DIE FLIEHENDE INSEL

Das Schiff steuerte auf der glatten Fläche des Ozeans unter den südlichen Breiten, fern von jeder Küste. Ganz außer allem Kurse liegend, irrte es umher in der unendlichen Wasserwüste. Die Mannschaft ging ernst und gottergeben nebeneinander hin, dem Augenblick mit Entsetzen entgegensehend, der ihnen das Ende der Vorräte ankündigen würde.

Die Sonne fiel in glühenden Strahlen lotrecht auf das Deck herab und kochte das Pech und das Harz aus den klaffenden Fugen; die Farben, welche die Seitenborde, die Masten und Galerien zierten, bröckelten ab, und die Hitze spaltete die Rundhölzer. Das Verderben drohte immer unvermeidlicher.

Ein leichter Wind schwellte kaum die Obersegel, und das Schiff brach sich nur zögernd Bahn durch die kristallhelle Flut. Man hörte vor dem Bug nicht das dumpfe Rauschen der auseinanderbrechenden Wellen, die lieblichste Musik für das Ohr des Seemanns. Lässig trieben einige Schaumblasen zu beiden Seiten vorüber, und ehe sie an der Hacke des Steuers zusammentreffen konnten, waren sie schon zerplatzt.

Auf dem Steuerbord des Quarterdecks lag auf einem Ruhebett ein junger Mann in halbaufgerichteter Stellung und blickte forschend in die Ferne. Es war der Kapitän, der, von einer langen Krankheit genesen, neuen Lebensmut unter dieser tropischen Sonne schöpfte. Aber mit der wiederkehrenden Kraft erwachte auch in ihm die Erinnerung an die große Gefahr, worin er mit seinem Schiff schwebte, und ein tiefer Seufzer entrang sich seiner Brust.

„Der günstige Wind hat uns verlassen für lange Zeit, ich fürchte, für immer", sprach der Steuermann, der neben dem Lager des Kapitäns stand. Es war ein sturmkalter Seemann mit einer durchwetterten Physiognomie und grauem Scheitel, der die meiste Zeit seines Lebens unter diesen tropischen Breiten hingebracht hatte.

„Dann lebe ich der Hoffnung", antwortete mit schwacher Stimme der Kapitän, „daß ein sonst unheilvolles Ereignis rettend über uns hereinbricht und uns in den Abgrund zieht, ehe die Plage der Hungersnot oder die noch schlimmere des Verdurstens uns heimsucht."

„Das möge geschehen nach der Einsicht und dem Willen dessen, der von allen lebenden Wesen verehrt wird, den aber der Seemann am meisten in seiner furchtbaren Größe und Herrlichkeit sieht und erkennt. Der Ozean birgt in seinem Wellengrabe gar viel geheime Wunder. Bis wir aber dahin gelangen, will es uns geziemen, die irdischen Dinge, die unserer Obhut anvertraut sind, mit dem größten Ernst zu behüten. Unser Wasservorrat neigt sich seinem Ende, und wenn wir den Leuten auch schon die Rationen verkürzten, so muß doch eine neue Beschränkung eintreten."

„Nein!" rief der Kapitän in fiebriger Anstrengung und richtete sich von seinem Lager auf. „Ihr bleibt ein Eisberg, selbst unter Indiens Sonne und habt kein Mitleid mit den Verschmachtenden. Hättet Ihr, wie ich, wochenlang in steigender Fieberglut gelegen, Ihr wüßtet, welche Wonne ein Wassertropfen gewährt, der unsere brennende Zunge kühlt. Nein! die Leute sollen trinken! Trinken, bis der letzte Wassertropfen versiegt. Dann wollen wir miteinander sterben!"

