DIE VERZAGTEN
WIE DER TONL UND DIE TRINE DOCH NOCH EIN PAAR WERDEN
VON JOSEPH FRIEDRICH LENTNER

Wir feinen Leute in den Städten, wir mit unsern geistreich zurechtgedrechselten Gefühlen und unsern einstudierten rücksichtsvollen Zartheiten, wir sind der Meinung, die Menschenkinder, die »am Bauern draußen« aufwachsen, wie man in Süddeutschland sagt, hätten keinen Begriff von den ausgesuchten Verschämtheiten und der sinnigen Zurückhaltung, mit denen sich eine gebildete Liebe quält. Bei diesen etwas ungeleckten Kindern der Natur, glauben wir, werden solche Dinge, als da sind Liebe und Liebesbünde, Werbung und Heirat so geradezu und ohne größere Rührung abgetan, als Essen und Trinken, als ein Roßhandel oder ein Kartenspiel.

Manchmal, ja ziemlich oft, mag es bei solcher Art sein Bewenden haben, und was das Herz angeht und seine Regungen, wird wohl hintangesetzt; indessen glaub' ich, haben wir Stadtleute in dieser Beziehung nicht viel voraus vor den wenig sentimentalen Bauern. - Wer aber mit etwas weniger Vorurteil dem Wesen im Dorf und Berghof zusieht, der mag da Dinge finden, wie sie nicht zu oft zwischen Seidengardinen und auf Parkettböden vorkommen, Dinge, die so ganz mit dem zartesten Gefühlsleben zusammenhängen. Warum sollte auch da nicht, wo Blumen und Kräuter gedeihen, die kein Treibhaus zur Blüte bringen kann, das Herz wunderseltene, süßduftige Blüten treiben? -

Das Passeiertal in Tirol, dasselbe, wo das Wirtshaus am Sand steht, ist rauh und unschön genug, eine grobe Gegend, möcht' ich sagen; dennoch weiß ich eine Geschichte von zwei Passeier Liebesleuten, die sich in der zartesten Gegend der Welt, unter den Linden in Berlin, oder da herum irgendwo, nicht sinniger ereignen könnte.

Der Tonl und die Trine hatten sich lieb; aber jedes hatte das andere lieb für sich allein. Keines wußte es vom andern. Sie liebten sich und taten dennoch alles, um es voreinander geheimzuhalten. - Es gab kein Hindernis, wegen dessen sie ihr Gefühl hätten zurückhalten oder unterdrücken müssen. Beide konnten frei schalten über ihr Herz und ihre Hand.

Der Tonl regierte als ein junger, tüchtiger Bauer in dem Haus, das er von seinen Eltern ererbt hatte. Die Geschwisterte waren versorgt, die jüngste Schwester wollte eine »Barmherzige« werden und wartete mit Ungeduld auf die Zeit, wo der Bruder heiraten würde, damit sie der Wirtschafterei enthoben werde und ganz Maria sein könne im Klosterparadiese. -

Die Trine war zwar nur Magd bei einem Nachbar, aber braver Leute Kind und auch nicht ganz arm. Etliche Gulden Heiratgut hatte ihr der geistliche Herr Vetter, der Benificiat, längst verheißen.

Warum sollten sich die Leute nicht haben können? Warum redeten sie nicht frischweg miteinander, wie's ihnen ums Herz war? - Gerade, weil es ihnen so seltsam, so unerklärlich zu Mute war, so schwiegen sie still.

Sie hüteten sich wohl, auch nur in der entferntesten Weise zu verraten, was in ihnen vorging; sie vermieden, sich zu sehen, das heißt, sie suchten sich da auf, wo jedes meinte, vom andern unbemerkt zu bleiben. Sie grüßten sich nie, oder nur notdürftig, sahen sich aber Viertelstunden lang nach, wenn sie am selben Wege sich begegneten. Keines nannte je des andern Namen, aber wenn ein Dritter ihn aussprach, da erbebten ihre Herzen, und sie lauschten auf jedes Wörtlein, das von ihnen geredet wurde, als vernähmen sie Engelsbotschaften, geradewegs vom Himmel gekommen. - So trieben sie's lange, mehr als ein Jahr, und sie nicht untereinander, noch eine fremde Menschenseele merkten etwas von der Liebe. Weil sie sich aber mühten, es immer noch heimlicher zu haben, so kam es, ich weiß nicht wie, daß endlich doch die Leute es erfuhren.

