DER SCHUSTER JAGG

VON GEORG OPPERER

in: Grenzbote 1920


In Ortschaften, die fern von einer der Kultur gelegentlicher beeinflußten Umwelt liegen, vermochten einst Bewohner dem Zeitgeiste nur langsam zu folgen. Sitten und Bräuche, die heute noch als ortsweise eigenartig
beobachtet werden können, sprechen für die ausschließlich lokale Entwicklung des geistigen und gesellschaftlichen Lebens in den einzelnen Orten, was mit der einstigen völligen Abgeschlossenheit begründet erscheint. Trotzdem waren die Menschen daselbst durchaus nicht über einen Leisten geschlagen. Es gab
vielmehr mehrere von einander abweichende Typen, sonderbare Käuze, deren Eigenart, an den schablonenhaft abgestuften Durchschnittscharakteren der Jetztzeit gemessen, nur die Ältesten unter uns gewahr werden können.

Da waren gesellschaftlich obenan die streng Konservativen, die bei aller Ehrlichkeit und Rechtschaffenheit den politisch-freiheitlichen Errungschaften des 48er Jahres und den darauf folgenden Reformgesetzen,
insbesondere der Neuschule und der Gewerbefreiheit keinen Geschmack abzugewinnen vermochten; dann die politisch Unbefriedigten, die die Hand im Sacke geballt sich stets auf Kriegspfaden befanden; wieder andere, die in stummer Ergebenheit sich selbst und der gerade führenden Clique zu genügen trachten, und wieder andere, die ob der gespreizten Gesellschaftsverhältnisse der Hafer stach und es sich als Lebensaufgabe
anrechneten, ab und zu über den Strang zu hauen. Zu diesen letzteren harmlosen Ränkeschmieden, die übrigens - beispielsweise in Hopfgarten - für die Geselligkeit unter den Dickblütern den Auftakt gaben, zählte als Letzter seines Schlages der Drahbichlerbäck. Von diesem und dem Schuster Jagg, einem Konservativen reinsten Wassers, soll hier die Rede sein.

In ihrem Wesen waren die Beiden grundverschieden veranlagt. Während der Drahbichlerbäck dem Leben die besten Zeiten abzugewinnen verstand und immer guter Laune, übte der Schuster-Jagg im Zur-Schau-tragen einer Souveränen Würde. Man muß ihn selbst gekannt haben, um die Schilderung seines Charakters nicht für übertrieben zu halten.

Schuster Jagg, Jakob Kronbichler, Neuhausschuster 1884 - 1887

Jakob Kronbichler, Neuhausschuster
1884 - 1887

Schuster - Jagg war immer in Pose: im Geschäft, bei der Marktmusik, wo er die große Trommel schlug, im Kirchenchor als Baßsänger, sowie in Gesellschaft bei seinem „Viertela“ ( Jagg sagt nicht „Viaschtä“, wie die
anderen gewöhnlichen Hopfgoschta). Er ver-einigte neben den besten Tugenden eines Handwerkers den Ruf einer gewissen Bildung in sich, was ihm unwillkürlich einen gewissen Nimbus schuf. Und noch etwas besonderes hatte der Schuster-Jagg für sich: er trug sein Gesicht glattrasiert, was damals sehr viel hieß, wenn man bedenkt, daß er sein Gesicht wöchentlich zweimal dem Messer des Barbierers auslieferte, der den Bart förmlich auszugraben pflegte, und wenn während des Bartscherens der Diskurs auf die Liberalen
kam oder der Barbier einen Ponzen seiner - sagen wir den Dr.Wackernell - verteidigen mußte, artete die Prozedur zu einem chirurgischen Akt aus. Um diesen Luxus brauchte ihn niemand zu beneiden. Aber die Tatsache, daß sich der Schuster-Jagg des Beispiels eines ehrsamen und tugendhaften Bürgers und
Ehemannes befleißigte und solcher galt, for-derte den Übermut der Querköpfe von der Art des Drahbichler-bäcks heraus und als dieser beim "Anfangen" in der Backstube wieder einmal allein war und der verspätet heimtorkelnde Gsöll, den Bäcken-Jörgl, der nach patriarchalischen Verhältnis in das Geschäft sozusagen eingebrieft war, ihm klagte, daß er "in die Polizei" gekommen, d.h. wegen Übertretung der Polizeistunde straffällig geworden sei, weil es der Rietzler, der Nachtwächter und Polizeimann, ausgerechnet auf ihn
abgesehen habe, "als ob insagoana gog nia unta dö Leut sein möcht" (der Bäcker-Jörgl pflegte in seiner Aussprache das schwierige "r" durch ein "g" zu ersetzen), reifte im Meister der Plan, den Schuster Jagg, der zur selben Zeit gerade den Bürgermeisterstuhl erklommen hatte, "in die Polizei" zu bringen und auf diese Art in dessen unentwegte Moral eine Bresche zu schießen. Während des Ausmachens der Wecken und Semmeln, wobei er in Berechnung der vormittägigen Jause, auf die er sehr viel hielt immer wieder ein Platzl wegzupfte - die Polizeistrafe, die Jörgl auf sich geladen, kam auf die Rechnung des Meisters, denn des Gsölln Einkommen vertrug eine derartige außerordentliche Auslage nicht, beriet der Drahbichlerbäck mit sich, wie er das angehen werde.

