönste aller meiner Vasallen, sobald du aber die rote Tonne passierst, wirst du zu einem Wechselbalg zusammenschrumpfen und deine Stimme dem Gekrächz eiher Möwe ähnlich sein. Dies Ereignis wird dein Reich und seine Bewohner in einen Zustand der Trauer versetzen, der so lange anhält, bis der Sohn eines sterblichen Menschen zu dir hinabsteigt. Er muß eine so heitere Glockenstimme haben, daß er damit alle Gemüter fesselt, die Wellen ehrfurchtsvoll vor ihm zurückweichen und statt zu schaden, ihm dienen. Zugleich muß er eine solche Uneigennützigkeit an den Tag legen, daß er die Schätze der Welt um sich aufgehäuft sehen kann, ohne nur das Geringste davon zu begehren. Wenn dies geschieht und er jeder Versuchung standhaft widersteht, ist er würdig, dein Ritter zu sein. Kann er sich dann entschließen, dich zu umarmen und einen Kuß auf deine Lippen zu drücken, so ist dein Leiden beendet. Du erhältst deine frühere schöne Gestalt wieder, erscheinst an Unserm Hofe und vermählst dich mit der schönsten Prinzessin, über deren Hand wir gerade zu verfügen haben.'

Ich entfernte mich schweigend aus dem Palast des noch immer zürnenden Fürsten und schritt der Eibmündung zu. Als ich die erste rote Tonne über mir sah, ging die entsetzliche Verwandlung vor sich. Alle meine Untertanen wichen scheu vor mir zurück und der Weg in die Heimat war so einsam, als ob ich ein büßender Einsiedler sei."

Dies war die Geschichte, die der unglückliche Eibprinz erzählte und dann mit folgenden Worten schloß: „Viele Jahre - wer hätte sie zählen mögen! - sind seit jener verhängnisvollen Stunde vorübergegangen, ohne daß sich ein Hoffnungsschimmer zeigte. Du bist der erste lebende Mensch, der meine Staaten betritt, also begreifst du, welche Empfindungen dein Hiersein in mir erregt. Nur meine Geschichte durfte ich dir erzählen und darf mich jetzt deines Anblicks nicht mehr erfreuen. Sei wie ich selbst in diesem Land! Es wird alles aufgeboten werden, dir deinen Aufenthalt so angenehm als möglich hier zu machen, also ziehe in Frieden!"


Dies alles hatte der Knabe, dessen Name Georg war, von dem Eibgeist erfahren und ging dann still vor sich hinschauend aus dem Thronsaal, dem Schloßgarten zu. Er war sehr verwundert über das, was er sah. Die Bäume schienen wirkliches Laub, die Blumen Farbe und Duft zu haben; darüber blaute der Himmel und die Strahlen der Sonne vergoldeten ihn.

„Ach!" rief er aus. „Hier ist es schön! Ja, das lasse ich mir gefallen! Einen solchen Garten möchte ich auch haben."

Da trat ein alter Gärtner zu ihm: „Wenn du es wünschst, so ist dieser Garten zu deinen Diensten. Wünsche nur künftig nie mehr."

Georg besann sich einen Augenblick und sagte dann rasch: „Was sollte ich wohl mit einem solchen Garten anfangen? Behalte ihn nur! Ich danke für deinen guten Willen."

Bald stand er, im Weiterwandeln, am Ufer eines Flusses, der durch Blumenbeete floß. Das Wasser war so durchsichtig, daß man deutlich sah, wie auf dem blauen Grund rote, grüne und gelbe Fische umherschwammen. Ein glänzendes Boot lag da, Steuer und Ruder waren von Elfenbein und daneben lagen silberne Netze ausgespannt. Georg, der an das schwarz angestrichene Boot des Vaters dachte, seufzte sehnsüchtig auf und sagte: „Das lasse ich mir gefallen! Wenn ich ein solches Boot hätte, wäre ich bald ein gemachter Mann!"

Kaum hatte er das gesagt, als ein alter Fischer, den er vorher nicht bemerkt hatte, sich in dem Boot erhob und sagte: „Wenn du es wünschst, so ist dies Boot zu deinen Diensten. Wünsche nur künftig nie mehr."