Er sank erschöpft auf sein Lager zurück, schloß die Augen und träumte von der jüngsten Vergangenheit. Er sah sich, den man weit und breit den schönen Robert nannte, unter den hohen Palmen wandeln, womit die Plantagen Südamerikas geschmückt sind, und ergötzte sich, wenn die Augen der lieblichsten Mädchen verstohlen auf ihm ruhten. Manches Herz brach in Liebe und Verlangen und flehte zur Heiligen Mutter3, den Jüngling ihrer Wahl ihr in die Arme zu führen. Die glühende Tochter Mexikos und die frühreife Jungfrau des paradiesischen Brasiliens taten Gelübde auf Gelübde, aber keine fand jemals Veranlassung, es einzulösen. Robert ging kalt an ihnen vorüber, denn Herz und Sinn waren ausschließlich einem Mädchen zugewendet, das auf einer kleinen Insel, inmitten des Ozeans, in dem Haus eines durch sie beglückten Vaters lebte. Mit lautem Jubel hatte er ihr das Geständnis der Liebe abgerungen und sie in seine Arme geschlossen, als seine Braut. Der Vater gab seine Einwilligung, doch nur unter der einzigen Bedingung, daß Robert nie die Insel verlassen solle, so lange er lebte, da er nicht die Kraft besaß, sich von seinem Kind oder seiner Heimat zu trennen. Robert weigerte sich. Sein Ehrgeiz strebte mächtig in die Ferne. Der Vater versagte ihm die Tochter; er aber blieb beharrlich bei seinem Werben. Die Liebe war willig gegen die Sprache der Verführung, und er entführte Elise heimlich aus dem Hause ihres Vaters. Als dieser die Flucht entdeckte, waren die Segel von Roberts Brigantine kaum noch am fernen Horizont sichtbar. Sein Fluch donnerte den Flüchtigen nach. Lange schwammen sie auf der Flut des Ozeans umher, ohne die Küste eines befreundeten Landes zu erreichen. Der Bund der Herzen war nicht durch den Segen der Kirche geheiligt. Robert versuchte die Angst der Geliebten hinwegzuspotten, aber sie brach in Tränen aus und flehte mit den Tönen der Verzweiflung, Mitleid zu haben mit ihrer Qual. Vor ihr erschien in stets drohender Haltung die Gestalt ihres Vaters und nicht eher glaubte sie der Vergebung des Himmels würdig zu sein, bis sie zu seinen Füßen ihre Schuld gebüßt habe und von ihm entsündigt worden sei. Robert ward von ihren Klagen gerührt und versprach, die Insel aufzusuchen, wo der Vater wohnte. Ein günstiger Wind, der sich erhob, schien die Versöhnung beschleunigen zu wollen, und an einem Abend lag die Insel, vom Gold der Sonne bestrahlt, vor ihnen. Ein Boot ward bereitgehalten, und Elise fuhr dem Lande zu; sie wollte dem Zorn ihres Vaters zuerst allein begegnen. Kaum hatte ihr Fuß das Land betreten, als die Sonne niedertauchte und tiefe Nacht den weiten Ozean umhüllte. Ein wilder Sturm brach aus und gebot den Schiffen, auf ihrer Hut zu sein. Es gelang ihnen, den mächtig eindringenden Wogen, die hoch aus der Tiefe wuchsen und sich über das Schiff hinstürzten, Trotz zu bieten. Aber was waren die Schrecken der augenlosen Nacht gegen diejenigen, die der junge Morgen den Seefahrern brachte? Rings um sie brauste der Ozean in seiner wildesten Aufregung, und die Insel war verschwunden. Anfangs hielten sie es für eine Täuschung der Sinne, aber man überzeugte sich nur zu bald von der Wahrheit; die wilde Flut hatte nach und nach die Grundfesten der Insel untergraben und sie während der Nacht für immer in die Tiefe des Meeres versenkt. Wie sinnlos raste Robert durch das Schiff und konnte nur mit der größten Anstrengung von einem Selbstmord zurückgehalten werden. Er wütete gegen sich und seine Umgebung, und erst dann war Hoffnung, ihn zu beruhigen, als die Gewalt des Fiebers ihn zu Boden warf und seiner Tobsucht ein Ende setzte.

