Märchen

aus: Ludwig Bechstein's Märchenbuch, Zwölfte Auflage, Leipzig 1853 (Vorwort)

  Die wenigsten halten den Unterschied zwischen Sage, Märchen und Mythe in Gedanken fest, die meisten verwechseln beide erstern oft, und halten sie für gleichbedeutend, manche auch für gleich unbedeutend.
Ich möchte versuchen, hier mit wenigen Worten darzulegen, wie Märchen und Sage unterschieden werden müssen.
Märe ist freilich nach dem alten Wortbegriff: Kunde, Nachricht, Erzählung, Fabel, Abenteuer und sonach ihr Gebiet das weiteste; wie sich aber der Begriff des Märchens später ausgebildet und abgegrenzt hat, müssen wir ihn festhalten, ihn von Sage und Mythe trennen.
Den Alten lag keineswegs im Worte märe der heutige Begriff von etwas Unwahrem, Ersonnenem; rehte Märe, rechte Märe, hieß ihnen Wahrheit, und der Begriff Märe zog zwischen Wahrheit und Dichtung noch keine Grenzlinie. Diese zog erst die spätere Zeit, welche Märe und Mythe, Sage und Fabel schied und strenger zu sondern gebot und lehrte.
Sage und Mythe können der Geschichtforschung noch als Quelle dienen, wenn auch als zweifelhafte, trübe; das Märchen kann dies nie, es wäre denn im Bezug auf Kulturgeschichte.
Immer aber bleibt die erwähnte Sonderung schwer, besonders die der Märe vom Mythus, denn Poesie und Mythe sind des Märchens Eltern.
Die Sage haftet am Örtlichen, an Geschlechtern, Namen, Denkmalen, Kirchen, Schlössern, Burgen; an bestimmten Stellen der Wälder, Haine, Wiesen und Wege, Brücken und Stege; das Märchen aber ist der ruhe- und heimatlos schwebende Paradiesvogel kindlicher Überlieferung. Ist es ja an Örtliches gebunden, so verschmilzt es mit der Sage. Ein Beispiel davon gibt diese Sammlung im Märchen »Der Schmied von Jüterbogk«.
Viele Sagen dagegen verlaufen in das Märchenhafte, davon mein »Deutsches Sagenbuch« manches Beispiel liefert. In der Schrift »Germania, die Vergangenheit Gegenwart und Zukunft der deutschen Nation, Leipzig, Avenarius und Mendelssohn, Band 2, Lieferung 5, 1852« habe ich mich ausführlicher, als es hier möglich ist, über dieses alles ausgesprochen, und wiederhole in diesem Vorwort nur einzelne Züge des dort Gesagten.
Das Märchen ist dem Kindesalter der Menschheit vergleichbar; ihm sind alle Wunder möglich, es zieht Mond und Sterne vom Himmel und versetzt Berge. Für das Märchen gibt es keine Nähe und keine Ferne, keine Jahrzahl und kein Datum, nur allenfalls Namen, und dann entweder sehr gewöhnliche, oder sehr sonderbare, wie sie Kinder erfinden.
Die Sage ist dem Jugendalter zu vergleichen; in ihr ist schon ein Sinnendes, Ahnungsvolles, ihr Horizont ist enger, aber klarer, wie der des Märchens. Sie deutet bisweilen schon an, wann und wo dieses und jenes geschehen sei, in welchen Zeitperioden, in welchen Kriegen, sei diese Andeutung auch noch so unbestimmt und unhistorisch; sie strebt in gewissen Zügen doch schon dem Alter der Reife, der Geschichte, zu.
Auch was Mythe ist, nennen viele Märchen. Mythe ist schon inniger mit der Sage verschmolzen, häufig aber selbständig. Es ist das große weite Reich der Geisterwelt. Die orientalischen Märchen zwar, dies könnte entgegnet werden, haben häufigst solche Maschinerie, allein wir begegnen in ihnen keinem ausgebildeten Mythus. In Deutschland ist es anders. Wir haben Götter, blieb auch von ihnen nur da und dort ein leiser Nachhall in halbverklungenen Mythen; wir haben eine reiche Dämonenwelt von Elfen, guten und bösen, Kobolden, Berg- und Wassergeistern, wir haben mythische Personen in Menge, und von allen diesen eine Fülle anziehender Geschichten. In dieses Gebiet gehört alles, was von Wuotansheer, Frau Holle, Perchta, Hackelberg, Rübezahl, vom Hütchen und Hinzelmann etc. erzählt wird, alles dieses habe ich aus dem vorliegenden Märchenbuche ausgeschlossen und es in meinem soeben in demselben Verlage erschienenen »Deutschen Sagenbuche« alles an seinen Ort aufgeführt, so weit es in der spätern Sage Wurzel fand und Boden gewann. Was rein dem Mythus, namentlich dem skandinavischen angehört, ließ ich für sich bestehen und zog es absichtlich nicht in meine Sagenkreise herein. - Nur der Teufel ist überall zu Hause, in Mythen, Märchen, Sagen und Legenden.
