Drachen und Lindwürmer

Der deutsche Sagenschatz und die Märchenwelt des deutschen Volkes ist überreich an Fabeln von vorzeitlichen Ungetümen, Riesen, Lindwürmern und Drachen. Heute leben diese unheimlichen Wesen nur noch in den Kindermärchen fort, aber vor nicht allzu langer Zeit haben auch viele Erwachsene ein Grauen nicht unterdrücken können, wenn sie in den Bergen am Eingangstor einer einsamen Höhle standen, deren Inneres sich in schauriges Dunkel verliert.

Uralter Sagenschatz des deutschen Volkes weiß von Würmern und Drachen zu melden, die in Höhlen hausten und die von ihnen bewohnten Gegenden weit und breit unsicher machten. Aber im Wesentlichen bildet doch immer die Gestalt der Schlange den Kern dieser Sagen, der Schlange, die noch immer den meisten Menschen als ein widerliches und durch ihr Gift gefährliches Geschöpf erscheint; noch heute wird auch die harmlose Ringelnatter, deren gelbe Mondflecke hinter den Schläfen zu der Vorstellung der „gekrönten“ Schlangen der Sage und des Märchens geführt haben, von den meisten Landleuten ebenso erbittert verfolgt und getötet wie die giftige Kreuzotter. Ebenso gehen aber auch die Drachensagen des orientalischen Kulturkreises und des klassischen Altertums in letzter Linie auf die Schlangen zurück.

In Deutschland hat die Drachensage schon sehr frühzeitig eine eigenartige Ausgestaltung erfahren. Unverkennbar ist die Vorstellung von Lindwürmern und Drachen mit Felsklüften und Höhlen verknüpft. Und weiteres ist ein gemeinsames Merkmal aller dieser alten Lindwurmsagen die bedeutende Größe dieser Unholde, die nur von besonders tapferen und starken Helden bekämpft werden können, denen aber dann zum Lohne ihrer Tapferkeit entweder herrliche, von den Drachen bewacht gewesene Schätze oder die vom Lindwurm eifersüchtig in der Höhle bewachte Jungfrau als Preis zufallen.

Wenn wir die Frage aufrollen, wie denn die Verbindung der Vorstellungen von giftigen Würmern und feuerspeienden Drachen mit ihrem Wohnort in Höhlen zustande gekommen sein mag, so ist es nicht allzu schwer, darauf eine Antwort zu finden.

In den meisten Höhlen Mitteleuropas sehen wir den Boden von einem Lehm erfüllt, dem „Höhlenlehm“, der an manchen Stellen von dem Mist der höhlenbewohnenden Fledermäuse bedeckt wird. Zuweilen sind diese Lagen von Fledermausguano in so ungeheureren Mengen vorhanden, dass der Höhlenlehm gegen sie ganz zurücktritt; so liegen in der Drachenhöhle des Rötelsteins in Steiermark tausende von Waggonladungen solchen Guanos, dessen Ablagerung schon in der Eiszeit begonnen hat, so, dass er im Vergleiche zu frischem Fledermausdünger durch sein hohes Alter und die seither vollzogenen chemischen Veränderungen ein erdiges Aussehen bekommen hat. Das ist der „Chiropterit“ der Drachenhöhle, wie ich diesen eiszeitlichen Fledermausguano genannt habe. In ihm liegen die Reste von vielen tausenden eiszeitlicher Säugetiere, vor allem die Schädel, Zähne und Knochen des Höhlenbären (Taf. I).

Da und dort haben sich bis auf den heutigen Tag unter Felsvorsprüngen im Innern der Höhle, in Felsnischen usw. selbst an der Oberfläche des Höhlenbodens Skeletteile solcher Höhlenbären erhalten. Sind solche Schädel- oder Gliedmaßenreste noch mit einer Hülle von Kalksinter überrindet, so erscheinen sie noch größer als ohne diesen Überzug, so dass ein in dieser Weise freiliegender, von der Fackel beleuchteter Schädel eines Höhlenbären einen riesenhaften und wahrhaft gespenstigen Eindruck bei einem Beschauer erwecken muss, der nicht weiß, dass er Reste eines mit dem Meister Petz verwandten, nur viel größeren und schon in der Eiszeit ausgestorbenen Bären vor sich hat, der wahrscheinlich ziemlich harmloser Natur war.

