SELBST GERICHTET

VON GEORG OPPERER

Grenzbote 1925

Gegen Ende der 80er Jahre des vorigen Jahrhundert erregte in der Gegend um Kitzbühel ein Selbstmord auf den Schienen ein großes Aufsehen. Der Leichnam des Selbstmörders war bis zur Unkenntlichkeit entstellt, aber an den Kleidern konnte dessen Persönlichkeit festgestellt werden. Es war der weitum bekannte Roßhändler Wegstaller. Er pflegte stets eine hirschlederne Hose zu tragen, ein Samtleibl mit schweren silbernen Knöpfen, darüber je nach Jahreszeit einen leichten oder schweren Janker, als Fußkleidung, bis an die Knie reichende Stiefel, die er über die Hose anzog. Diese Stiefel standen neben der Unfallstelle nächst dem Bahnkörper. In einem derselben befand sich ein Brief an den Seelsorger einer kleinen Gemeinde im Unterland.
Der Inhalt des Briefes veranlaßte den geistlichen Herrn, an den er gerichtet war, die Hochzeit eines bereits zum zweitenmal verkündeten Brautpaares, obwohl der Bräutigam aus einem anderen Kirchensprengel war, zu sistieren. Es fand diese Hochzeit auch später nicht mehr statt.

Daß Wegstallers tragischer Tod mit der Einstellung der Hochzeit dieses Brautpaares in Zusammenhang stand, ahnte vorläufig niemand. Es wußten nur die Betroffenen davon. Um draufzukommen, muß ich die Leser um zwanzig und etliche Jahre vom Zeitpunkt der anfangs geschilderten Ereignisse zurückführen.

Wie schon erwähnt, war der Wegstaller ein Roßhändler. Er besuchte die Märkte Tirols und in Salzburg. Sein Hauptaugenmerk richtete er darauf, schöne Pferdepaare zusammenzukaufen, die er an Herrschaften, Gutsbesitzer und Brauereien lieferte und dabei gute Geschäfte machte. An einer, von den geschlossenen Ortschaften zwischen Söll und St.Johann abseits gelegene Stelle besaß er ein einfaches Haus. Darin hatte er einen Slowaken einquartiert, einen ehemaligen Dragoner Wachtmeister, der ihm die ab und zu dort eingestellte Pferde betreute. Wegstaller selbst, der ledig war und sich fast immer auf Reisen befand, hatte dort für sich eine schöne Wohnung als Absteigequartier eingerichtet.

An einem Pfingstmontag fuhr er in einer von zwei prächtigen Fuchsen gezogenen Kutsche von Wörgl gegen Mühltal, wo er ein ihm bekanntes Bauernmädel einholte, das mit seinem Godenkind von Wörgl her, wo Firmung
war, heimwärts ging. Es war die Bauerntochter Liesel vom Rom am Eck.

Wegstaller hielt an und lud die beiden zum Aufsitzen ein. Die Liesl sagte nicht zu. Wegstaller stand als Mädchen und Frauenjäger im üblen Ruf. Sie wollte keine Gefälligkeit von ihm annehmen, aber ihre God, die schon sehr müde war, bat aufsitzen zu dürfen. So nahm die Liesel denn des Kindes wegen im Gefährte Wegstallers Platz und im scharfen Trab ging es Ellmau zu. Dort kehrte die Gesellschaft ein und Wegstaller tat als Gastgeber alles, womit er das Zutrauen Liesls zu gewinnen hoffte. Auch ihrem Firmkind gegenüber. Liesl
zeigte sich angesichts der Glückseligkeit ihrer Godl über die lustige Fahrt und das gute Essen gut gelaunt. Als die Fahrt fortgesetzt wurde, versprach Wegstaller, die zwei bis vor die Haustüre beim Rom zu führen, hielt aber unterwegs bei seinem Haus und lud die beiden daselbst zu einer kurzen Rast ein. Wegstaller wußte es so einzurichten, daß ihm die Liesl während des Aufenthaltes in seiner Wohnung zu Willen war oder zu Willen sein mußte.

Erst dann brachte er sie heim. Die Folgen dieses Abenteuers, von denen ihn die Liesl mit stillen und lauten Vorwürfen verständigte, waren dem Wegstaller peinlich. Mit Geld, auch mit viel Geld, womit er sich in vielen
Fällen aus der Schlinge zog, ließ sich Liesl nicht beschwichtigen. Ihr Kind mußte einen Vater haben.

