DAS LEUCHTEN DES MEERES

Wenn das eilende Schiff jenseits der Kanarischen Inseln steuert und bei einbrechender Nacht die Wellen durchschneidet, pflegt es zu geschehen, daß es plötzlich stillsteht und mehrere Augenblicke lang weder vor- noch rückwärts geht. Der Schiffer sagt dann gewöhnlich: „Die Windstille des Ostpassats ist im Anzüge", aber in Wahrheit schreckt das Fahrzeug vor der unermeßlichen Wasserwüste, die ihm entgegengähnt, zurück. Doch schnell faßt der günstige Wind in den Bauch seiner Segel und peitscht es fort auf die endlose Bahn. Dann fahren die Wogen zu beiden Seiten auseinander, es glänzt wie tausend und abertausend Sterne, und der Schimmer der reichen Perlenflut des Meeres scheint des Sternenschimmers im ewigen Blau zu spotten. Mit forschendem Auge folgt der Kenner der Natur dieser Erscheinung und nennt die funkelnden Sterne Tierchen, die einen so seltsamen Glanz von sich ausströmen, oder beweist in einer gelehrten Abhandlung, daß es Salzteile sind, die diesen hellen Schein verursachen. Der alte Willy aber, der nun bereits mehr als vierzigmal über den Äquator hinaussegelte und jetzt mit klugem Blick vom Steuer aus über die glitzernde Fläche schaut, weiß es besser, und erzählt von dem Leuchten des Meeres allen, die es hören wollen, folgende wunderbare, aber höchst wahrhafte Geschichte:

Es ist lange Zeit her, weit früher als der eilende Kiel irgendeines kühnen Seemanns in diese Gewässer kam, daß die Dinge ringsumher eine ganz andere Gestalt hatten als heute. Jetzt heben sich am äußersten Horizont die Wellen gleich stattlichen Hügeln empor und stürzen gleich darauf in sich zusammen. Das geschah damals nicht. Sie standen vielmehr unbeweglich und waren nichts anderes als wunderliche Inseln, die aus dem weiten Ozean auftauchten, und mit ihrem lieblichen zarten Grün das Auge des Schauenden erfreuten. In einem weiten Halbkreis standen sie in unabsehbarer Reihe nebeneinander. Da fand sich Überfluß an schönen Früchten und lieblich duftenden Blumen; die Bäume neigten ihre Zweige zur Erde und bildeten schattige Lauben. Weiter bedurften die genügsamen Menschen, die diese glücklichen Inseln bewohnten, nichts; sie lebten in stiller Zufriedenheit miteinander, ohne Wunsch und ohne Sehnsucht, als ob ihre Inseln das einzige Reich der Welt wären und es kein anderes Glück gäbe, als Früchte zu essen und lustig in den Tag hinein zu springen. Eine gütige Fee beherrschte diese Unschuldswelt mit der zarten Sorgfalt, daß keinem ihrer Untertanen Kunde werde von dem, was jenseits der glückseligen Inseln vorgehe.

Unfern von diesem Erdenparadies erhob sich eine finstere Ge-birgsmasse, dem Auge des Sterblichen nicht sichtbar, denn die wohltätige Fee hatte sie mit einem dichten Nebelschleier verhüllt. Hier herrschte ein böser Zauberer, ein natürlicher Sohn des Neides und der Mißgunst, der das Glück jener Insulaner mit verbissenem Grimm anschaute und sie gern dem Verderben geopfert hätte. Aber die Fee, die die Absichten ihres bösen Nachbarn nur zu gut erriet, machte durch einen mächtigen Talisman alle seine bösen Anschläge wirkungslos. Darüber erboste sich jener arglistige Zauberer sehr, verließ in dunkler Nacht sein Gebirge und erregte einen furchtbaren Sturm, der das Meer in eine solche Bewegung brachte, daß die Wellen sich wolkenhoch türmten und dann auf die grünenden Inseln herabstürzten. Die Fee jedoch tauchte aus den Wogen auf und sah die tobenden Elemente mit einem so mild bittenden Blick an, daß deren Zorn sich legte und sie ruhig vorüberzogen. Nun warf der böse Zauberer einen schwarzen Mantel um seine Schultern und nahm seinen Flug nach Spaniens Bergen. Dort, in der Mitte seiner Genossen, hielt er langen Rat und kehrte dann nicht wieder nach seinem Wohnsitz zurück, der immer unscheinbarer ward und endlich spurlos in die Tiefe des Meeres sank. Darüber freute die gute Fee sich sehr; sie glaubte sich von ihrem bösen Gegner gänzlich befreit und ward sorgloser als bisher. Aber zu ihrem eigenen Verderben.