So musste in einer Zeit, da nicht allein der mutige, in eine solche Höhle eindringende Jäger, sondern auch der mittelalterliche Gelehrte noch an Fabelwesen und Unholde glaubte, die Entdeckung solcher Reste vorzeitlicher Riesentiere der Sagenwelt wiederholt neue Nahrung zuführen und die Vorstellung von Lindwürmern festigen, die in Höhlen und Felsschlünden hausten - und hausen. Aus diesen Zeiten stammen die vielen, noch heute erhaltenen Bezeichnungen wie Drachenhöhle, Drachenloch, Drachenwand, Drachenfels, Aus dem Funde von Schädeln, Zähnen und Knochen in Höhlen entsteht in der weiter gegebenen Erzählung mit entsprechenden Übertreibungen gar bald die Angabe, dass diese Unholde nicht verstorben seien, sondern noch immer in ihren Höhlen wohnen und auf Wild, Herdenvieh und Menschen lauern. Der eine oder andere will dann einmal einen solchen Lindwurm selbst gesehen haben, wie er vor dem Eingange seiner Höhle schlief, und wieder ein anderer weiß zu erzählen, wie einer seiner Vorfahren einen solchen Drachen bekämpfte und erschlug. Die Drachenhöhle am Drachenfels bei Königswinter am Rhein, in der Siegfried den Lindwurm erschlagen haben soll, geht wahrscheinlich ebenso wie die meisten derartigen Bezeichnungen auf den Fund von eiszeitlichen Höhlenbären an dieser Stelle zurück, der mit der altgermanischen Siegfriedsage in der bekannten Form verknüpft und verwoben wurde.

Das frühe Mittelalter brachte durch das in den Klöstern gepflegte Studium der klassischen Schriftsteller des Altertums den heimischen Sagen des germanischen Kulturkreises neue Nahrung. Da stand in diesen Schriften von geflügelten Drachen und anderen feuerspeienden Unholden viel zu lesen. Zahlreiche altchristliche Legenden zeigen einen starken klassischen Einschlag und die weitere Ausgestaltung der deutschen Drachen- und Lindwurmsage ist unverkennbar durch das Studium der antiken Schriftsteller beeinflusst. Freilich ist schon sehr frühzeitig die Vorstellung des Drachens und des Lindwurms mit dem von der Kirche genährten Glauben an den Teufel verbunden worden. Verschiedene Lokalsagen wurden dann mit der Gründung von Kirchen oder Klöstern in Zusammenhang zu bringen versucht, und in welcher Weise zum Schlüsse das Bild verzerrt erscheint, das uns in manchen Drachensagen entgegentritt, mag die Gründungssage des Klosters Wilten bei Innsbruck zeigen.