Das war die Geschichte des unglücklichen Kapitäns, der, in Tränen versunken, sich auf seinem Ruhebett umherwarf.

„Ein verdammtes Gespenst hat seinen Kopf berückt", brummte der alte Steuermann vor sich hin, der ganz allein auf dem Deck hin und her ging, denn die Brise hatte ganz aufgehört. Die Segel hingen schlaff am Mast, und die Pinne des Steuers war am Backbord festgebunden. Die Matrosen lagen schlafend im Schatten der Boote.

„Ich sage es nochmals, ein verdammtes Gespenst hat ihn bezaubert", brummte der Alte, „und jene Insel, wo er es gefunden, war kein wirkliches Eiland, sondern die irrende Insel, wowon sie in den Liedern singen, daß sie unstet durch den Ozean schwimmt und nur denen sichtbar wird, die ihre Königin verderben will. Fluch dieser Hexe, denn sie hat unseren Kapitän aus einem braven Seemann zu einem trübseligen Mannweib gemacht, das Verse girrt und sein Auge mit Tränen netzt."

Der Tag war unterdessen längst hinabgesunken in die Flut, und einzelne Sterne blitzten mit südlichem Feuer an der tiefblauen Himmelsdecke. Der Mond stieg aus den Wellen auf und hüllte das Meer in einen feenhaften Lichtmantel. Die Wunder des Ozeans tauchten auf. Strahlend in den sieben Farben des Regenbogens schwamm eine ganz Flotte der leichtbeschwingten men of war4 heran, geschaukelt von der Dünung des Meeres und sich badend im Mondlicht; jetzt rannten sie gegen den riesigen Rumpf eines Hais, der sich schlafend von den Wellen wiegen ließ, und sanken lautlos in die Tiefe hinab; plötzlich erschien ein großer Teil des Meeres mit Schlingpflanzen bedeckt; in diesem schwimmenden Wald ruhten die trägen Schildkröten und ließen sich forttragen der unbekannten Ferne zu. Weiter gen Westen ruderten zwei sprühende Delphine mit ihren farbenreichen Flossen durch die Flut, gleich leidenschaftlich erregten Jägern und ängstlich vor ihnen herfliehend, tauchte plötzlich eine Schar von fliegenden Fischen aus den Wogen auf, die feuchten Schwingen im Strahl des Mondes spiegelnd. Am äußersten Horizont erhoben sich einzelne Wellen, sie brachen mit dumpfem Geräusch auseinander und besäten das weite Meer mit Millionen blitzender Sterne, die in dem Moment des Entstehens auch wieder vergingen.

Das Auge des Steuermanns weilte mit finsterm Blick auf allen diesen Erscheinungen des Tropenmeeres; sein Verstand wollte die Wunder hinwegleugnen, aber seine Phantasie trug den Sieg davon; sie nahm die kalte Überlegung gefangen und rollte die seltsamen Erscheinungen der Geisterwelt vor ihm auf.

Da fuhr er plötzlich zusammen, als hätte ein Blitzstrahl, der aus heiterer Höhe herabfährt, ihn vernichtend berührt. Die Augen drängten sich fast aus ihren Höhlen und stierten in die Zaubernacht hinein. Er sah, wie in weiter Ferne sich eine bläuliche Masse aus dem Ozean hob und sich im Mondlicht badete; sie stieg immer höher und grenzte scharf gegen den klaren durchsichtigen Himmel. In demselben Augenblick, da diese neue Erscheinung den einzigen wachen Mann an Bord des Schiffes mit tausend Ängsten erfüllte, flog ein seliges Lächeln über das Gesicht des Kapitäns, und seine Arme breiteten sich weit aus; aber die Augen blieben geschlossen, nur im Traum hatte er sein Weib, seine Elise, wiedergefunden.

