Schneidjoch, heilige Quelle

Steinberg am Rofan, Tirol

Im Jahre 1957 wurde auf einer Hochalm hoch über dem Achensee eine aufsehenerregende Entdeckung gemacht. In einem höhlenartigen Spalt, in dem eine kleine Quelle entspringt, wurden auf einer der Wände rätische Felsinschriften erkannt.

Quellheiligtum, Steinberg am Rofan © Werner Haas

Quellheiligtum Steinberg am Rofan
Europäisches Kulturgut
© Werner Haas


Die Höhle war den Hirten, die auf den Hochalmen des Schneidjochsattels in etwa 1400 Meter Höhe ihr Vieh hüteten, schon lange bekannt. Das beweisen Inschriften in dem weichen Sinterstein mit den Jahreszahlen 1825 und 1866. Zweifellos haben diese Hirten auch schon die geheimnisvollen Zeichen gesehen und sich gefragt, von wem sie wohl stammen.

Diese Inschriften, die um die Zeitenwende entstanden sind, wurden wie folgt übersetzt:

"Wasser ist da"
"Dem Kastor hat hier Frau Etuni geopfert"
"Frau Ritali hat hier dem Kastor geopfert"
"Hier hat Frau Mnesi dem Kastor geopfert"
"Usipe der Gefangene hat geopfert"
"Hier hat Elvas Wasser geschöpft"
"Gestiftet hat Estas das Votivbild"

Tatsächlich befindet sich in dem Felsspalt über der Quelle eine Nische, in der wohl einmal ein Kultbild gestanden sein mag. In der alten Welt galten Kastor und Pollux auch als Wasserspender auf gefahrvoller Reise. Deshalb schloß man: "Es waren hier offenbar hochkultivierte Menschen am Werk, die, auf beschwerlicher Wanderung von Süd und Nord begriffen (Erzsuche), in wasserarmer Gegend lagerten, dem Schutzgott zum Dank für das Trinkwasser opferten und ihre vielleicht nur flüchtige Anwesenheit nicht etwa mit bloßen Wandkritzeleien wie heute, sondern mit regelrechten Gedenkinschriften verewigten" (Karl Mayr in der Schlern 1960, S. 309 ff).

Quellheiligtum, Steinberg am Rofan © Werner Haas

Quellheiligtum Steinberg am Rofan
Rätische Inschrift, dem Etruskischen nahestehend, vermutlich 2400 Jahre alt
© Werner Haas

Dem heutigen Besucher dieser "heiligen Quelle" wird jedoch auffallen, daß es rings um die Paßhöhe ohnedies genügend Wasser gibt - viel zuviel Wasser sogar. Nur auf Knüppelwegen ist das versumpfte Gelände manchmal passierbar. Vor zweitausend Jahren können natürlich andere Verhältnisse gewesen sein, gewiß aber mußte man auch damals nicht vom Sattel aus eine halbe Stunde lang bergauf steigen, um in dem versteckten Höhlenspalt überhaupt Wasser zu finden. Und nach den Inschriften wären es auch Frauen gewesen, die (auf Erzsuche?) den Paß überschritten hätten?

Quellheiligtum, Steinberg am Rofan © Werner Haas

Quellheiligtum Steinberg am Rofan
Rätische Inschrift, dem Etruskischen nahestehend, vermutlich 2400 Jahre alt
© Werner Haas

Überblickt man von dem schwarzen, feuchten Höhlenspalt aus das flache oder nur mäßig geneigte Gelände unterhalb, so wird es augenfällig, daß dieses Gebiet ideales Weideland ist. Vor zweitausend Jahren wird es hier vielleicht viel weniger Bäume und Krummholz, dafür noch mehr Wiesen gegeben haben. Wahrscheinlich ist diese Quelle ein Hirtenheiligtum gewesen, was auch die vielen Frauennamen erklären würde - es waren Sennerinnen im heutigen Sinn.