Unweit von Wilten tritt aus den Asphaltschiefern der Triasformation von Seefeld ein Erdöl, das bekannte „Ichthyol“, aus. Die Heilkraft dieses Ichthyols, noch heute hochgeschätzt, ist schon seit alter Zeit bekannt; aber während wir es heute mit den in den Seefelder Triasschiefern liegenden Fischresten in Zusammenhang bringen, war diese Beziehung unseren Vorfahren unbekannt, und sie suchten nach einer anderen, ihnen naheliegenderen Erklärung für dieses eigenartige Vorkommen. Es konnten wohl nur Riesen oder Drachen im Spiele sein, denn das „Drachenblut“ galt als besonders heilkräftig und machte, auf den Leib gebracht, nach allgemeinem Glauben, den betreffenden unverwundbar. Da musste also ein gewaltiger Kampf zwischen einem Drachen und einem Riesen, denn nur ein Gewaltiger konnte so ein Ungetüm erlegen, stattgefunden haben. Und so entsteht die Sage vom Riesen Heymo, der den Drachen erschlug. Der älteste Bericht, den wir über dieses Ereignis besitzen, stammt aus den Jahren 1240 - 1256. Hier wird nur von der Grabstätte des Riesen in der Klosterkirche von Wilten gesprochen, der später sogar ein Denkmal am Portal der Abtei, als deren angeblicher Begründer, erhielt. Erst gegen Ende des XV. Jahrhunderts erfahren wir aus dem Berichte des Dominikanermönches Felix Faber, dass er im Jahre 1484 die im Kloster aufbewahrte Zunge des von Heymo erschlagenen Drachen mit eigenen Augen gesehen habe. Sie sei drei Handbreiten lang. Es wird dann weiter von dem Riesen gefabelt, der den Drachen erschlug, der Herr über ein von lauterem Silber umfriedetes Tal war, in dem goldene Äpfel wuchsen. Die noch aufbewahrte Drachenzunge sei das Wahrzeichen dieser Historie.
Josef Seemüller (1) hat nachgewiesen, dass eine unverkennbare Beziehung zwischen der Wiltener Gründungssage und der griechischen Heraklessage besteht, denn Herakles hat ja den Drachen getötet, der die goldenen Äpfel der Hesperiden hütete. Freilich finden wir auch in der Siegfriedsage die Vorstellung von einem ungeheure Schätze hütenden Drachen wieder, eine Sage, die kaum griechischen Ursprunges ist, sondern auf andere Wurzeln zurückgehen muss. Wichtig ist jedoch die Angabe, dass die „Drachenzunge“ dem Wiltener Kloster vom „Herzog“ gestiftet wurde, der sie von seinen Vorfahren ererbte, denen sie der Riese angeblich geschenkt hatte. Nach einer noch späteren Meldung hat dann endlich Herzog Siegmund der Münzreiche die Drachenzunge in Silber fassen lassen.

(1) Zeitschrift des Ferdinandeums in Innsbruck, 1895.

Die Drachenzunge von Wilten kehrt dann in einem scherzhaften, in Versen abgefassten Geleitbrief des Humanisten Johann Fuchsmagen in der zweiten Hälfte des XV. Jahrhunderts wieder; hier heißt es, dass der Riese Heymo dem jungen Drachen die Zunge ausgeschnitten habe, während der Alte die Flucht ergriff. Diese Zunge sende der Briefschreiber seinem Freunde, dem Sammler Florian Waldauf.

Aber diese Zungensendung war offenbar nur ein Scherz, denn die „Drachenzunge” blieb weiter im Kloster, wo sie Corona Pighius, der Reisebegleiter des Herzogs Carl von Cleve, im September 1574 sah und die eine Elle lange angebliche Zunge als eine große Fischgräte oder das „Schwert“, d. i. die Schnauzenspitze eines Schwertfisches deutete. Spätere Nachrichten über dieses „Wahrzeichen“ liegen aus den Jahren 1607, 1620, 1629, 1655 und 1734 vor. Aus dem letztgenannten Jahre berichtet A. Tschaveller, dass die silberne Fassung „dem Schmelztigel hat müssen consecrieret werden“ und dass jetzt „dieses drakenhöltumb mit einem blos helzernen Futteral“ vorliebnehmen müsse.

Diese „Drachenzunge“ existiert heute noch und liegt im Innsbrucker Museum. Sie befand sich vorher im Zoologischen Institute der Universität Innsbruck, wurde dort von Wieser wieder aufgefunden und wird nun im Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum aufbewahrt. Pighius hatte mit seiner Deutung aus dem Jahre 1574 Recht: es ist wirklich nichts Anderes als das Rostrum eines Schwertfisches (Xiphias gladius).

Wie mag nun dieses Objekt zu der unverdienten Ehre gekommen sein, für eine „Drachenzunge“ gehalten zu werden?