Es gab gute Seelen genug, die sich der armen Verliebten und Verzagten annahmen und sie zusammenbringen wollten. Da war eine der eifrigsten des Tonls Schwester, Agath', die zukünftige Barmherzige. Sie hatte zwar bisher die Trine nicht gar gerne leiden mögen; die Trine war vielleicht schöner und hatte ein wohlfeileres Fürtuch (Schürze) und farbhaltigere Strümpfe; indessen, die Barmherzige entsagte allem Groll und belobte das billige, blaue Fürtuch am Kirchgang, und fragte, wo sie die Strümpfe gekauft habe. Des Abends hielt sie überlange Gespräche mit der Trine am Brunnen und holte sie Sonntags zum Stationsbeten ab. In wenigen Wochen waren die beiden die besten Freundinnen, und wieder in einigen Wochen sagte Agath zur Trinel: »Du, gelt, du sieh'st 'n Tonl gern?«

»Ich? - Jetzt geh!« antwortete jene, um vieles röter als die gehaßten und später belobten Strümpfe.

»Ja, leug'n es nicht. Ich hab's lang schon gemerkt, du hast den Bruder heimlich gern.«

»Red' nicht so, Agath! 's hat dir wohl nur geträumt.«

»Was willst's leugnen? Du kannst'n ja haben. Er hat dich wohl auch gern. Gibst mir drei neue Grosch'n, wenn ich ihn dir g'schaff?«

»G'wiß und wahrhaftig«, antwortete die Trine, »mir ist der Tonl soviel wie ein anderer.«

Nach diesem verfänglichen Gespräche lief Katharina der Agathe davon und ging ihr fünf Tage lang aus dem Wege. In Sankt Martin bleiben mußte sie aber dennoch und konnte also der Barmherzigen nicht entkommen. Diese brachte mit großer Feinheit nach einer Weile dieselben Fragen zum Vorschein; aber auch diesmal und noch dreimal verleugnete Katharine ihres Herzens Herrn und Meister, und ging dann hinaus und sagte für sich: »Der Tonl soll mich gern haben? Der Tonl ist so viel fein, und schön, und gut, und reich, und wieder fein und schön und immer so fort; das ist nicht möglich, ich bin's ja nicht wert.« - Und standhaft leugnete sie ihre Liebe ab; die Barmherzige aber ward endlich erzürnt, die alte Schürzenfeindschaft kehrte wieder, und Tonl und Trine kamen nicht zusammen. An den schüchternen Liebhaber machte sich nun die unermüdliche Ehestifterin und verfolgte ihn mit allerlei Stichreden und schlauen Fragen, wie auch mit eindringlichen Klagen, daß sie die weltlichen Sorgen für ihn hinderten am geistlichen Berufe, ihn bittend, durch eine Heirat sie zu erlösen.

Der Tonl hingegen antwortete immer nur: »Kannst schon gehen, Agath; ich muß mir halt eine Häuserin (Wirtschafterin) nehmen.«

Darauf meinte die Agathe: »Wie, Tonl, du, ein lediger Mensch und eine Häuserin? - Das wär wohl kein Zeug.«

»Sorg' dich nicht, ich such mir schon eine mehralte (uralte).«

»Ach, mein Tonl, 's wär wohl g'scheiter, du tätst ein Ernst machen mit dem Madel.«

»Mit welchem?«

»No - mit der Trine.«

Bei den Worten wandte sich jederzeit der Bruder links um, ging und warf die Tür ins Schloß. Draußen blieb er dann stehen und sagte: »Ich soll die Trinl nehmen? Das feine, das liebe, das fromme Mädl? Die möcht mich wohl nicht. Ich verdiente sie auch gar nicht.« Und so scheiterte auch dieser feine Plan der Barmherzigen, und die »Verzagten« blieben verzagt.

Über eine Weile meinte die Gute, es mit der Eifersucht durchzusetzen. Ein paar Buben mußten sich an die Trine machen, ein sauberes Basl von Pfelders kam auf Besuch ins Haus. Die beiden Leutchen zergrämten sich nun, wie sich's gehört, aber ein jedes für sich allein. Von Vorwürfen und Erklärungen war keine Rede. Der Tonl fluchte für sich in Stall und Wald, oder saß stumm hinterm Ofen; die Trine weinte im Küchenwinkel oder in der Kirche, aber sie fluchten und weinten nicht lange. Katharina hieß die bestellten Werber des Weges gehen, und sie gingen. Tonl sah das schöne Bäslein nicht mit einem halben Blicke an, und sie zog unverrichteter Dinge von dannen. -

Auch dieses Mittel wollte nicht anschlagen - »Nein, was der Tonl verzagt ist«, meinte Agathe, »'s ist eine Schand für ein Manderleut.«

Etwas später kam der Tonl zum Herrn Pfarrer, ihn zu bezahlen für seiner Eltern Jahrtag. Der Hochwürdige war recht freundlich und redselig, faßte den Buben am Hosenträger, zupfte ein weniges an seiner eigenen Nase und begann: »Hm, sagt mir einmal, Tonl, wie alt sind wir denn?«

