Der letzte Fluch
(Erzählung aus dem Jahre 1268)

von Anton Schipflinger

Die Sonne schien brennend auf Hopfgarten. Der Frühling zog ins Land. Ein fruchtbarer Sommer stand in Aussicht. Tagsüber Sonnenschein, nachts Regen. Waren die letzten Jahre weniger gesegnet, so schien der kommende Sommer besser zu werden.

Auf dem Wege von Hopfgarten nach Itter humpelte ein Bettelweib. Ihr folgte ein mittelgroßer, beleibter Bauersmann. Seine Augen sprühten vor Zorn, dann wurden sie wieder traurig. Sein Schritt verlangsamte sich, als er das Bettelweib sah. Er wollte heute mit niemandem ein Wort reden, bevor sich nicht sein künftiges Schicksal entschieden hatte.

Das Bettelweib blieb stehen. Was konnte nun der Bauer machen, als ihren freundlichen Gruß zu erwidern.

"Wohin des Weges?" fragte die Bettlerin den Bauern. "Zum Ritter Wolfhard von Itter", gab er zurück. "Dann haben wir den gleichen Weg. Ich muß ihn auch einmal aufsuchen, diesen Raubritter." - "Was führt dich hin?" fragte erstaunt der Bauer. - "Was mich hinführt? Weißt, es war vor drei Jahren. Da fuhren meine Eltern und ich von Innsbruck nach Kufstein. Dort wollten wir einige Tage verbringen, um dann die Reise nach Augsburg, frisch gestärkt, fortzusetzen. - Es war gegen Abend. In einer Stunde wären wir in Kufstein eingefahren. Da sprengten ein Dutzend Reiter daher, überfielen uns, und wir mußten mit. Kurz bevor wir zum Schloß Itter kamen, entwischte ich. Man verfolgte mich gar nicht. Denn das Geld und alle wertvollen Schmucksachen trugen die Eltern bei sich."

Die Bettlerin machte eine kleine Pause. Die Augen des Bauern begannen wieder vor Zorn zu funkeln. Dann fuhr sie fort:

"Es waren die Rittersleut von Itter. - Ich aber bin zu einer Bettlerin geworden. Und ehedem war ich eine angesehen Bürgerstochter von Augsburg. Ich habe meine Vaterstadt seit drei Jahren nicht mehr gesehen. Denn ich wollte meine Eltern befreien; doch es war mir unmöglich. Und erst kürzlich hörte ich von einem Kufsteiner Bauern, daß meine Eltern in den Messerturm geworfen wurden. Meine armen Eltern!" - Die Frau weinte herzzerbrechend. Immer wieder schrie sie: "Vater! - Mutter! - Hätte ich euch helfen können!"

Mittlerweile kamen die beiden zum Schlosse. Die Zugbrücke war aufgezogen. Der Torwächter fragte den Bauern, was er wolle.

"Den Ritter will ich sprechen", erwiderte der Bauer. "Die Frau", fügte er bei, "ist meine Begleiterin."

"Ich werde meinen Herrn fragen, ob ich euch hereinlassen darf."

Der Torwächter stieg vom Wächterturm und begab sich hierauf ins Schloß. Indessen tröstete der Bauer das Weib, sie sollte den Kopf nicht hängen lassen.

Die Zugbrücke wurde niedergelassen. Die beiden gingen hinein. Im Vorhof standen vier schwer bewaffnete Knappen. Von diesen wurden sie in den Rittersaal geführt. Auf einem erhöhten Sessel saß Wolfhard, der Herr des Schlosses. Ringsum standen die Knappen.

Erhobenen Hauptes, die Hände zur Faust geballt, trat der Bauer vor.

"Was will denn das Salvenbäuerlein bei mir im Schlosse?" spöttelte Wolfhard. "Ich bin gekommen, dich zu fragen, ob ich heuer auch wieder die ganze Ernte abführen muß? Sollte ich dies tun müssen, dann arbeite ich keinen Handstreich mehr!" Düster, klanglos und ernst waren die Worte.

Der Ritter erhob sich und versprach ihm, daß er heuer kein Körnlein abzuführen brauche. "Und wenn ich nur ein Körnlein verlange, so soll ich im Messerturm sterben müssen."