Man darf wohl mit ziemlicher Sicherheit annehmen, dass die Mönche des Klosters Wilten das Bedürfnis hatten, irgendein „Wahrzeichen“ an den Kampf mit dem Drachen zu besitzen, um, falls jemand Zweifel an der historischen Wahrheit der Gründungsgeschichte des Klosters hegen sollte, ein solches Dokument vorzeigen zu können. Ist auch der Weg, auf dem die besagte „Drachenzunge“ nach Wilten gekommen ist, heute nicht mehr mit Sicherheit zu ermitteln, so darf wohl die Vermutung ausgesprochen werden, dass dies zur Zeit der Kreuzzüge geschehen ist, in der ja neben den zumeist nach Mitteleuropa gebrachten „Pilgermuscheln“ und „Jerichorosen’’ auch andere, an den Küsten und in den Küstenländern gesammelte „Naturalien“ den Weg in die Heimat der Kreuzfahrer fanden, wenn diesen eine glückliche Rückkehr beschieden war. Zu den auch heute noch in den Hafenstädten des Mittelmeeres häufig zum Kaufe angebotenen „Naturmerkwürdigkeiten“ gehören die Rostren von Xiphias gladius, und es ist wohl auch die Wiltener „Drachenzunge“ höchstwahrscheinlich auf diese Weise, also durch einen Pilger oder Kreuzfahrer, in das Kloster gelangt, wo sie von da an als Wahrzeichen des Drachenkampfes gezeigt und bewundert wurde.

So sehen wir, wie die Entdeckung des Ichthyols auf dem „Zierler-Perg“ bei Innsbruck, das in seiner wahren Natur als ein aus fischreichen Gesteinen der Triasformation ausfliesendes Erdöl nicht erkannt wurde, die Veranlassung zu dieser berühmten Drachen- und Riesensage geboten hat. Dieses lchthyol ist vielfach in der alten Literatur als „Thuerschen-Pluet, Bitumen zuo Latein“ genannt, wie im „Tiroler Landreim“ 1557 - 1558), oder in Burglechner’s „Tirolischen Adler“ (1620). wo vom „Thürsenbach“ und „Thürsenbluet“ die Rede ist. Auch Schmeller führt in seinem „Bayerischen Wörterbuch“ ein „Türschenöl“ an, nennt aber als Fundort das bayerische Achental. Thürsch bedeutet so viel wie Riese, und damit hängt auch die Benennung der zweiten Riesenstatue beim Portal der Wiltener Abtei als Denkmal des Riesen „Thyrsus“ zusammen. Die Analyse dieser Sage bildet ein lehrreiches Beispiel dafür, wie die verschiedensten Kräfte an der Ausgestaltung einer Sage tätig sein konnten, wie aber doch selbst einer so ins Groteske verzerrten Darstellung wie der Wiltener Drachensage ein Kern richtiger Beobachtung innewohnt, der mit dem Ausfließen des von fossilen Fischen stammenden Erdöls aus dem Gebirge zusammenhängt.

Ein zweites Beispiel soll uns zeigen, wie der Fund eines fossilen Säugetierschädels zu einer gleichfalls sehr bekannten Lindwurmsage Veranlassung gegeben hat.

Auf dem Marktplatze der Hauptstadt Kärntens, Klagenfurt, steht ein im Jahre 1590 von einem unbekannten Steinmetz verfertigtes Denkmal eines riesigen Lindwurms, der von einem Riesen mit einer Keule bekämpft wird (Taf. II). Dieser Lindwurm ist, wie die Chroniken melden, um die Mitte des XVI. Jahrhunderts im Zollfelde gefunden worden und der Fundort führt heute noch den Namen „Drachengrube“.

Drache nach der Darstellung des Sebastianus Munsterus, Basel 1598

Fig. 1.
Drache nach der Darstellung des Sebastianus Munsterus (Basel, 1598). Man beachte die auffallende Ähnlichkeit dieses Bildes mit dem Lindwurmdenkmal in Klagenfurt (Taf. II).


Der Schädel dieses Lindwurmes ist uns glücklicherweise erhalten geblieben und wird in der städtischen Sammlung von Klagenfurt aufbewahrt (Taf. III). Der Botaniker Franz Unger hat 1840 (2) nachgewiesen, dass dieser „Lindwurmschädel“ nichts Anderes ist als der Schädel eines wollhaarigen Nashorns (Rhinoceros antiquitatis), das in der Eiszeit in Europa weit verbreitet war. Der Künstler, der das Lindwurmdenkmal fertigte, hat sich, wie die Umrisslinien des Kopfes zeigen, sichtlich an das Original gehalten, aber dem Schädel des Nashorns, das ja damals so gut wie unbekannt war, einen Krokodilleib und sogar Flügel angefügt.