Kein Lüftchen kräuselte die weite Fläche des Meeres. Das Schiff lag wie angefesselt auf der Flut und dennoch nähere es sich mehr und mehr der Insel, die immer deutlicher aus der Nacht hervortrat. Plötzlich vernahm man ein lautes Krachen, als ob die Brigantine mit furchtbarer Eile auf den Strand jagte; sie bebte vom Kiel bis zum höchsten Topp. Der Kapitän erwachte nicht aus seinem tiefen Schlaf, der Steuermann lehnte an der Reling, das Auge auf die Insel gerichtet, außerstande sich zu bewegen. Aber die Mannschaft sprang auf und rieb sich schlaftrunken die Augen.

„Was ist das? Sind wir der Küste nahe und jagen wir unsere Brigantine auf den Strand?" riefen einzelne. „Albernes Zeug!" schrie der Bootsmann dazwischen; „das Schiff liegt wie angenagelt und hascht nach Brise. Ein Hai rannte mit dem Kopf gegen unseren Backbord. Das ist alles!"

Die Matrosen legten sich beruhigt wieder hin. Der Steuermann, vom Fieberfrost geschüttelt, nicht wagend, das Auge noch einmal auf die Zauberinsel zu richten, warf sich neben dem Lager des Kapitäns auf das Deck und schloß die Augen.

Aufs neue flammte der Morgen über das Meer hin, aber ein Schrei des Erstaunens begrüßte ihn aus allen Teilen des Schiffes. Vor ihnen lag eine Insel in allem Schmuck des tropischen Himmels, dieselbe, auf der Kapitän Robert seine Geliebte gefunden und wo er sie gelandet hatte, um die Vergebung ihres Vaters zu erflehen.

Kapitän Robert fuhr von seinem Lager auf, und als er die Insel vor sich sah, erschien ihm alles, was von dem Augenblick an vorgegangen war, als er seine Frau ans Land geschickt hatte, bis zu dem gegenwärtigen, nichts als ein langer wüster Traum.

„Unser Boot bleibt über Gebühr aus", rief er dem Steuermann zu. „Es könnte schon längst zurück sein. Die Nacht war lang genug zu einer Unterredung mit ihrem Vater."

„Mehr als lang", war die unwillkürliche Antwort.

„Boot über Bord!" befahl der Kapitän. „Am Ende macht der Alte noch Schwierigkeiten. Verdammt sei er!"

Die Leute machten sich sogleich ans Werk, der Steuermann aber flüsterte dem Kapitän zu: „Geht nicht! Es ist Hexenwerk!"

„Einfalt! Soll ich nicht mehr wissen, was gestern abend geschehen ist, oder bin ich am hellen Morgen betrunken?"

„Und das Fieber, das in Eurem Blute rast?"

„Fieber! Ja, wahrhaftig! Es träumte mir über Nacht, ich irrte auf der See umher und hatte heftiges Fieber. Sonderbar! Ihr müßt denselben Traum gehabt haben."

„Ihr träumtet nicht. Es war die Wahrheit!"

„Ha! ha! ha! Und jetzt auf einmal alles vorüber. Mein Kopf ist klar und hell, und meine Arme und Beine sind Eisen und Stahl! Bringt Eure Narreteien anderswo an und laßt mich nach meinem Weibe sehen."

„Dann begleite ich Euch."

„Und das Schiff bliebe ohne Aufsicht? Ihr bleibt an Bord und gebt wohl acht auf Wind und Wetter."

Er sprang ins Boot und es flog dem Lande zu. Deutlich sah der Steuermann, wie es hinter einen Felsvorsprung glitt und nicht wieder zum Vorschein kam. Der Kapitän wurde am Ufer sichtbar, doch nur für wenige Augenblicke. Kaum war er hinter einer blühenden Baumhecke verschwunden, als man bemerkte, daß die Distanz zwischen Insel und Schiff sich erweiterte.

