Der Schellenberg
von Dr. Ludwig von Hörmann.

Punkt 11 Uhr fuhr ich in den Bahnhof von Feldkirch ein. Da meine Zeit knapp bemessen war, betrat ich nicht die sauberen Gassen der Stadt, sondern ging längs den Gärten über den Graben an der Außenseite herum. Unweit vom alten Churertor prangt das Schulhaus. Als ich vorbei kam, stürmte gerade mit lautem Gejubel, sich fast überkugelnd, die Jugend heraus, für mich stets ein erquickender Anblick. War ja heute die letzte „Stunde" gewesen, die Ferien begannen, die heißersehnte Zeit, wo man in der Frühe ausschlafen kann und zwei Monate nichts zu lernen braucht. Glückliche Jugend! Und dazu noch der tiefblaue Sommerhimmel, der sich über die braunen Dächer spannte, und über die Blumengärten, grünen Rebenhügel und waldgekrönten Felskuppen, zwischen denen die Stadt eingebettet ist.

An der unteren Brücke, wo der alte steinerne Nepomuk die oft wilden Fluten der Ill, sanftigen muß, blieb ich auf einen Moment stehen und labte mich an dem prächtigen Bilde, das die burgbewachte Stadt und die durch die Felsenau und Kapfschlucht sich zwängenden Wasser boten. Welche Stadt in der Welt hat in unmittelbarster Nähe zwei so großartige romantische Klammen aufzuweisen? Lang hatte ich zum Bewundern nicht Zeit, denn um 3 Uhr 20 Minuten mußte ich schon wieder nach Bludenz zurück, und der Weg auf den Schellenberg und zurück erfordert immerhin einige Stunden.

Als ich aus der schattigen Klamm trat, winkte mir schon mein nächstes Reiseziel entgegen, der düstere Turm der Burgruine Tosters, gemeiniglich der Tostnerturm genannt, der über die bewaldete Höhe hinausragt und talauf und talab weit ins Land schaut. Der Besucher Vorarlbergs und besonders Feldkirchs schenkt dem Schellenberge viel zu wenig Beachtung. So heißt nämlich jener riffartige Bergrücken, der sich im Nordwesten der genannten Stadt ähnlich dem

Kummenberge bei Götzis wie eine Insel aus der Ebene des Rheintales und in der Ausdehnung von mehreren Stunden von Südwesten nach Nordosten hinzieht. Er ist mit Weilern und Einzelgehöften belebt; schattige Wälder, Wiesen und Felder vermischt mit Felspartien geben reiche Abwechslung, und kühle Waldwege geleiten abwärts zu den Dörfern, die den Fuß des Berges von allen Seiten umstellen, und von denen Nofels, Tosters, Mauren, Eschen und Bendern die bemerkenswertesten sind. Die letzten drei gehören schon zum Fürstentume Liechtenstein, das auch den größten Teil des Schellenberges besitzt. An der nordöstlichen Abdachung nun steht die weithin sichtbare Ruine Tosters, der in erster Linie mein Besuch galt.

Es drängte mich, diesen alten Bekannten aus glücklicher Kinderzeit wieder einmal zu besuchen. Ich mußte diesen Turm, um dessen graues Gemäuer ich als Knabe oft herumgestreift, von dessen efeugrüner Umklammerung ich mir so manche Ranke gebrochen, wieder einmal in seiner rauhen, und doch so anheimelnden Ursprünglichkeit schauen.

Ich war in das schattige Wäldchen eingebogen, das sich am linken Illufer gegen Nofels zieht und wollte nicht direkt über das Dorf Tosters zur Ruine hinaufsteigen, sondern, weil ich schon einmal diese Gegend besuchte, zugleich auch die anderen so schönen, und für mich so erinnerungsreichen Kleinodien mitnehmen, die dieser begnadete Erdenwinkel birgt. Dazu gehört aber außer der Tostnerburg erstlich die St.-Wolfgang-Kapelle, dann das uralte Korneliuskirchlein mit der tausendjährigen Eibe und endlich die darüber liegende, wegen ihrer weiten Umsicht berühmte Höhe „Auf der Egg". Auf bequemen, meist schattigen Wegen kann der Wanderer diese landschaftlichen Schönheiten der Reihe nach genießen.

Mein erster Besuch galt also der St.-Wolfgang-Kapelle. Vom genannten Nofler Wäldchen führt ein kurzer Weg quer durch die Felder zu ihr. Sie steht etwas erhöht und halbversteckt im Waldschatten über dem Fahrwege, der am Fuße des Schellenberges hin nach Nofels führt, ein schlichtes Kirchlein von gotischer Bauart, mit einem zierlichen Dachreiter, in dem ein hellklingendes Glöcklein hängt. Man meinte lang, das Kirchlein sei zum Gedächtnis der mörderischen Schlacht bei Frastanz erbaut worden, die am 20. April 1499 zwischen den siegreichen Schweizern und dem -mit dem Vorarlberger Landsturm vereinigten Schwäbischkaiserlichen geschlagen wurde, weil die in der Nähe vorbeifließende Ill hier viele Leichname der Gefallenen ans Ufer schwemmte, die man hier begrub. Diese Volksüberlieferung ist aber unrichtig. Die Kapelle wurde schon im Jahre 1448 erbaut. Es ist ein ungemein friedseliger Ort, an dem sich beim Rauschen der Tannenwipfel wohl süß ruhen und träumen ließe.