(2) Steiermärkische Zeitschrift, N. F., 6. Jahrgang, 1. Heft, S.75.

Diese Verschmelzung des Nashornschädels mit dem „Drachenleibe“ ist aber nicht auf die Rechnung der Phantasie des Künstlers zu setzen. Zu der Zeit, in der das Denkmal ausgemeißelt wurde, war das „Schlangenbuch“ von C. Gesner bereits erschienen und in diesem wie in anderen Werken Gesner’s, so in seiner „Historia animalium“ (1550 bis 1578), sowie in anderen Werken aus dieser Zeit (Fig. 1), finden wir Abbildungen von Drachen und fliegenden Schlangen (Fig. 2), die auf Berichte und Schilderungen zurückgehen, die in den Schriften des klassischen Altertums enthalten sind. Von den „fliegenden Schlangen“ aus Ägypten, über die Herodot berichtet, soll noch später die Rede sein. Sicher stand die Gelehrtenwelt des Mittelalters und der späteren Zeit bis in die Mitte des XVII. Jahrhunderts durchaus unter dem Bann der aus dem klassischen Altertume überlieferten Fabeln von Drachen, Basilisken, fliegenden Schlangen und anderen unheimlichen Fabeltieren und es sind wohl zweifellos derartige Bilder von solchen „Drachen“ oder „fliegenden Schlangen“ in Gesner’s Schlangenbuch und anderen Werken gewesen, die dem Klagenfurter Künstler zum Vorwurfe bei der Ausarbeitung des Rumpfes seines „Lindwurmes“ gedient haben.

geflügelte Drachen Lindwürmern, aus dem Schlangenbuch von Conrad Gesner Zürich, 1589

Fig. 2.
Abbildungen von zum Teile geflügelten Drachen oder Lindwürmern, aus dem „Schlangenbuch“ von Conrad Gesner (Zürich, 1589).

Alte Chroniken melden, dass bei Weng im Admontertal in Steiermark aus dem Rabengraben ein „abscheulicher“ Lindwurm gedrungen sei, der sich geraden Weges der Enns zu wälzte. Ebenso soll nach „uralter mündlicher Überlieferung“ aus den der „Salzgegend Hall“ (gemeint ist wohl Hallein bei Salzburg) nördlich vorgelagerten Felsenbergen ein ungeheurer Lindwurm hervorgebrochen sein. Wahrscheinlich sind dabei einige benachbarte Höhlen gemeint, in denen Knochen und Zähne des Höhlenbären begraben liegen, die zu der Entstehung einer lokalen Lindwurmsage ebenso Veranlassung geboten haben dürften, wie die in der „Drachenhöhle“ des Rötelsteins an der Mur in Steiermark zweifellos schon seit dem Mittelalter wiederholt gemachten Funde von Höhlenbären (Taf. I.). Dass diese „Drachenhöhle“ schon im Mittelalter das Ziel wiederholter Besuche gebildet hat und eine gewisse Berühmtheit besessen haben muss, geht aus den zahlreichen, bis in die Mitte des XIV. Jahrhunderts zurückreichenden Inschriften in der Höhle hervor, die wir bei den in den letzten Jahren durchgeführten sorgfältigen Untersuchungen in dieser Höhle aufgefunden haben. Wahrscheinlich bezieht sich auf Funde fossiler Knochen in der Drachenhöhle die Mitteilung Gesner’s in seinem „Schlangenbuch“ (S. 43), dass „Ein buchhendler aus Steyrmarck erzalt auff ein zeyt herrn Froschowern / daß im 43 jar der mindern zal / zunechst bey der Steyrmark vil fliegende vor anderen gifftige / vnd glych wie eidexen vierfüssige schlangen weren einsmals gesehen worden“. Es scheint sich die Vorstellung von den Funden von Drachen und Riesen in der Drachenhöhle bei Mixnitz an der Mur durch Jahrhunderte erhalten zu haben, denn der gelehrte Jesuit Athanasius Kircher berichtet noch 1678 in seinem „Mundus subterraneus“ (3), dass am Rötelstein an der Mur in einer Höhle (d. i. die Drachenhöhle) ein ganzes Drachenskelett gefunden worden sein soll.