Eine lange Zeit war seit jener fürchterlichen Nacht verstrichen. Die Fee befand sich auf Reisen, um mehrere ihrer geliebten Schwestern im Orient zu besuchen und ihnen mit Rat und Tat beizustehen. Da sah man die Bewohner der grünen Eilande eines Morgens verwundert auf eine stattliche Insel blicken, die über Nacht aus der See hervorgewachsen war. Sie erschien bedeutend größer als die übrigen; das Grün, das sie bedeckte, war blendender und mit vielen ändern schönen Farben untermischt, die sich gar lieblich in der Morgensonne spiegelten. Lange staunten die Insulaner diese Erscheinung an, endlich aber berieten sie sich, bestiegen ihre Boote und ruderten dem neu entstandenen Eiland zu.

Kaum hatten sie ihr Unternehmen begonnen, als ein schwarzer Vogel - man konnte kaum sehen, woher er so schnell kam - in die Luft stieg und mit seinen weitausgebreiteten Flügeln die ganze Gegend verfinsterte. Dies böse Zeichen hätte sie warnen sollen, aber sie gaben nichts darauf und landeten an der unbekannten Insel. Je tiefer sie m das Land hineingingen, desto weiter dehnte es sich vor ihnen aus, so daß sie schon die Besorgnis hegten, sie würden den Ort, wo sie gelandet waren, nicht wiederfinden. Mehrere von ihnen rieten bereits zur Umkehr, als sie einen Mann, auf dem Rasen sitzend, gewahrten, ganz so geformt wie sie, nur daß er weit größer war als einer von ihnen. Der Mann rief den Ankommenden mit dem freundlichsten Lächeln ein Willkommen zu und bat sie, neben ihm auf dem Rasen Platz zu nehmen.

„Ich wollte euch wohl von den Früchten, die meine Insel hervorbringen mag, einige zur Erquickung anbieten", sprach er schlau, „aber ich weiß nicht, wie es damit aussieht, denn ich kümmere mich nicht darum. Ich bedarf dieser Nahrung nicht, da mir etwas viel Besseres bleibt, als jene Früchte, deren Genuß ja auch jedem Tier freisteht."

Mit diesen Worten griff er vor sich in den Rasen hinein und brachte eine Menge glänzender Dinge hervor, mit denen er spielte und um sich warf. Die Insulaner blickten erstaunt darauf und konnten sich nicht genug verwundern über das, was sie sahen. Der Mann aber lachte über sie und forderte sie auf, ein gleiches Spiel zu versuchen. Da griffen alle Hände in den Rasen hinein und brachten von dem glänzenden Schmuck so viel zum Vorschein, wie sie nur zu fassen vermochten, und bald leuchtete die Ebene, daß es schien, als habe die Sonne sich auf sie herabgestürzt. Als nun die Insulaner sich noch immer über diese Herrlichkeiten wunderten und darüber Essen und Trinken vergaßen, sprach der Mann mit verweisendem Ton: „Ihr Toren! Warum gehorcht ihr den Befehlen einer geizigen Frau, die euch jene Herrlichkeiten nicht gönnt, sondern sie lieber für sich behalten will? Warum krabbelt ihr auf der Oberfläche eurer Insel umher und dringt nicht in die Geheimnisse eurer Berge, die ebensolche Reichtümer verschließen wie die meinigen? Ihr seid ein jämmerliches Volk, das ich verachte. Geht! Eure Gegenwart stört mich."

Damit wandte er ihnen den Rücken zu, und die Insulaner, die sich im Nu in ihre Boote versetzt sahen, schifften wortkarg, aber gedankenvoll, zu ihren Inseln zurück. Stumm gingen sie in der alten Heimat nebeneinander her, nichts machte ihnen mehr Freude und tagelang starrten sie nach jener Insel, wo sie alle den fremden Mann zu erblicken blaubten, wie er mit den unterirdischen Schätzen spielte. Endlich wagte es einer von ihnen, das seltsame Spiel des Fremden in seiner Heimat zu beginnen; er warf sich auf den Rasen, wühlte ihn auf und brachte mit einem Freudenschrei Hände voll jenes glänzenden Spielwerks hervor. Die übrigen machten es ihm nach und in kurzer Zeit waren die lieblichen grünen Hügel aufgewühlt, die Blumen wurden als unnütz weggeworfen, die Bäume gefällt und jeder suchte so viel Gold, Perlen und Edelsteine wie nur möglich zu erlangen. Mit diesen Schätzen aber hielt der Neid Einzug in ihre Herzen. Einer beneidete den anderen, jeder glaubte, er besitze noch lange nicht so viel wie sein Nachbar, während dieser mit gierigen Blicken nach den Genossen schielte.