An einem Stamme steht auf einer Tafel: Burgruine Tosters, St. Kornelius, Schellenberg. Diesem Winke und der weißen Markierung folgend, schritt ich bei mäßiger Steigung den schattigen Fußweg aufwärts zum Ausgange eines Tälchens, von dessen Rand durch Obstbäume ein paar Gehöfte blicken. Links zog sich ein bewaldeter, von Felswänden durchbrochener Höhenrücken hin, und als ich ihn mit dem Blicke überflog, schaute mir vom Kamme auf einmal der gesuchte Tostnerturm entgegen.

Bald stand ich vor ihm, dem trutzigen Gesellen, der ungebrochen und ungebeugt den Sturm der Jahrhunderte überdauert hatte. Vor ihm breitet sich im länglichen Gevierte eine große Wiese aus, von Waldanflug und einer starken Mauer umgeben. Sonst wuchert auf dieser grünen Fläche üppiges Vergißmeinnicht, heuer hatte die sommerliche Hitze das fußhohe Gras samt seinem Blumenflor versengt. Vom nördlichen Rande schaut der Blick fast offen auf die Berge des Unterlandes bis zum Pfänder.

Von hier aus präsentiert sich auch der hochragende Turm in seiner ganzen imponierenden Erscheinung. Er ist quadratisch gebaut, fünf Stockwerke hoch, jede Seite etwa 15 Schritte breit; die Mauern sind über drei Meter dick. Es war wohl der feste Wartturm der einstigen Burg Tosters. Einige Schießscharten zeigen, daß er auch zur Verteidigung diente. Die Vorderseite trägt nur ein kleines Fenster. Vom Wehrgange, der einst unter den Zinnen den Turm umgab, muß eine entzückende Rundschau gewesen sein. Da auf der nördlichen Seite sich ein offenes Tor zeigte, wollte ich diese Warte besteigen, doch die geländerlose „Trappla" (Lattenstiege) ließ diesen Versuch nicht ratsam erscheinen. Noch weniger wagte ich das Dunkel zu erforschen, das mich von der Kellerstiege angähnte.

Vorderhand mußte ich mich mit der weiteren Besichtigung der Ruine begnügen. Ich trat zuerst durch ein noch wohlerhaltenes Tor, das rechts vom Turme in einen mauerumfangenen Hof führt. Schutt, Moos und Farn vermischt mit Tannen und Gebüsch füllen den Raum aus. Die Rückwand des Turmes zeigt sich hier mit Efeu ganz überkleidet, der sich bis zu den zwei Fenstern in der Höhe des Wehrganges hinanzieht. Durch die zerborstene Umfassungsmauer dieses Hofes fällt der Blick auf das gerade darunter liegende St.-Kornelius-Kirchlein und auf das belebte Gelände herum, ein eindringlicher Gegensatz zur Einsamkeit und der feierlichen Stille hier oben, die kein Laut stört, nur hie und da das Rollen des Bahnzuges und das gedämpfte Surren der Gisinger Fabrik, das der Windhauch zeitweilig vom Tale heraufträgt. Gegen Nordosten steht noch der Rumpf eines turmähnlichen Bauwerkes, das der Umfassungsmauer eingefügt ist und als Wohnung (Palas) gedient haben mag.

Übrigens war der Umfang der einstmaligen Burg sicher nicht groß; auch besaß sie keinen Graben. Gebaut wurde sie nach dem Chronisten Bucelin um das Jahr 1022. Nach den Forschungen Josef Zösmairs fällt jedoch die Erbauung erst in das Jahr 1250 unter Hugo II. von Montfort. Jedenfalls treffen wir sie im 13. Jahrhundert im Besitze des Grafen von Montfort, und zwar war es Rudolf II., der als der erste sich Herr von Feldkirch und Tosters nannte. In diese Zeit fällt auch die erste, wenn auch nur indirekte Beziehung der Burg zum Hause Habsburg. Im Jahre 1270 zog nämlich Rudolf von Habsburg, der nachmalige deutsche König, nebst dem Grafen Hugo von Werdenberg und dem streitbaren Berthold, Abt von St. Gallen, mit Heeresmacht über den Rhein und belagerte Feldkirch. In dieser Not brachte Rudolf seine jugendliche Gemahlin, die Gräfin Agnes von Württemberg-Grüningen, nach dem festen Schloßturm von Tosters in Sicherheit. Unter Rudolf IV., dem letzten dieses Dynastengeschlechtes, ging die Burg mit den anderen Besitztümern im Jahre 1377 an Österreich über.