In der Mitte des XVI. Jahrhunderts scheint der Glaube allgemein gewesen zu sein, dass die Höhlen und Felsklüfte der Alpen von fliegenden Schlangen oder Drachen bewohnt waren. Gesner war der Ansicht, dass fliegende Schlangen dasselbe wären wie Drachen, denn er spricht in seinem „Schlangenbuch“ ausdrücklich „von fliegenden schlangen / so vom gemeinen pöffel auchTracken genennet werden“ (S. 43).

Wie wunderlich die Vorstellungen der damaligen Zeit von solchen Fabelwesen waren, und wie überall, wo sich Höhlen finden, auch sehr bald eine Drachensage entstand, davon zeugen eine große Zahl verschiedener Berichte in alten Chroniken. „Herr Johann Stumpff“, erzählt Gesner, „meldet in seiner Chronick / wiewol Plinius schreybe daß die Tracken in Indien und Morenland gezeuget werden / so haben doch ettwan dern auch in unserem Alpengebirg gewohnet. Denn wiewol die Alpen mit stättem Schnee befeuchtiget werden / haben sie doch an vilen orten jre Felsen und hölinen gegen mittag / der Sonnen gantz entgegen gekehrt. Da der Tracken wohnung mehrteils in den hölen der felsen so gegen der Sonnen hitz ligen / daran sie sich offt erwermen.“

Wie lange sich diese Vorstellung von der Existenz von Drachen in unseren Gegenden erhielt, geht u. a. auch aus der Schrift Vollgnad’s (4) aus dem Jahre 1673 hervor, der angibt, dass zu seiner Zeit in den Höhlen Siebenbürgens noch fliegende Drachen lebten. In diesem Falle wie in dem von Abbildungen und Beschreibungen begleiteten Berichte von J. Paterson Hayn (5) aus dem Jahre 1672 ergibt sich mit Sicherheit, dass es sich in den vermeintlichen Drachenknochen aus den deutschen und siebenbürgischen Höhlen um die Reste von Höhlenbären handelt.

(3) II. Teil, S. 118.
(4) Ephémerides des Curieux de la Nature, Dec. I, An. IV, Obs. CLXX, S. 226.

Dass irgendein Gauner, der an diese Fabelwesen nicht glaubte, mit den ängstlichen Zeitgenossen manch böses Spiel getrieben haben mag, um sich dann als Bezwinger des Drachens und als tapferer Held wie weiland St. Georg feiern zu lassen, geht aus der ziemlich durchsichtigen Schilderung des berühmten Drachenkampfes hervor, dem ein wegen Totschlages geächteter Landflüchtiger namens Winkelriedt bei dem Dorfe Wyler in der Schweiz siegreich bestanden haben soll (Fig. 3). „Gleych im anfang als das Schweytzer land erstlich bewohnet und geseubert / ward ein grausamer track darinnen gefunden / ob dem dörfflin Wyler / der vertrieb leut und vych (daher das dörfflin Oedwyler genennt ward) auff das / erbot sich ein landtmann (genennt Winckelriedt) so von eines todschlags wegen dass Land meiden musst / woh man jn widerrumb mit gnaden einnemmen / wölte er den tracken umbbringen / daß ward jm mit froeuden zugelassen. Nach dem er aber den tracken bestritten hat / warff er von stund an den arm frölich auff / darinn er das blutig Schwert hatt / wegen dess siegs frohlockende / dadurch sprang jhm dass tracken blut an leyb / dass er darvon sterben mußt / wie herr Johan Stumpff in seiner Chronik anzeigt.“ (6)

(5) Ephemerides, etc., Dec. I, An. III, Obs. CXXXIX, S. 220.
(6) Schlangenbuch, S. XLI.