Dies Rede gefiel dem Bauern. Er trat zurück, um das Weib sprechen zu lassen. Die Bettlerin trat vor und stürzte auf Wolfhard. Schnell stürmten die Knappen herbei, um ihrem Herrn helfen zu können; er hatte schon einen Dolchstich erhalten. Man packte das Weib und schleppte es aus dem Saal. Ein Diener mußte den Bader holen. Der Bader hatte das Blut bald gestillt und erklärte, der Stich sei nicht gefährlich. "Der Herr Ritter darf halt keinen Raubzug mehr machen", fügte er hinzu.

Das Weib wurde ohne langes Fragen in den Messerturm geworfen. Den Bauer steckte man in den unterirdischen Kerker, weil er der Bettlerin verhelfen hatte, in das Schloß zu kommen. Einige Tage mußte er hier schmachten und erst auf das Bitten seiner Frau wurde er auf freien Fuß gesetzt.

Wie man es vorausgeahnt hatte, so traf es ein. Ein Sommer, wie selten einer gewesen war. Trotzdem alles üppig gedieh, lachte kein Bauer im Brixental. Man wußte, mehr als die Hälfte mußte man dem Raubritter von Itter abliefern. Nur das Salvenbergbäuerlein freute sich heimlich, da es den gestrengen Herrn Ritter gefragt hatte.

Es war anfangs Juli des Jahres 1268. Ein herrlicher Sommertag, kein Wölkchen stand am Himmel, nur die Lüfte regten sich leicht. Wolfhard von Itter befahl seinen Knechten, die Rosse aus dem Stall zu führen, er werde mit seinen Knappen ausreiten.

"Mann, laß doch einmal diese schrecklichen Raubzüge", bat seine Frau Hedwig. "Die Raubzüge bringen uns kein Glück. Tu es deinem Töchterchen zuliebe".

"Ruhig, Kein Wort mehr!" fuhr Wolfhard seine Gemahlin an.

"Dann wandere ich in ein anderes Land", entgegnete Hedwig.

"Ich bin der Herr! Ich gebe Befehle!" Zu den Knappen gewandt: "Bringt mein Weib in den unterirdischen Kerker!"

Die Knappen führten den Befehl aus. Als man die Tür zum unterirdischen Kerker zusperrte, sagte Hedwig weinend: "Mann, der heutige Tag ist dein Unglück!"

Die Knappen überbrachten Wolfhard die letzten Worte seiner Frau. Er lachte hellauf. "Wer kann mir denn einen Schaden zufügen, wo ich mit meinen Katzen und Tummlern ganz Salzburg vernichten kann."

"Heute", erklärte Wolfhard, "reiten wir zum Salvenbäuerlein hinauf und zertreten dessen Traid."

Schmetternd und lärmend ging es den Salvenberg hinauf. Die Bauern flüchteten und versteckten sich. Die Bäuerinnen und die Kinder weinten, als sie sahen, wie die Itterer Rittersleut über die Felder ritten.

Beim Salvenbäuerlein jagten sie kreuz und quer über das Getreidefeld. Wie der Bauer dies sah, sprang er auf das Feld und schrie die Reiter an: "Was geht da! Ihr Raubritter! Gott soll euch alle derschlag'n!" Da packten ihn zwei Knappen, banden ihn fest und hängten ihn an einen Roßschweif. Des Bauern Eheweib Anna sah von der Labn zu. Als sie bemerkte, wie man ihren Mann behandelte, lief sie hinunter und bat den Ritter, sie möchten doch ihren Mann verschonen. "Ach was", antwortete Wolfhard, "bindet die Bettlerin fest!"

Nun ritt man dem Schlosse zu. Die Bauersleute brachte man in eine Kerkerzelle. Der Diener kam mit einem Krug Wein und bemerkte dazu: "Den sollt ihr trinken, bevor ihr in den Messerturm kommt!"

Nun wußten sie, wieviel es geschlagen hatte. Die Frau begann zu weinen: "Mein Bub, der Anderl - der Anderl - der arme Bub. Vater im Himmel steh' ihm bei, hilf ihm, denn wir sind dem Tode preisgegeben."

Der Bauer stierte in eine Ecke, Tränen kollerten über sein wetterhartes Gesicht. Seine Gedanken sannen auf Rache. Aber wo und wie Rache nehmen; keine Waffe, gefangen, als wären sie Mörder. Und doch stieg in ihm ein Fünkchen Hoffnung auf. Hoffnung auf Rettung! - Das Schluchzen seines Weibes erinnerte ihn an seine Lage.