Georg hatte keinen geringen Kampf mit seiner Bescheidenheit zu bestehen, denn das reizende Fahrzeug hatte ihm ausnehmend gefallen, aber er unterdrückte den Wunsch und sagte: „Ach nein! Was soll ich mit einem solchen Boot wohl anfangen? Ich danke für deinen guten Willen! Behalte es nur." Und als er dies gesagt hatte, stimmte er ein fröhliches Lied an und ging weiter.

Alles schien gutzugehen, als plötzlich das Unheil sich von einer Seite erhob, von der man es am wenigsten erwartet hatte. Man erinnert sich des Stintes, der wegen seines Übermutes in dem luftleeren Topf erstickt war. Das ganze Geschlecht schwor dem armen Georg Rache, und der Schlaueste von ihnen eilte ohne Zögern nach dem Palast des Nordseefürsten, dem er meldete, was vorging, und hinzusetzte: „Bleibt der dumme Junge bei dem Entschluß, stets bescheiden zu sein, so nimmt der Eibprinz seine frühere Gestalt an und entführt die schönste Prinzessin deines Hofes. Darum, o Fürst, sei klug!"

Das leuchtete dem Fürsten ein, und er zog seinen Hofastrologen zu Rate. Dieser überlegte einige Zeit und sagte dann lächelnd: „Wir beugen dem Unheil sehr leicht vor, wenn wir dem dummen Jungen etwas von meinem Hochmutstrank einflößen."

Unterdessen ruhte Georg im Schatten eines dichtbelaubten Baumes von seiner langen Wanderung aus. Der Durst quälte ihn sehr, und er spähte umher, ob er nicht irgendwo eine Quelle entdecken könne. Da sah er plötzlich nicht weit von sich ein freundliches Häuschen mit einem Garten und hohen Bäumen vor der Tür, unter der sich ein angenehmer Ruheplatz befand. Der Besitzer des Häuschens trat zu ihm, hieß ihn willkommen und sagte: „Wenn dir die Hütte gefällt, so will ich sie dir gern geben."

„Die Leute sind überaus gastfrei hier", sprach Georg vor sich hin. „Wenn ich alles hätte nehmen wollen, was mir heute angeboten worden ist, wäre ich ein reicher Mann. Nein! Ich will Euer Eigentum nicht haben, wenn Ihr aber so gut sein wollt, so gebt mir einen Trunk Wasser, denn ich sterbe vor Durst."

„Augenblicklich, mein lieber junger Herr!" rief der Mann und brachte einen schönen Pokal. Georg trank gierig, die Augen des Mannes aber funkelten hell, denn der war kein anderer als der verkleidete Astrologe des Nordseefürsten. Bald waren die verderblichen Folgen jenes Trankes zu spüren. Georg blähte sich auf wie ein Truthahn, warf den Kopf in den Nacken und rief: „Höre Er mal! Ich nehme Sein Angebot an! Haus und Garten sind mein! Schere Er sich anderswohin!"

Mit einer tiefen Verbeugung und ohne ein Wort zu reden, zog sich der Wirt zurück, aber wer recht hinsah, bemerkte gleich, daß aus dem dumm-ehrlichen Gesicht des Bauern die pfiffig-boshaften Augen des Hofastrologen hervorblitzten.

„Das wäre vorerst mein!" rief Georg sich brüstend, „und so gut hätte ich's längst haben können. Aber die Leute sollen mir nur noch einmal etwas anbieten, ich werde gewiß nicht so dumm sein, und es ausschlagen. Vater und Mutter sollen sich wundern, was aus ihrem Sohn geworden ist, und das übrige Volk im Dorf sehe ich dann gar nicht mehr an."

Zunächst ging er zu dem Fischer zurück und nahm das Fahrzeug samt den Netzen, darauf lief er zu dem Gärtner, von dem er den Garten bekam. Mit den empfangenen Gaben wuchs die Sehnsucht nach mehr. Er freute sich nicht über das, was er besaß, sondern trachtete nur danach, sein Besitztum zu vergrößern, und wurde dabei von Minute zu Minute aufgeblasener und hochmütiger.

