DIE ORGANDIEBE
"Wien. Tumulte vor den Schulen, Fahrergemeinschaften, Selbstschutztruppen und die Suche nach den Männern im hellen VW-Bus. Ein böses Gerücht geht um: In Wien würden Männer Schulkinder entführen, um diesen Organe zu entnehmen. Man weiß sogar, wie diese Männer unterwegs sind: mit einem hellen VW-Bus. Alle wissen es und fast jeder kennt jemanden, der jemanden kennt, der es ganz sicher weiß.
Vor allem im Süden Wiens, von Meidling bis Pcrchtoldsdorf, häufen sich die Meldungen von verschwundenen Mädchen und Nieren. Im Stadtschulrat ortete man »drei Schwerpunkte der Hysterie«: Wien-Landstraße, Wien-Ottakring und Wien-Liesing. Allerdings gibt es keine Anzeigen, keine als vermißt gemeldeten Kinder und schließlich keinen einzigen konkreten Fall. Dafür aber Gerüchte. In einigen Schulen wurde seitens der Direktion bereits die Warnung vor der Entführung unter den Schülern verbreitet, was die Panik unter Eltern und Kindern eskalieren ließ. In manchen Schulen mußten die Eltern diese Warnung sogar über das Mitteilungsheft zur Kenntnis nehmen. Eine Maßnahme, die vom Stadtschulrat als "äußerst unpädagogisch" bezeichnet wird.
Am Mittwoch wurde vor nahezu allen Wiener Schulen jener helle VW-Bus mit den zwei Männern gesichtet. Zumindest kennt jeder jemanden, der ihn gesehen hat. Und nicht irgendeinen Bus, sondern genau jenen hellen VW-Bus mit den zwei bösen Männern drinnen.
Am Dienstag sei in Wien-Meidling ein kleines Mädchen nach der Schule nur knapp der Entführung durch jene zwei Männer im hellen VW-Bus entgangen. Am Vormittag war dem Mädchen wie ihren Schulkameraden eine Warnung des Stadtschulrates vorgetragen worden. Nach langem, hartnäckigen Bestehen auf seinem "Erlebnis" gab das Mädchen schließlich zu, die Geschichte nur erfunden zu haben, es handelte sich um eine Wette.
Und auch das erste Todesopfer existiert bereits, allerdings nur in Geschichten und Gerüchten. Auch ein im Allgemeinen Krankenhaus befindliches Mädchen mit geraubter Niere gibt es und zwei seit Tagen abgängige Mädchen in Alt-Erlaa und in Pcrchtoldsdorf, aber nur in der Phantasie. Im Wiener Stadtschulrat glaubt man den "dummen Gerüchten" keinesfalls, eine Warnung an dieser Stelle könne aber nicht schaden. Dadurch sind die Gerüchte aber gewissermaßen offiziell geworden, die Elternpanik hat so am Mittwoch ihren Höhepunkt erreicht. Dabei, so wird im Stadtschulrat beteuert, wollte man nur beruhigen. Vielleicht haben sich dann einige Lehrer in der Wortwahl und der Schärfe ihrer Formulierungen vergriffen.
Im Wiener Sicherheitsbüro, wo all diesen Gerüchten nachgegangen wurde, kam man zum Ergebnis, daß es eben nur Gerüchte seien. "Kein Grund zur Panik", verlautet ein Kriminalbeamter, Polizeipräsident Bögl wird sich auch noch zu Wort melden.
In Niederösterreich hält sich dieses Gerücht schon seit einem halben Jahr beharrlich, gleiches Gerücht sorgte vor einem Jahr in Kärnten und zuvor im Burgenland für Panik unter den Eltern. Passiert ist jedenfalls nichts, weder Kinder noch Nieren sind verschwunden.
Quelle: "Der Standard", 11. April 1991;
aus: Sagen aus Wien, hrsg. von Leander
Petzoldt, München 1993, S. 261.