Der Kampf Winkelriedts mit dem Drachen beim Dorf Wyler in der Schweiz, A. Kircher 1678

Fig. 3. Der Kampf Winkelriedts mit dem Drachen beim Dorf Wyler in der Schweiz. (nach A. Kircher, 1678)

Auch in dieser Sage spielt, wie wir sehen, das Drachenblut der Siegfriedsage und der Drachensage von Wilten eine große Rolle, aber hier nicht in dem Sinne eines heilkräftigen, sondern eines todbringenden Zaubers.

Der berühmte Drache von Rhodos (Fig. 4), dessen Besiegung Schiller verewigt hat, ist nicht, wie man häufig zu hören bekommt, ein Krokodil gewesen, sondern auch diese Sage geht zweifellos auf den Fund eines fossilen Säugetiers in einer Höhle zurück. Hier scheint es sich aber vielleicht um ein fossiles Flusspferd oder einen der vielen kleinen Inselelefanten zu handeln, die man seit dem frühen Altertum bis auf den heutigen Tag wiederholt in Höhlen der verschiedenen Mittelmeerinseln gefunden hat, und die ebenso wie die Höhlenbären unserer Gegenden aus der Eiszeit stammen. Nach einer alten Chronik ist im Jahre 1345 unter dem Abte Elio von Villanova in einer nicht weit von der Kirche St. Stephan gelegenen Höhle ein Drache gefunden worden, „monstrum horrendum, ingens, et formidabile visu“ (7). Das ist derselbe Drache, von dem es heißt, dass ihn der Ordensritter Deodatus von Gozon getötet habe und auf den sich der bekannte „Kampf mit dem Drachen“ bezieht. Nun ist es aber vielleicht kein bloßer Zufall, dass dieser Deodatus von Gozon ein Gascogner gewesen ist, die seit alter Zeit den zweifelhaften Ruhm genießen, lügnerisch veranlagt zu sein.

(7) Ein schauerliches Ungetüm, ungeheuer u. schrecklich anzusehen.

Der Drache von Rhodus, A. Kircher 1678

Fig. 4.
Der „Drache von Rhodus“, der angeblich von Deodatus von Gozon 1345 getötet worden sein soll. (Nach A. Kircher, 1678).

.Man muss sich wirklich darüber verwundern, wie noch zu Anfang des XVII. Jahrhunderts Fabeln wie die vom fliegenden Drachen des Pilatus in der Schweiz entstehen konnten, von dem berichtet wird, dass er aus einer Höhle des Pilatus im Jahre 1619 mit langsamen Flügelschlägen quer über das Tal geflogen sei. A. Kircher gibt von diesem Ereignis eine schöne Abbildung (Fig. 5), die noch ein halbes Jahrhundert später in dem berühmten Seutter’schen Atlas auf der Karte der Schweiz kopiert worden ist.

Die fliegenden Drachen am Pilatus in der Schweiz, nach A. Kircher 1678

Fig. 5.
Die fliegenden Drachen am Pilatus in der Schweiz. (Nach A. Kircher, 1678).

Dass in einer Zeit, in der man so fest an die Existenz von Drachen glaubte, sich da und dort geschickte Betrüger fanden, die für die damals beliebten Raritätenkabinette der großen Kirchenfürsten und weltlichen Herrscher Exemplare von Drachen selbst verfertigten und sie um schweres Geld an den Mann brachten, kann uns nicht Wunder nehmen. Eines der berühmtesten Stücke dieser Art ist der Drache aus der Sammlung des Kardinals Barberini in Rom, dessen Abbildung uns erhalten geblieben ist (Fig. 6).

Der Drache aus dem Raritätenkabinet des Kardinals Barberini in Rom. Nach A. Kircher, 1678

Fig. 6.
Der „Drache“ aus dem Raritätenkabinet des Kardinals Barberini in Rom. (Nach A. Kircher, 1678).

Quelle: Die vorweltlichen Tiere in Märchen, Sage und Aberglaube, Othenio Abel, Karlsruhe 1923, S. 5 - 21.