Unberührt von all diesen Fragen und Problemen quillt das Wasser aus dem Höhlenspalt. Die Gelehrten erkennen dort eine der markantesten Stätten der Selbstdokumentierung des geheimnisvollen rätischen Alpenvolks. Für den Wanderer auf den Spuren der alten Zeit ist dieses Quellheiligtum ein Ort, der ihn auch heute noch in feierliche Stimmung zu versetzen vermag. Er trinkt von dem Wasser und denkt dabei an die Menschen, die schon zweitausend Jahre vor ihm sich daran erquickt haben.


Legende:


Hintergrundinformation aus volkskundlicher Sicht:

Bester Stützpunkt für einen Besuch des Quellheiligtums "Räterhöhle" ist die saubere, gemütliche Gufferthütte. (Man erreicht diese, wenn man der Straße vom Achensee nach Steinberg in folgt. Der Hüttenweg zweigt vorher ab, Tafel.) Von der Gufferthütte Weg über den Schneidjochsattel zum Guffertgipfel eine halbe Stunde folgend (rot markiert) erreicht man eine Tafel "Zur Prähistorischen Inschrift". Der rechts abzweigende, ebenfalls rot markierte Weg führt in 5 Min zuletzt etwas absteigend, zu der Felswand, in der sich die Quellhöhle mit den Inschriften befindet.

Quelle: Karl Lukan, Alpenwanderungen in die Vorzeit zu Drachenhöhlen und Druidensteinen, Felsbildern und Römerstraßen, Wien und München, 1965, S. 90

In lateinische Schrift umgesetzt lautet der Text der Inschrift folgendermaßen:

Zeile 1: KASTRIESIETUNILAPE
Zeile 2: RITALNESIKASTRINLAPE
Zeile 3: ESIMNESIKASTRINLAUPE
Zeile 4: IUIPECHATIVNLAPE
Zeile 4a: LITIAUPI
Zeile 5: VESIELVASAVEKERAKVE
Zeile 6: SAKATESTASATEVAKATE
Zeile 8: ISAEKI

Die früher noch lesbar gewesene Zeile 7 ist heute nicht mehr zu erkennen.
Nach den bisherigen Deutungsversuchen soll es sich entweder um eine Gedenkschrift für drei bei einem Bergsturz zu Tode gekommenen Frauen oder um den Hinweis auf eine heilkräftige Quelle, dem Gott Kastor gewidmet, doch später an eine Göttin umgewidmet, gehandelt haben; sicher scheint nur die Deutung der Zeile 8 zu sein, die die Stätte als "heiligen Ort" bezeichnet.

Quelle: Rudolf Röder, Das Buch von Steinberg, Steinberg am Rofan 1988, S. 18

Bisher wurden die Inschriften am Schneidjoch im Bezirk Schwaz auf etwa 500 vor Christus datiert. Jetzt behauptet ein deutscher Hobby-Archäologe, er sei auf möglicherweise schon aus der Jungsteinzeit oder Bronzezeit stammende, teils überschreibene und zerstörte Abbildungen gestoßen.

Die 1957 entdeckten Schriftzeichen konnten noch nicht entziffert werden. Man nimmt aber an, es handelt sich um einen in rätischer Sprache und etruskischen Buchstaben verfassten Weihespruch.

Hans-Walter Roth, von Beruf Leiter des Instituts für wissenschaftliche Kontaktoptik in Ulm, sagt nun, er habe mit Hilfe digitaler Aufnahmetechniken mehrere neue Bilder entdeckt, die ersten Schätzungen zufolge um 3600 vor Christus entstanden sind. Möglicherweise habe die Kultstätte damals "eine Bedeutung astronomischer Natur" gehabt.

Besonders auffällig sei eine etwa 15 Zentimeter große Figur nahe des Höhlenausgangs, die ein Pferd mit Reiter zeigen dürfte. Haltung und Form der Figur, die in ihrem Unterteil durch spätere Inschriften zerstört worden sei, würden dabei an jungsteinzeitliche Darstellungen erinnern. Roth schätze die Ursprungszeit dieser Darstellung auf rund 2800 vor Christus.

Quelle: Tiroler Tageszeitung (APA, TT), 11. August 2004

Ergänzungen sind gerne willkommen!