GESCHICHTE VOM NUßKNACKER

Zwei Knaben hatten im Walde Haselnüsse gepflückt, saßen unter den Stauden und wollten dieselben essen; aber keiner hatte sein Messerlein bei sich, und mit den Zähnen konnten sie dieselben nicht aufbeißen. Da jammerten sie sehr und sagten: »Ach, käme doch nur jemand, der uns unsere Nüsse aufknacken wollte!« Kaum gesagt, so kam ein kleines Männlein durch den Wald einhergegangen. Aber wie sah das Männlein aus? Es hatte einen großen, großen Kopf, an dem ein langer, steifer Zopf bis an die Fersen herabhing, eine goldene Mütze, ein rotes Kleid und gelbe Höslein. Indem es nun so einhertrippelte, brummte es das Lied:

»Heiß, heiß-beiß, beiß;
Geh' gern in den grünen Wald,
Wenn die Nuß vom Strauche fallt;
Mach's dem lustigen Eichhorn nach,
Knack' und nag' den ganzen Tag!«


Die Knaben wollten sich schier zu Tode lachen über den kleinen drolligen Burschen, den sie für ein Waldzwerglein hielten. Sie riefen ihm zu: »Wenn du Nüsse knacken willst, so komm' her und knacke uns diese auf, damit wir sie essen können!« Da brummte das Männlein in seinen langen, weißen Bart:

»Hänschen heiß' ich — Nüsse beiß' ich;
Hab' ich aber mich beflissen, euch ein Dutzend angebissen,
gebt mir zum Lohn ein paar davon!«


»Ja, ja!« schrien die Buben, »du kannst mitessen, knacke nur fleißig auf.« Das Männlein stellte sich zu ihnen hin, denn am Sitzen hinderte es sein Zopf, und sprach:

»Hebt auf den langen Zopf,
Schiebt die Nuß in meinen Kröpf,
Drückt nieder, eins, zwei, drei!
Schnell ist jede Nuß entzwei.«


Also taten sie, und hörten das Lachen nicht auf, wenn sie den Kleinen immer beim Zopfe nehmen mußten und nach jedem tüchtigen Knack die Nuß aus dem Maule sprang. Bald waren alle Nüsse aufgebissen, und das Männlein brummte:

»Heiß, heiß - beiß, beiß;
Will meinen Lohn nun auch davon!«


Der eine der Knaben wollte nun dem Männlein den versprochenen Lohn spenden, der andere aber, ein böser Bube, hinderte ihn daran, indem er sprach: »Warum willst du dem Bürschlein von unsern Nüssen geben? Wir wollen sie allein essen. Geh' nur fort jetzt, Nußbeißer, und suche dir deine Nüsse selbst!«

Da ward das Nußbeißerlein gewaltig erzürnt und brummte:

»Gibst du mir keine Nuß,
So machst du mir Verdruß;
Ich nehme dich beim Schopf
Und beiß' dir ab den Kopf!«


Da lachte der böse Bube und sagte: »Du mir den Kopf abbeißen? Mache lieber, daß du fortkommst, sonst laß ich dich mein Haselnußstaudengertlein fühlen!« Zugleich drohte er mit seinem Stöcklein. Der Nußknacker wurde ganz rot vor Zorn, hob sich mit einem Händchen den Zopf auf, schnappte dann wie ein Fisch im Wasser, und knack! der Kopf war weg.

Das ist die Geschichte von dem ersten Nußknacker. Habt wohl acht, Kinder, daß euch die Köpfe oder wenigstens die Fingerlein nicht abgebissen werden; denn wie ihr Urahnherr, so machen auch die Enkel und Urenkel des Nußknackergeschlechts mit bösen Kindern nicht viel Federlesens!


Quelle: Märchen für die lieben Kinder, Berlin, um 1900