Der Steuermann fuhr bestürzt zurück. Als wollte er seinen Augen nicht trauen, wandte er sie ab, aber als er zögernd wieder nach der Insel ausschaute, war diese noch weiter entfernt. Er schrie laut auf: „Seht Ihr den grauenvollen Spuk? Zum zweiten Male läuft diese Zauberinsel uns davon. Gebt acht, ob wir sie vielleicht wiedergewinnen können. - Mich dünkt, der Wind frischt auf! - Stellt euch zu Fall und Brassen!"

Die Segel lagen fest und unbeweglich an den Mast gedrückt. Der Steuermann löste die Pinne des Steuers und riß sie mit einem gewaltigen Stoß auf die entgegengesetzte Seite. Durch die plötzliche Aufregung im Wasser bewegte sich der Vorderteil des Schiffes seitwärts; dann aber lag es wieder wie angefesselt.

Die Insel war indessen aus dem Gesichtskreis der entsetzten Schiffsmannschaft gerückt. Als die Sonne unterging, war sie völlig verschwunden. Die Brigantine schwebte zwischen Himmel und Wasser; kein Lüftchen kühlte die sengende Glut der Sonne. Seit dem Verschwinden des Kapitäns war geraume Zeit verstrichen, und die Verhältnisse hatten sich auf eine grauenvolle Weise geändert.

An Bord herrschte Mangel, und jeder suchte die armseligen Reste für sich zu erbeuten. Es war ein steter Kampf in den unteren Räumen und auf dem Deck. Bereits war Blut geflossen und die Mörder jauchzten auf, wenn einer unter ihren Messern fiel, denn nun reichte der Vorrat länger.

Der Steuermann hatte die Vorderdecks-Offiziere zu sich gerufen. Er wollte sie anreden, aber die Kraft mangelte ihm, und er deutete nur auf seine weißen Locken. Der Bootsmann sah ihn mit seinen dunkelglühenden Augen an, in denen die Wut des Tigers lauerte, und der Zimmermann lächelte, abwesenden Geistes, vor sich hin, mit seinen abgemagerten Fingern die Schärfe der Axt prüfend.

„Einen Schlag auf den Kopf dieses Graubarts!" sagte der Bootsmann zu seinem wohlbewaffneten Genossen, „dann sind wir ein unerträgliches Großmaul los und können unseren Durst mit seinem Blut löschen."

Der Zimmermann starrte ihn an, als hätte er ihn nicht verstanden, dann aber lachte er laut, sprang auf, und getroffen von der scharfen Axt lag der Bootsmann leblos am Boden.

„Was hast du getan, Gottfried?" schrie der Steuermann auf; aber mit diesen Worten brach seine Kraft; er sank auf das Deck nieder und murmelte in längeren Zwischenräumen vor sich hin: „Der Teufel ist wach und holt sich die Seelen der sündigen Menschen. Er hat unsern Kapitän geholt, weil er einem redlichen Manne seine schuldlose Tochter stahl; er wird uns holen, weil wir Hand an unsere Brüder legen und unser Deck mit ihrem Blut färben. Komm bald, Teufel, damit der unnatürliche Kampf hier unten ende."

Eine laute Bewegung durchzitterte das Schiff. Hoch auf dem Spill stand der wahnsinnige Zimmermann, die Axt um den Kopf schwingend, und schrie: „Land! Land!"

„Wo? wo?" riefen die Matrosen von allen Seiten, sich mühsam zu ihm hinschleppend.

Er deutete in die unabsehbare Ferne: „Da liegts! Gerade vor dem Bugspriet. Gebt mir eine starke Trosse! Ich will damit ans Land schwimmen und sie an den nächsten Baum festknüpfen, wir können uns dann leicht hinziehen. Seht da, drei frische Quellen und ein grüner Baum! Da steht auch der Bootsmann! Er hält den abgeschlagenen Kopf unter dem Arm und winkt mir! Wer schwimmt mit?"