Der nächste Tag galt den Vorbereitungen zu Schuster-Jaggs, des Bürgermeisters, Sündenfall.

Der Unterbräu und der Paulwirt, zwei gleich im sanguinischen veranlagte Kampl, wurden vom Drahbichlerbäck zunächst in das Vertrauen gezogen. Weiters wurde noch der Kupferschmied gewonnen, der zwar allgemein, aber ganz fälschlich als Griesgram angesehen wurde, da er in Wirklichkeit den Schalk hinter den Ohren sitzen hatte, besonders wenn es eines anderen Fell zu gerben gab. (Selber verstand er allerdings keinen Spaß.) Daß der Bürgermeister auf normalen Wege nicht daranzukriegen sei, darüber waren sich alle einig. Man beschloß:

Die Taschenuhren der Beteiligten müssen am fraglichen Abend um 2 1/2 Stunden vorgerückt werden. Die Uhr im Gastzimmer müsse überhaupt stehen. Im „Stüberl “ (Herrenzimmer), müsse sich der Uhrmacher Hueber, der ebenfalls einzuweihen sei, unter den Herren Gesellen und einen Vorwand suchen, des Bürgermeisters
Uhr zum Vorrücken in die Hand zu bekommen. Die übrigen allfälligen Gäste im Stüberl hat der Wirt rechtzeitig von dem Zweck der Komödie zu unterrichten.

Noch am selben Abend kam der Schuster-Jagg auf ein Viertela zum Unterbräu.

Nach und nach sammelten sich die „Verschwörer“ um ihn. Der Schuster-Jagg wurde heut ausnahmsweise lebhaft ins Gespräch gezogen. Einer nach dem andern schlug neue Fragen auf, dies und jenes wurde unter lebhafter Wechselrede verhandelt, bis es schließlich zum „Aufwärmen“ alter Geschichten kam und
dadurch die Unterhaltung eine allgemeine wurde. Mitten drein ließ sich aus dem Stüberl die schnarrende Stimme Huebers hören: „Selm laßt's nur mir röd’n. I mach' all's mit der Hand. I brauch' koa Fabrikswar' !“ .
„Aha,“ sagte der Wirt, „den ham's aufzwickt“ .

Und der Hueber wettert weiter. „Der Unterbräu hätt a gern die Uhr, die im Gastzimmer ist, herrichten loss'n. Dös G'raffl greif' i nit amol un. Is a so neumodisch Werk. Selm loßt's nur mi röd'n. Send wenig g'scheite Uhr'n mehar umma. Der Bürgermeischter hot no oani, a handgemachte. Die derricht a niemand wiar I“ Man vernahm spöttische Widersprüche im Stüberl.

Da polterte der Hueber in das Gastzimmer, auf den Jagg zu: „Herr Bürgermeischter, entschulding's s', geb'n S' ma auf on Augn'blick Iana Uhr.
Die Hearr'n gla'b'n mir nix, weil s' nix vastendgand, die Hearr'n. So a Werk - selm laßt's nur mi röd'n!“
Die Uhr erhielt er und verschwand. Als er sie wieder zurückbrachte, steckte er sie, sich umständlich bedankend, dem Bürgermeister in die Tasche.

Alle waren überzeugt, daß der Hueber seine Aufgabe gelöst habe. Noch eine Weile verging und der Diskurs war wieder im alten Gange. Da schob der Platzmetzger-Hansel, auch so ein „Übe-ralld’rin“, wo es eine Hetz gab, den Polizeimann bei der Tür herein.

„Da machst heut a G’schäft, Rietzlerl. Da Burgamoasta muaß 's Doppelte zahl'n, hä, hä,“ blökte er. „Dös Strafprotokoll wenn i amoi dawisch, dös loß i ma einrohma. Da Burgermoasta a da Polizei. Dös mog i. Iaz is füa mi a nimme schiach.“

Alle Anwesenden zogen wie auf das Kommando die Uhren und blickten einander schweigend und anscheinend überrascht an.

Der Schuster-Jagg fiel diesmal aus der Pose. Wie ein abgegraustes Kind, den Schrecken in allen Gliedern, war er anzusehen. Er warf zwei Gulden auf den Tisch und ging, ohne ein Wort zu verlieren, ohne Gruß. Vor seinem Hause brannte noch eine Straßenlaterne. Hier sah er noch einmal auf die Uhr. Halbe Eins vorbei. Was wird seine Frau sagen zu so einer Nachtschwärmerei?

Beim Unterbräu feierten indessen die Verschwörer den Reinfall des Bürgermeisters. Dem Drahbichlerbäck war wieder ein Streich gelungen.

Der Schuster-Jagg soll aber im ehelichen Schlafgemach auf den Irrtum daraufgekommen sein, denn als seine sonst nicht besonders nachsichtige Ehehälfte das späte Heimkommen nicht rügte - in Wirklichkeit war es ja erst 10 Uhr -, da stieg ihm der Zweifel auf, ob seine Uhr wohl richtig gehe.

Quelle: Georg Opperer, in: "Der Grenzbote", 1920
von Gottfried Opperer freundlicherweise am 7. Jänner 2004 per Email zur Verfügung gestellt.
Bildquelle: Email-Zusendung Gottfried Opperer, 6. November 2006.