»Auf Galli neunundzwanzig Jahr, Hochwürden Herr Pfarrer!«

»Ei, da wär's wohl Zeit, daß wir an eine Heirat dächten.«

»Hm, ich kann's erwarten.«

»'s taugt nicht recht, Tonl! Wir soll'n nicht allein bleiben, hat der Gottvater zum Adam g'sagt.«

»Ja, wird schon sein.«

»Wie wär's - was meint Ihr? - wenn wir die Trine nähmen? - 's Höflerseppel Trine, die beim Bachsteiner Dirn ist.«

»Ja, nehmt sie 's Euch, wenn Ihr dürft's, Hochwürden Herr Pfarrer«, lachte der Tonl und ließ den guten Werber stehen. Agathe hatte sich an dem in weltlichen Dingen höchst unkundigen Benediktiner einen zweckwidrigen Bundesgenossen gewählt.

Auch diese Kriegslist verfehlte ihre Wirkung. - Wieder ein Jahr ging vorüber, und die beiden liebten sich noch immer und immer mehr, aber sie blieben verzagt, man mochte noch so bereit sein, ihnen Mut zu machen. Wenn man sie zusammenbringen wollte, da liefen sie auseinander; wenn man sie allein ließ, suchten sie andere Leute auf. Es hatte alles Ansehen, als sollte die Agathe niemals eine Barmherzige werden, und sie äußerte sich gegen den unglücklichen Helfershelfer, den Pater Pfarrer: »Ich sag' Euch, Hochwürden, wenn heut unser Herr das Paradies aufrichten wollte und machte den Tonl und die Trine zu Adam und Eva, die zwei kämen ihr Lebtag nicht zusammen, und die Welt blieb leer bis zum Jüngsten Tag.«

Über diesen tiefsinnigen Beobachtungen der Barmherzigen war es abermals Herbst geworden, die Zeit, wo man den Alberbäumen (Schwarzpappel) das Laub abstreift zu Futter und Streu.

Der Tonl hatte in Meran ein Geschäft abzutun gehabt und war eines sonnigen Nachmittags am Heimweg begriffen. Bei sich selber sinnierte er über die Worte, die der alte, lachlustige Advokat in der Stadt, mit dem irgendeine Rechnerei zu ordnen gewesen, zu ihm gesprochen hatte: »Wie haben wir's denn, Reister-Tonl? Ich möcht gern ein paar Zwanziger verdienen an Eurem Heiratsbrief.«

Tont dachte an diese Worte, an das Lachen und Tabakschnupfen des Doktors, und auf einmal ward ihm recht traurig zu Mut. Wahrhaftig, in diesem Augenblick hätte er dem grauen Rechtsverdreher gern ein paar Taler zu verdienen gegeben für einen Heiratsbrief, in dem als Braut die Trine figuriert hätte. - Doch gleich erschrak er über die Verwegenheit seiner Wünsche, schämte sich vor sich selbst und ging recht verzagt mit gesenktem Haupte, gerade nur auf den Boden sehend, seines Weges.

Auf einmal krachte und rauschte etwas über diesem seinem gebeugten Kopfe; er sah auf, und aus dem Gezweige eines Alberbaumes fiel eine Gestalt, ein Mensch.

Er breitete die Arme aus, und fing den Fallenden. Es war aber eine fallende, eine Sie, kein Er. Sie kam ihm recht ordentlich ans Herz zu liegen, die Arme verhingen sich an seinem Halse. Er mußte sie auch recht fest fassen, sonst hätte die seltsame Baumfrucht ihn zu Boden gerissen. Der Schreck schien die Maid und den Retter ziemlich zu verwirren. - Endlich sahen sie sich gegenseitig ins Gesicht, sie erkannten sich, wollten sich nennen und zugleich voneinander losreißen; aber sie konnten nicht mehr, ihre Blicke hatten sich festgeangelt in ihren Herzen. Fester umfaßten sie sich, schlossen überselig die Augen und küßten sich. - »Trinl!« »Tonl!« stammelten sie endlich.

Eine Stunde darauf gingen der Tonl und die Trinl hart nebeneinander, eifrigst redend und sich höchst zärtlich unverwandt in die Augen blickend, durch das Dorf Sankt Martin in Passeier, zu unbeschreiblichem Erstaunen der gesamten Bevölkerung.

In sechs Wochen machten sie Hochzeit. - Den Verzagten hatte - der Zufall geholfen. »Tonl!« sagte die verschämte Braut, »ich hätt' dir mein Lebtag nichts gesagt, wie ich dich gern hab.« »Und ich gewiß auch nicht!« antwortete der Bräutigam; »aber mein Lebtag lang hätt' ich dich gern gehabt - Weißt wohl, ich war so viel verzagt.«


Quelle: Joseph Friedrich Lentner, "Die Verzagten" aus dem Sammelband "Geschichten aus den Bergen", 1851
Joseph Friedrich Lentner (1814-1852) gilt als Begründer der Tiroler Dorfgeschichte.