Er machte einen Satz vom Spill nach dem Bugspriet und sprang mit hochgeschwungener Axt über Bord. In der nächsten Minute tauchte er wieder aus der Salzflut auf, in der folgenden ward er das Opfer eines Hais.

Eine dumpfe Stille herrschte nach diesem furchtbaren Ereignis; aber nicht lange darauf tönte abermals der Ruf: „Land!"

Diesmal wußte keiner, wer gerufen hatte. Der Ton schien von einer übermenschlichen Stimme aus der Luft zu kommen und dem schwarzen Vogel anzugehören, der mit rauschendem Flügelschlag die Spitzen der Masten umkreiste. Aber aus den Fluten tauchte zum dritten Male die Insel vor den Blicken der Seeleute auf und kam der Brigantine mit fliegender Hast näher.

„Land! Land! Land!" tönte es jetzt aus allen Teilen des Schiffes zugleich. Der Steuermann hatte sich aufgerichtet und starrte die spukhafte Erscheinung an. „Endlich! Erlösung!" flüsterte er, und die Knie brachen ihm zusammen.

Die Leute achteten nicht auf die Todesstunde ihres letzten Offiziers; sie standen dicht gedrängt auf der Back, denn jeder wollte der erste sein, der das Land vom Schiff aus springend erreichte. Als sie endlich ganz im Schutz des Landes lagen, riefen sie ein heiseres Hurra und verschwanden hinter einem hohen Felsenvorsprung.

Weit ab von diesem Schauplatz des Entsetzens flog ein stolzer Dreimaster durch die Wellen. Ein munterer Knabe sprang vom Bugspriet nach dem Quarterdeck und schmiegte sich an den Kapitän: „Lieber Vater! Jakob hat mir schon wieder ein schönes Märchen erzählt."

„Der Träumer! Er erzählt so lange von Gespenstern, bis er selbst ein Gespenst wird. Sollst nicht darauf hören."

„Es ist aber doch gar so hübsch und vor allem heute das von der fliehenden Insel."

„Was ist das für eine Insel, die auf keiner Karte verzeichnet ist?"

„Sie ist nirgends und überall. Ein mächtiger Zauberer wohnt darauf; für die redlichen Seefahrer hüllt er sie in einen Nebel, wo aber böse Menschen an Bord sind, da schwimmt er mit seiner Insel heran, und es hilft nichts, sie müssen zu ihm kommen. Wenn sie nun aber das Land betreten und meinen, zwischen Gras und Blumen umher zu gehen, versinken sie plötzlich in einen höllischen Pfuhl und müssen sterben."

„Ein Schiff! Ein Schiff!" rief es vom Udkiek her. In der Tat erblickte man eine Brigantine auf den Wogen schwanken, die sich aber kaum noch über Wasser zu halten vermochte; die furchtbarste Zerstörung hatte dort gehaust, und kein lebendes Wesen war an Bord. Der Knabe war wieder zu seinem Freund Jakob gegangen. Dieser, ein bleicher Jüngling, mit einer edlen Stirn und hellfunkelnden Augen, sah fest auf die Brigantine und sagte: „Die Unglücklichen haben die fliehende Insel betreten. Gott sei ihrer Seele gnädig."

„Woher weißt du das?"

„Siehst du nicht die langen grünen Fäden, die sich rund um seine Wasserlinie gesetzt haben? Das ist das Gras, das auf jener unglücklichen Insel abgemäht ist. Bete für die Unglücklichen, damit sich Gott ihrer erbarme."

Der Knabe faltete gehorsam die Hände und sprach ein Gebet. In demselben Augenblick briste der Wind frischer auf, und die Brigantine ward von den Fluten verschlungen.


Quelle: Heinrich Smidt, Seemanns-Sagen und Schiffer-Märchen, zweite vollständige Ausgabe 1849