Jetzt näherte er sich wieder dem Palast des Eibgeistes. Der saß auf seinem Thron und weinte die reinsten Perlen, die man nur irgendwo sehen konnte. Er hatte anfangs die schönsten Hoffnungen gehegt, denn seine Boten, die insgeheim Georg begleiteten, hinterbrachten ihm alles. Aber nur zu bald war dieser Schimmer von Freude verschwunden, und ein tiefer Schmerz zog sein Herz krampfhaft zusammen.

„Es war ein so guter Knabe!" jammerte der Eibgeist. „Aber meine Feinde haben sein Herz verdorben, und ich kann nichts tun, um das Werk ihrer Bosheit aufzuheben."

Georg begehrte Einlaß. Aber die Pforte öffnete sich nicht, kein Diener ließ sich sehen, und nur ein Weheruf ward zu hören. Er schlug mit Händen und Füßen gegen die Pforte und rief immer wieder: „Aufgemacht!" aber alle seine Anstrengungen blieben vergebens.

Da fiel ihm plötzlich ein, was ihm der Schwan, der ihn bis hierher geleitete, gesagt hatte: „Wie bin ich doch dumm, so etwas zu vergessen! Ich besitze ja den untrüglichsten Schlüssel, der jede Pforte öffnet, nämlich meine Stimme. Möge sie denn nochmals dieses Tor aufsprengen, damit ich eintrete und den nachlässigen Pförtner strafe."

Er wollte singen; aber er brachte nur einzelne Töne hervor, so rauh und kreischend, daß er selbst sich die Ohren zuhielt.

„Ich kann nicht mehr singen", sprach er vor sich hin, und die hellen Tränen stürzten ihm aus den Augen. Der Rausch, in den er durch den Trank des Hofastrologen versetzt worden war, wich. Er erkannte seine Fehler und das Unheil, das er dadurch verursacht hatte. „Ich kann nicht mehr singen", wiederholte er erschüttert, „und fortan werde ich stets unglücklich sein!"

Da vernahm er eine Stimme, die aus dem Innern des Palastes hervortönte und ihn mit Beben erfüllte: „Ja, du wirst nie mehr singen! Diese Gabe ist nur schuldlosen Gemütern gegeben, als ein Vorgeschmack der Wonne in höheren Sphären. Wir prüften dich, aber du bestandest nicht. So sinke denn in Staub zurück, und deine Strafe sei, daß die Abenteuer, die du hier unten erlebtest, niemals deinem Gedächtnis entschwinden, und du von der steten Sehnsucht nach hier verzehrt wirst."

Den armen Georg verließ die Besinnung, und er fiel mit einem Angstruf ohnmächtig zu Boden.


Als er erwachte, war er nicht wenig erstaunt, sich am Strand zu Neumühlen in dem Boot seines Vaters und genau an derselben Stelle zu finden, wo am Abend vorher der Schwan zu ihm gekommen war. Er glaubte anfangs, sein Erlebnis sei ein Traum gewesen, aber er wurde bald vom Gegenteil überzeugt, als der Vater erschien und ihn mit einer harten Züchtigung bedrohte, weil er die Nacht außer dem Hause und im Freien zugebracht hatte.

„Nun bist du ganz heiser, Junge, und kannst am Sonntag in der Kirche nicht zum Altarsingen gehen. Das ist ein Schimpf für die Familie!"

Der arme Georg hat nie wieder singen können. Von seinem nächtlichen Abenteuer durfte er nicht erzählen, wollte er dem Gespött entgehen, und er verschloß den endlosen Gram, sein Glück und das des armen Eibgeistes für alle Zeiten verscherzt zu haben, in seine Brust.


Georg ist tot. Ich habe an seinem Sterbebett gestanden und seinen letzten Seufzer gehört. Aber der Eibgeist schmachtet noch immer und wartet vergebens auf seinen Erlöser. Wo lebt am weiten und reichen Strand der Niederelbe ein Knabe, dessen Herz schuldlos und rein genug ist, um den unseligen Zauber zu lösen? Er steige hinab und breche den Bann, damit das Reich der Poesie und der Liebe aus der Tiefe emporsteige an das Licht und allen Menschen ein seliges Wohlgefallen sei.


Quelle: Heinrich Smidt, Seemanns-Sagen und Schiffer-Märchen, zweite vollständige Ausgabe 1849