DIE FOTOS AUS WIEN

Ein schwedischer Architekt pflegte seinen Urlaub darauf zu verwenden, in die großen Weltstädte zu reisen und interessante Gebäude zu fotografieren. In einem Sommer besuchte er Wien. Er fand eine Villa aus den 20er Jahren, ein ungewöhnlich schönes Beispiel für den Frühstil der Neuen Sachlichkeit, und fotografierte es aus verschiedenen Perspektiven.

Wieder zu Hause, brachte er den Film zum Entwickeln. Er war sehr erstaunt, als er die Bilder abholte und zwei Leute vor der Villa stehen sah. Die eine war eine Frau um die Dreißig, der andere ein ungefähr zehnjähriger Junge.

Der Architekt war sicher, daß die beiden nicht dagewesen waren, als er die Fotos machte. Einen Moment lang glaubte er, der Fotograf habe zwei Bilder übereinander abgezogen, weil die Personen teilweise durchsichtig waren. Aber daran konnte es nicht liegen: Die beiden Menschen fanden sich auf mehreren Bildern. Ihre Kleider waren nicht gerade im Stil der neuesten Mode, im Gegenteil. Sie trugen Kleidung der 20er Jahre, der junge hatte einen Matrosenanzug an.

Der Architekt schrieb an einen Kollegen in Wien und berichtete von den eigenartigen Fotografien. Der österreichische Architekt antwortete, daß die Frau und der Sohn der Familie, die in den 20er Jahren in der Villa gewohnt hatten, 1929 bei einem Autounfall ums Leben gekommen waren. Sie waren auf der Straße vor der Villa von einem Auto überfahren worden. Am Unglückstag hatte der Junge einen Matrosenanzug getragen.


Quelle: Der Elefant auf dem VW und andere moderne Sagen und Großstadtmythen, Bengt af Klintberg, München 1992, Seite 272