Nun glaubten sie sich mit ihren Reichtümern in den Lauben, die die Natur ihnen erbaut hatte, nicht mehr sicher, und errichteten festere Wohnungen. Ein offener Krieg brach aus - und ein geheimer, denn, wem es nicht gelingen wollte, sich fremder Schätze mit Gewalt zu bemächtigen, der versuchte es durch List oder Betrug und ruhte nicht eher, bis er sein Vorhaben ausgeführt hatte oder darüber zugrunde gegangen war.

Um diese Zeit kehrte die Fee von ihrer Fahrt aus dem Orient zurück und fuhr in ihrer Rosengondel, von vier silbernen Schwänen gezogen, über den Ozean. Als sie die neu aufgetauchte Insel entdeckte, erstaunte sie sehr, aber bald verwandelte sich ihr Erstaunen in Schrecken, denn ihr alter Erbfeind, der Zauberer, schwamm, auf einem Hai sitzend, heran und sagte höhnisch: „Nun wirst du sehen, ob ich in der Zeit deiner Abwesenheit die Wirtschaft gut bestellt habe und ob ich hoffen darf, daß du mit meiner Aussaat zufrieden bist. Sie ist bereits zum Verwundern gut aufgegangen, und ich wünsche nur, daß ihre Früchte dir so wohl bekommen mögen wie deinen lieben Kindlein." Und als er das gesagt hatte, lachte er laut auf und versank samt seiner Insel in der Tiefe.

Außer sich vor Schmerz begab sich die Fee zu ihren geliebten Inseln, sah die Zerstörung und rief ihre Untertanen zusammen, die sehr säumig waren, weil sie sich von ihren eingebildeten Schätzen nicht zu trennen vermochten, um die Befehle ihrer Gebieterin zu hören. Diese hielt ihnen ihr Unrecht mit bewegter Stimme vor, und wollte sie auf die Bahn weiser Mäßigung zurückführen. Aber sie hatten für diese Ermahnungen ein lässiges Ohr, sie trotzten ihrer Wohltäterin und machten ihr Vorwürfe, daß sie ihnen das Geheimnis der Berge bisher verborgen habe, nur um ihrer eigenen Habsucht zu frönen. Das aber solle ihr nicht mehr gelingen. Außerdem brauchten sie sie ferner nicht; sie wollten von dieser Stunde an nach ihrer eigenen Neigung leben. Da beschloß die Fee, die Verwegenen zu bestrafen, und sagte mit großem Ernst: „Ihr Undankbaren habt es verscherzt, daß ich euch weiter beschütze. Ihr habt euch euer Schicksal selbst geschaffen: ich verlasse euch. Aber die Schätze der Finsternis gehören nicht dem Sonnenlicht. Darum mögen sie versinken in die Nacht des Meeres, und da euch so sehr nach ihnen gelüstet, so folget ihnen nach."

Kaum hatte sie dies gesprochen, als alle Edelsteine, alle Perlen und alles Gold hinabrollten in die Tiefe des Meeres. Die Insulaner aber sahen den entschwundenen Schätzen mit stieren Blicken nach und stürzten sich mit lautem Geschrei in die Flut.

Da warf die Fee, überwältigt vom tiefen Schmerz, den Talisman, wodurch sie diese glücklichen Inseln bisher beherrschte, weit von sich und entschwebte in der Gestalt einer Taube zum Himmel. Die Hügel aber sanken in sich zusammen und mischten sich mit den Wellen, die Rosengondel und die Silberschwäne bedeckend. Die Insulaner raffen gierig die versunkenen Schätze auf dem Boden des Meeres zusammen, und wenn sie sich genugsam beladen, streben sie nach dem Sonnenlicht. Aber den festen Boden vermissend, lassen sie die schimmernde Last fallen und tauchen aufs neue bis auf den Grund, das trügerische Spiel zu wiederholen.

Das ist das Leuchten des Meeres.


Quelle: Heinrich Smidt, Seemanns-Sagen und Schiffer-Märchen, zweite vollständige Ausgabe 1849