Selbst das Wort Legende halten noch immer viele, auch Gebildete, für ganz einerlei mit Sage und Märchen, und so begegnet z. B. die Lächerlichkeit des Ausdrucks: Legenden vom Rübezahl.
Legende ist Geschichte der Heiligen und Martyrer, ihres Wandels und ihrer Wunder, sie umfaßt ausschließlich den christlichen Mythus, und in ihm einen großen Poesieschatz.
Die Erzähler gewöhnlichen Schlages trieben mit dem Wort Legende großen Mißbrauch, weil sie sich seines Begriffes gar nicht bewußt waren.
Wir haben an guten echten Märchensammlungen in dem vorgezeichneten strengen Sinne keinen Überfluß, so reich auch die Märchenliteratur überhaupt, und die deutsche insbesondere ist. Aber sie gehört der spätern Zeit an. Der reiche Märchenschatz in den mittelhochdeutschen Dichtungen, von dem dies Buch einige Proben enthält, ist zwar gehoben, aber dem Volke noch nicht zugänglich gemacht. Daß die vielen und mancherlei Märchen, welche einzelne Dichter erfunden haben, wenn dieselben auch schön und poetisch sind, nicht hierher gehören, versteht sich von selbst; ich meine nur Märchen, die aus dem Volksmund überliefert, meist noch in ihm lebendig, oft auch Nachhall alter Dichtungen sind. Meist sind jene neuerfundenen sogenannten Märchen an eine mythische oder sagenhafte Überlieferung angeknüpft und novellistisch versponnen. In diesem Sinne dichtete Musäus seine mit Recht beliebten, für viele anziehenden Erzählungen, die er »Volksmärchen der Deutschen« nannte; ebenso wenig sind die Volksmärchen der Benedicte Naubert echte deutsche Märchen, und welche Unzahl von Nachahmern fanden nicht Musäus und die Naubert!
Musäus' Verdienst um das Märchen ist jedoch dankbar anzuerkennen; spann er auch seine Märchen zu Novellen aus, so hatten sie doch volkstümlichen Boden, und brachen sich günstige Bahn in den weitesten Leserkreisen; nur leiteten sie alle zahlreichen Nachahmer zu künstlicher eigenmächtiger Ausschmückung des echten Märchen- und Sagenstoffes hin, bei welcher selbst glänzende Namen sich beteiligten.
Unter diesen Namen steht der Ludwig Tiecks obenan. Er umkleidete das Märchen mit unübertrefflichem Humor, aber nun war es ein Zwittergebild, kein schlichtes Märchen mehr.
Höheres Verdienst um das deutsche Märchen in seiner Ursprünglichkeit erwarb sich Friedrich Heinrich von der Hagen, dem viele Gleichstrebende folgten oder mit ihm gleichzeitig wirkten. Sie setzten das deutsche Märchen wieder in sein volles Recht ein, und lehrten es ohne die Anhängsel späterer phantastischer Zutat in seiner schönen kindlichen Einfachheit unter das Volk, unter die Kinder treten. Aus dem Gelehrtenkreise, der die altund mittelhochdeutsche Poesie, mithin auch das ursprüngliche deutsche Märchen pflegte, und den Überlieferungen des Volksmundes von Märe und Sage gern lauschte und nachzog - traten die Gebrüder Grimm mit ihrer anerkannt besten echten Märchensammlung der »Kinder- und Hausmärchen«. Fast alle Märchen darin sind dem Volksmund entnommen.
In vielen bedeutenden Auflagen erschien von 1812 an bis jetzt diese treffliche Sammlung; ein Werk patriotischen Sammel-Fleißes, unbehindert durch jenes Witzeln und Spötteln der Neugescheiten, die den Freund von Mär und Sage so gern der Liebe zum Rückschritt beschuldigen. Fast in alle lebenden Sprachen Europas sind die Grimmschen »Kinder- und Hausmärchen« übersetzt worden, und wie bei ihnen der Mund des Volkes ein Urteil gesprochen, so auch bei der vorliegenden Sammlung, von welcher in zehn Stereotyp-Ausgaben und einer großen illustrierten Ausgabe in Zeit von nur sieben Jahren, von 1845 an - siebenzigtausend Exemplare in die Hände der deutschen Kinderwelt gelangten, so daß der Schluß des Vorwortes zu den frühern Ausgaben: »Möchte diese Sammlung bei den Kennern Nachsicht, und bei ihrem Publikum Teilnahme finden!« sich in nie geahnter Weise erfüllte.
