DIE WASSERNIXE
"Nixe"
Zeichnung von Alrun Lunger zur Verfügung gestellt
Ein Brüderchen und ein Schwesterchen spielten an einem Brunnen, und
wie sie so spielten, plumpsten sie beide hinein. Da war unten eine Wassernixe,
die sprach 'jezt habe ich euch, jetzt sollt ihr mir brav arbeiten,' und
führte sie mit sich fort. Dem Mädchen gab sie verwirrten garstigen
Flachs zu spinnen, und es mußte Wasser in ein hohles Faß schleppen,
der Junge aber sollte einen Baum mit einer stumpfen Axt hauen, und nichts
zu essen bekamen sie als steinharte Klöße. Da wurden zuletzt
die Kinder so ungeduldig, daß sie warteten, bis eines Sonntags die
Nixe in der Kirche war, da entflohen sie. Und als die Kirche vorbei war,
sah die Nixe, daß die Vögel ausgeflogen waren, und setzte ihnen
mit großen Sprüngen nach. Die Kinder erblickten sie aber von
weitem, und das Mädchen warf eine Bürste hinter sich, das gab
einen großen Bürstenberg mit tausend und tausend Stacheln,
über den die Nixe mit großer Müh klettern mußte;
endlich aber kam sie doch hinüber. Wie das die Kinder sahen, warf
der Knabe einen Kamm hinter sich, das gab einen großen Kammberg
mit tausendmal tausend Zinken, aber die Nixe wußte sich daran festzuhalten
und kam zuletzt doch drüber. Da warf das Mädchen einen Spiegel
hinterwärts, welches einen Spiegelberg gab, der war so glatt, so
glatt, daß sie unmöglich darüber konnte. Da dachte sie
'ich will geschwind nach Haus gehen und meine Axt holen und den Spiegelberg
entzweihauen.' Bis sie aber wiederkam und das Glas aufgehauen hatte, waren
die Kinder längst weit entflohen, und die Wassernixe mußte
sich wieder in ihren Brunnen trollen.
Quelle: Kinder- und Hausmärchen, Jacob Grimm, Wilhelm Grimm (Brüder Grimm), 1812-15, KHM 79