Die Tür ging auf. Ein Knappe trat herein, lachte höhnisch und teilte dem Bauern mit, daß er in einer Stunde in den Messerturm geworfen werde. Dann schaute der Knappe in den Krug. Er nahm ihn in die Hand und trank. "Also, trink einen Schluck solch guten Etschländer", forderte der Knappe den Bauern auf und verließ die Zelle.

Über den Bauern war das Urteil gefällt. In einer Stunde - -. Der letzte Funke Hoffnung war erloschen. Sein Hof, sein Bub, sein Weib und sein Leben. - Ja - schwere Prüfungen kann der Herrgott von einem Menschen verlangen. Der Zorn packte den Bauern. Er nahm den Krug und schleuderte ihn in eine Ecke. Sein Weib fuhr auf. "Hans! Hans! In einer--"

Dann begann sie wieder zu weinen und zu schluchzen. Des Bauern Zorn legte sich. Seine Fäuste lösten sich - er betete. Das letzte Gebet auf dieser Welt, dachte er, und fing das Vaterunser an.

Er wußte nicht, wie lange er gebetet hatte. - Vor ihm stand plötzlich eine Frau. Aus ihren Munde kamen die Worte: "Bauer, nimm dein Weib und folge mir."

Ohne ein Wort zu reden, nahm er sein Weib und folgte der Unbekannten. Stufe um Stufe mußte überwunden werden. Erst als er über die Zugbrücke ging, erinnerte er sich, daß er im Schlosse war.

"Geht heim!" befahl die Frau und kehrte um.

Unter einem Baum macht der Bauer Rast. Sein Weib erlangte wieder das Bewußtsein und fragte: "Wo bin ich? - Hat uns ein Engel gerettet oder - -?" Der Mann erklärte ihr alles. Und er meinte, des Ritter Wolfhards Gemahlin sei der Engel gewesen. "Wenn uns der Ritter nur nicht nachstellt", ängstigte sich die Frau.

Auf dem Heimweg begegnete ihnen der Bub, der Anderl. Er weinte. Von Nachbarn hatte er erfahren, was sich zugetragen. Der Anderl war im Wald Fichtenzapfen sammeln gewesen.

Vor dem Hause standen Leute. Fast ganz Hopfgarten war versammelt. Wie die Bauersleute ankamen, bestürmte man sie mit Fragen. Der Bauer erzählte kurz von der Rettung. Als er sagte, daß er sich nicht sicher fühle vor den Nachstellungen des Ritters, lachte man ihn aus.

"Ja, weißt du denn nicht, daß er in das Jenseits gewandert ist?" fragten ihn einige. "Der Raubritter im Jenseits - tot - ist's wirklich wahr?" "Selbstverständlich, Hans!" -"Gott sei Dank!" Ein Nachbar erzählte ihm, wie dies zugegangen.

"Der Ritter is zum Messersturm um ganga, und hat er sich z'weit viechi (vor) g'wagt. Da hat sich ein Stein losg'löst und er ist abikugelt. Wia dia Knapp'n ian Herrn such'n wöll'n, aft hab'ns ihn nimma g'fund'n. Bis'n oana im Messerturm drein gsehn hat. Hilf hat ma eam koane bringa kina, und etz muß ea so unt'n hänga, bis'n d'Seel valast."

Staunend hörten der Bauer, sein Weib und der Anderl zu. Die übrigen Hopfgartner hatten den Hof verlassen. Die gerettete Familie und der Nachbar beteten einen Rosenkranz. Nach dem Dankgebet für die Errettung wurde eine kleine Pause gemacht. Der Bauer erhob sich und sagte: "Ja, der Fluach is in Erfüllung ganga. Der Ritter Wolfhard hat g'sagt: Wann er nur oan Körndl von mia fordascht, aft soll ea im Messerturm sterben. G'fordert hat ea zwar nix, aba vernicht' hat er die Gottesgab!"

Der Bauer legte den Rosenkranz weg und ging seiner Arbeit nach.

Quelle: Anton Schipflinger, Der letzte Fluch, in: Kitzbühler Nachrichten 1936, Nr. 27, S. 3