Zu den erwähnten Kennern ist unbedingt der Herausgeber einer neuesten Sammlung: »Deutsche Volksmärchen aus Schwaben; Stuttgart 1852« - Professor Dr. Ernst Meier zu Tübingen, zu zählen, seine Sammlung ist ebenfalls trefflich, und hält den wissenschaftlichen Standpunkt fest. Er nimmt in seiner Vorrede Anlaß, sich über mein Märchenbuch insofern tadelnd zu äußern, daß er ihm »manches entschieden Unechte und Selbsterfundene« vorwirft, und das vereinzelte Vorkommen emphatischer Ausdrucksweise rügt. Darauf ist einfach zu erwidern, daß ich, außer der ersten Nummer als einleitender Dichtung: »Des Märchens Geburt«, nichts Selbsterfundenes gegeben, meines Wissens von andern nicht dergleichen aufgenommen habe; die Wahrheit in der Rüge aber habe ich selbst gefühlt, schon ehe mir Meiers Sammlung zu Händen kam; ich hätte allerdings besser getan, auf die Beihülfe anderer zu verzichten, denn ihnen fällt das Gerügte zur Last, doch stand der wissenschaftliche Zweck der Sammlung weniger im Vorgrund, wie der: eine Märchensammlung als Volksbuch zu liefern, welcher Zweck auf das vollständigste erreicht wurde. Einmal erbetene und freundlich gewährte Beiträge ließen sich nicht gut abweisen, und sie umzuarbeiten, würde die Verfasser unangenehm berührt haben. Ich selbst bekenne mich mit Herrn Meier zu den entschiedenen Gegnern der Verwässerung echt volkstümlicher Sagen- und Märchenstoffe durch rhetorisches und kunstpoetisches Beiwerk, sofern nicht ein erfundener Märchenstoff als größere Dichtung mit Absicht selbständig behandelt wird. In der vorliegenden Ausgabe nun ist dem Gerügten abgeholfen, mehrere Märchen sind völlig umgearbeitet und neu erzählt, andere ganz ausgeschieden worden, noch andre geeignetere an deren Stelle hinzugekommen. Hinweggefallen sind: »Des Märchens Geburt«; »Die Rosenkönigin«; »Des Teufels Pate«; »Die Jagd des Lebens«; »Vom Hänschen und Gretchen, die in die roten Beeren gingen«; »Der Schäfer und die Schlange«; »Die drei Nüsse«; »Fippchen Fäppchen«; »Der Fuchs und der Krebs«; »Das Märchen vom wahren Lügner«; »Die Perlenkönigin«; »Vom Knäblein, vom Mädglein und der bösen Stiefmutter«; »Der Garten im Brunnen«; »Besenstielchen«; »Helene«; »Die Nonne, der Bergmann und der Schmied«; »Die drei Bräute«; »Das goldne Ei«.
Neu kamen zu vorliegender Sammlung: »Das Rotkäppchen«; »Der Mann ohne Herz«; »Der Wettlauf zwischen dem Hasen und dem Igel«; »Oda und die Schlange«; »Siebenschön«; »Rupert, der Bärenhäuter«; »Der weiße Wolf«; »Die Geschichte vom Wachholderbaum«; »Das Gruseln«.
Der Bilderschmuck dieser neuen Ausgabe wird für sich selbst sprechen.
Übrigens ist dieses Buch keine Sammlung für ganz kleine Kinder, dies sieht wohl jeder ein, der es zur Hand nimmt, und es kann, ja es soll nicht stets der gleiche Ton der Erzählung festgehalten werden, so wenig wie sich bei den Sagen der Ton der Erzählung über einen Leisten schlagen läßt.
Wohl aber wurde mit Bedacht ganz Unbedeutendes zu geben vermieden, wie z. B. in Meiers »Deutschen Volksmärchen aus Schwaben« Nr. 15 »Der Spielmann und die Wanzen« - ein allbekannter Berliner Eckensteherwitz ist, mit ganz anderm höchst frivolem Bezug, und nimmermehr ein Märchen.
Während viele der neuern Märchenerzähler dieses Gebiet mit wissenschaftlichem Ernst und gewissenhafter Strenge anbauen, gehen manche Dichter, wie unter andern der Däne Andersen einen bedenklichen Schritt weiter. Das echte Märchen läßt allerdings auch Tiere reden, selbst Elemente, Sonne, Mond und Sterne - jene lassen aber sogar - oft nicht ohne Geschick und sehr ergötzlich - das unbelebte Werk der Menschenhand sprechen, den Spucknapf, den Besen, den Stiefelknecht, die Kaffeemühle u.s.w. - damit aber überschreiten sie des Märchenlandes Grenzen, und was sie dann noch Märchen nennen, ist keines mehr, ist Fabel.
Groß und reich ist das deutsche Märchengebiet, und wert, daß es allseits angebaut werde mit reiner Hand, ein Eldorado der Poesie, die im Volke lebt, im Volke widerhallt, und die den jungen Geschlechtern ihren Kindheitmorgen rosig verklärt, und ihren Pfad mit Sternen und Blumen betreut, an welche die Erinnerung unvergeßlich bleibt durch das ganze Leben.


Ludwig Bechstein