Vom Mondsee zum Attersee

Wer vom Mondsee nach dem Attersee hinübergehen will, der wähle den Weg am östlichen Ufer.

Heute in frühester Morgenstunde, liegt im Nordwesten die ungeheure Mondkugel auf dem Boden: rötliche Nebelwände wallen vor ihr auf und ab. Bald aber ist ihr äußerster Rand hinabgesunken, und Sonnenstrahlen und Wolkenbänke ziehen um den Drachenstein. Von seinem Fuße steigen die Rauchsäulen der Köhler auf, der See rollt gegen den Strand und die Mauern schöner Landhäuser heran, die gelben, dürren Binsen und das tiefe Blau des Wassers bilden einen Gegensatz, der in der schwanken Bewegung des Windes und der Wellen das Auge fesselt. Das Röhricht senkt sich gegen das Wasser, dieses hebt sich an dem Entgegenkommenden hinan.

Ich weiß eine Zeit, in welcher mich ein solches Treiben der umgebenden Natur gar nicht zum Betrachten bewogen hätte. Das war vor ungefähr zwanzig Jahren, als ich noch ein Schulknabe war. Unter dem Einfluß verständiger Schulmeister wurde dem kindlichen Verstand, der sich so sehr der idealen Anschauung zuneigt, alles in kalte Begriffs Verkettungen zerlegt, und die belebende Phantasie auf deren Tätigkeit ein großer Teil menschlichen Glücks beruht, siechte in der Stubenluft während der täglichen sechs, acht Dressierstunden dahin. Die Farben der Welt verblaßten vor der blödsinnigen Gescheid-tigkeit der Schablonenmenschen, welche examinierten und züchtigten. In späteren Jahren der Freiheit erst erwacht wieder jene genußbringende Fähigkeit des 'Sich-Wunderns', wie sie von Aristoteles treffend genannt wird, und mit ihr schwindet die Blasiertheit, die nur zu häufig aus der überspannten Erziehung unserer Tage resultiert. Das 'nil admirari' ist sicherlich die am meisten langweilende und das Leben verbitternde Idee, die jemals einem trockenen Schädel entsprang.

Die östliche Ausbuchtung des Mondsees - von Scharfling gegen den Attersee zu - bildet einen See für sich, welcher durch die überraschende und veränderte Kegelgestalt des Drachensteins abgegrenzt wird. Es ist ein wahres Hochgebirgsgewässer, dem niemand ansieht, daß es jenseits der Wand sich in ein Hügelland ausbreitet. Je näher es mit dem Mondsee gegen Osten zu Ende geht, desto mehr gleicht er einem Strom zwischen Felsen und Wäldern. Der Wind, welcher seine Wellen uns entgegentreibt, begünstigt die Täuschung. Nun ragen aber schon im Aufgang der kahlen Wände des Höllengebirges, auch die Abhänge des Schafbergs fallen steiler und kahler in den See. Am tiefen Ende liegt er noch finster da - er verrinnt nicht in einen Sumpf, wie andere Wasserbecken der Alpen. Dieses Ende wie das andere stellt schon am Ufer eine bodenlose grüne Gumpe dar.

Bei dieser Gelegenheit will ich ein für allemal einer Randbemerkung begegnen, deren ich vielleicht manchmal von dem einen oder anderen allzu bedächtigen Leser gewärtig sein darf. Dieser wird es auffallend und widersprechend finden, daß ich von einem und demselben See jetzt sage, er sei blau, und gleich darauf sein Gewässer grün nenne. Die Wahrheit ist die, daß er dem Auge je nach den Launen des Himmels, den Umrissen der umgebenden Ufer, der Beschaffenheit des Grundes und aus irgendeiner anderen noch nicht enträtselten Ursache bald so, bald anders gefärbt erscheint.

Wer von Osten - der entgegengesetzten Richtung her - dieses Ende des Mondsees erreicht, macht sich ein Bild von ihm, das von dem in unserer Erinnerung aufbewahrten sehr verschieden sein muß. Ein finsterer Bergkessel, ein dunkles Gewässer, keine Wiesen und Alleen. Und dazu steht hart am Rande der Tiefe eine Unglückstafel, aus welcher dem Wanderer gleich ein Stück Leben von diesem Erdwinkel vernehmlich genug erklärt wird.

Nebenan erhebt sich das Gasthaus 'See'. In dieser löblichen Herberge verspürt der Reisende, der von Westen kommt, vielleicht zum erstenmal etwas von dem, was ich sogleich definieren werde.

Die ganze Reihe der Nordalpen, von der Ens bis zum Lech, liegt innerhalb der Ausstrahlungsperipherie zweier Städte, Münchens und Wiens. Der kleineren fällt die westliche, der größeren die östliche Hälfte zu. Für das bayerische Gebirge und die Grenzgebiete von Tirol ist München 'die Stadt', für die Länder jenseits der Salzach ist es Wien. Die bescheidenen Verhältnisse der ersten, die anspruchsvolleren der zweiten machen sich rasch im Aussehen der Touristen und in der Höhe der Rechnungen deutlich, welche der 'Städter' auf dem Lande zu bezahlen hat. Hier nun sind wir entschieden in die Massenanziehung, die durch die Nähe seines Trabanten, des glänzenden Ischl, noch um ein erhebliches verstärkt wird. Das bemerkenswerteste auf dem kurzen Stück Land, welches die beiden Seen trennt, ist die grüne Seeache, die vom einen zum anderen fließt. Bald weit und seicht, bald vor Mühlen eng zusammengestaut, seine Wasser gegen den Attersee, hinabdrängend, steht das bewegliche feuchte Grün in schönem Einklang zu den zahllosen Wipfeln. Endlich erreicht sie kurz vor dem Strand, nochmals durch Sägemühlen aufgehalten, den tiefen See, der mit seinem Anprall ihre Welle dämpft. Aber schon ist ihr Bett durch die Niederschläge, welche die Berührung mit der klaren stetigen Seeflut bewirkte, verästelt und in jene Unterbrechung durch angeschwemmte Grasflächen ausgeweitet, welche man bei größeren Gewässern Delta nennt. Auf diesem stehen Weiden und Ahorne, soweit das Land nicht mit Stämmen und Brettern bedeckt ist, welche später auf großen Schiffen seeabwärts gebracht werden.

Quelle: Das Österreichische Seenbuch, Heinrich Noë , München 1867, S. 43 - 46.