Da schickte er, als Liesl eben Tag für Tag der schweren Stunde entgegen sah, seinen Slowaken zu ihr, um alles für ihn auf die Karte zu setzen, und dieser trat unvermittelt an die Liesl heran und fragte sie, ob wirklich sein Herr, der Wegstaller, ihr Kindesvater sei. Als sie kurzerhand dies zugab, fing er an jammernd sowohl sie als das erwartende Kind zu bedauern. Um Aufklärung darüber gefragt, gestand er Liesl unter dem Siegl der Verschwiegenheit, daß Wegstaller erstens voller Schulden und übrigens eines Mordes verdächtigt sei, der vor langer Zeit auf dem Paß Thurn geschehen ist und deswegen er keinen Tag vor dem Einziehen sicher sei. Sie soll ja nicht den Wegstaller als Vater einschreiben lassen, den früher oder später würde die Geschichte
an den Tag kommen und ihr Kind sei dann das Kind eines Mörders - und jammernd entfernte sich der Slowake. Die Mitteilung, die vollkommen aus der Luft gegriffen, vom Wegstaller selbst dem Slowaken auszurichten aufgetragen wurde, war bei der Liesl von so niederschmetternder Wirkung, daß sie ins Bett kam und einige Stunden nachdem sie einem Knaben das Leben gegeben, einem heftigen Fieber erlag. Wegstaller hatte damit erreicht, daß er nicht als Kindsvater namhaft gemacht wurde. Über die Folgen seiner Gewalttat machte er sich im Drange der Geschäfte nichts daraus.

Wieder ein paar Jahre später zog im Gasthaus "Zum Weg" in einer der größten Ortschaften des Unterlandes eine Witwe als Besitzerin auf. Deren Tochter namens Martha, ein sauberes, freundliches Mädl im Alter von 19 Jahren, bediente die Gäste und wurde bald bekannt und beliebt. Ihr eifrigster Verehrer war der Wegstaller, und auch hier wieder mit Erfolg. Die Wirtin selbst sah den angesehenen Mann in ihrem Hause gern verkehren und hatte damit unbewußt dem Verhältnis ihrer Tochter zum Wegstaller Vorschub geleistet. Diesmal schien es aber Wegstaller ernst zu meinen. Er drängte aufs Heiraten, bevor der Zustand Marthas offenbar würde. Martha hatte aber inzwischen Wegstallers Wesen kennen gelernt und schämte sie sich darüber, daß neben so und so vielen anderen Mädeln und Frauen auch sie ihm zum Opfer gefallen sei. Sie wandte sich von ihm ab. Alles Zureden, auch von Seite der Mutter half nichts. Dem Wegstaller sagte sie es in das Gesicht, daß sie
niemals gelten lassen werde, daß er der Vater ihres Kindes sei, damit es sich nicht auch wie sie selbst, seiner schämen müsse. Hier stieß Wegstaller zum erstenmal auf Widerstand und diese Niederlage wirkte sichtlich auf sein Gemüt. Um so mehr, als es ihn nun bitter zu reuen begann, daß er der Rom - Liesl, die ihn gern genommen hätte, ein so schweres Schicksal bereitete, daß ihren Tod herbeiführte. Wegstaller war von da ab nicht mehr der protzige Mann. Er ging gedrückt und düsterer Stimmung seinem Handel nach.

Zwanzig Jahre später saß die ledig gebliebene Martha auf dem Wirthaus "Zum Weg" als Wirtin. Ihre Mutter war nicht mehr am Leben. Ihre Tochter Leni, der Sie, auch sonst niemanden, den Vater genannt hatte, bediente nun die Gäste.

Der Ziehsohn von Rom, Liesls Sohn, von dem ebenfalls niemand wußte, daß der Wegscheider sein Vater sei, galt als Lenis Bräutigam. Es sah aus, als ob aus den zwei jungen Leuten, die vaterseits Geschwister waren, ein Ehepaar werden sollte, denn auf Kirchweih wollten sie Hochzeit machen.

Dem Wegstaller war das bekannt und er mag einen schweren Kampf mit sich durchgemacht haben, bis er sich entschloß, sich selbst das Leben zu nehmen, um sich durch ein Geständnis über die Herkunft der Brautleute vor diesen nicht erniedrigen zu müssen. Im Brief an den Seelsorger von R -, den er in seinem Stiefel hinterlegt hatte, war es enthalten.

Und nun wissen wir es: die Leni vom Weg und der Rom-Toni konnten nicht heiraten, weil sie Geschwister waren.

Quelle: Georg Opperer in "Der Grenzbote", 1925
von Gottfried Opperer freundlicherweise am 7. Jänner 2004 per Email zur Verfügung gestellt