Dann kamen trübe Zeiten über die Burg. Im Jahre 1405 wurde sie von den Bauern und von den Bürgern Feldkirchs, welches das Haupt des Bundes ob dem See diesseits des Rheines war, von Grund aus zerstört. Nur der gigantische Turm widerstand dem Brande und der Wut der Sieger, wie er dem Sturme der weiteren Jahrhunderte bis heute widerstand, -ein steinern Symbol des markigen Geschlechts, das hier hauste. Die weiteren Schicksale der Burg sind bedeutungslos. Noch einmal warf ich einen langen, wehmütigen Blick auf den alten Kumpan, dann stieg ich abwärts zur zweiten Merkwürdigkeit dieser Gegend, zum St.-Kornelius-Kirchlein, vom Volke „Santa-n-Ilga" genannt.

Es liegt, wie oben bemerkt, äußerst lieblich am Ausgange eines grünen Wiesentälchens, das sich zwischen dem Bergrücken, auf dem die Ruine Tosters steht, und dem Kamme des Schellenbergs hinzieht. Man nannte es hier vor Zeiten „uf der Rüti". Das Gotteshaus ist den Heiligen Kornelius und Zyprianus geweiht und viel älter als die Burg. Jedenfalls bestand es schon im Jahre 1178, wo es von Papst Alexander III. ausdrücklich angeführt wird. Um das Jahr 1370 herum trat ein gewisser Hainrich von Aemptz (Ems) als der erste „Kirchherr zu sant Cornelyen foy Tosters" sein Amt an. Das einschneidendste Ereignis in der Geschichte dieses Gotteshauses brachte das Jahr 1881, in welchem es dem energischen und opferwilligen Pfarrer Gallus Weißhaar nach jahrelangen Bemühungen gelang, im Weiler See am Fuße des Schellenberges, eine neue Pfarrkirche zu bauen. Unser bescheidenes Kirchlein auf der Reute, ein besuchter Wallfahrtsort, mag sich trösten, daß es, seiner vielhundertjährigen Würde als Pfarre entkleidet, nun in stiller Abgeschiedenheit seine alten Tage verbringen muß. Es gibt noch genug Menschen, die ihr kummerbeladenes Herz zu ihm hinauftragen und vom Gnadenbilde sich Trost und Hilfe holen.

Das Interessanteste, ja gerade eine naturhistorische Merkwürdigkeit ist die uralte heilige Eibe, die sich in der nordwestlichen Ecke des Friedhofes befindet. Der mächtige Baum, der fünf Meter im Umfange mißt, hat hinsichtlich seines Alters, wie ich hörte, nur zwei Rivalen dieser Art, den einen in Heimswil im Kanton Bern mit 1500 Jahren und den andern im Medikamentengarten in Wien, dessen Alter sogar auf 2000 Jahre geschätzt wird. Gleich der Rückseite des Kirchleins ist auch er von Efeu ganz umsponnen. Oben trägt der Stamm ein kleines Madonnenbild, das einer frommen Legende nach folgenden Ursprung hat: Die Gottesmutter soll nämlich auf ihrer Wanderung zur neugebauten Klosterkirche Maria Einsiedeln unter dieser Eibe gerastet haben. Zum Andenken wurde ihr Bildnis angebracht. Da die Einweihung der berühmten Wallfahrtskirche im Jahre 948 von Engeln besorgt wurde, gäbe dies einen verläßlichen Anhaltspunkt für die Bestimmung des Alters dieses Baumes. Sein Inneres haben Alter und vor allem die „Klammera" (Ameisen) ganz ausgefressen. Trotzdem treibt der uralte Schutzbaum des Kirchleins noch alljährlich frisch und kräftig seine lieblich duftenden, mattgrünen Nadeln. Um die kostbare Reliquie von diesen geschäftigen Holzdieben zu reinigen, kroch ein Mann in den hohlen Stamm und vertilgte sie. Als dies nichts fruchtete, goß man den hohlen Stamm mit Beton aus. Von seinem Standpunkt aus hat man eine herrliche Ausschau ins Unterland und gegen Feldkirch. Um den vollen Rundblick zu genießen, beschloß ich trotz der vorgerückten Zeit, die zur Eile mahnte, noch zur Egg hinaufzusteigen. Als ich an dem alten Mesnerhause vorbeiging, das gerade gegenüber dem Kirchlein liegt, wurde mir ganz eigen zumute. Erinnerungsbilder aus froher Kinderzeit tauchten auf, da ich in der Bittwoche „mit den Kreuzen" heraufzog. Hier standen die Bänke und Verkaufsbuden, wo man um einen „Rappen" einen „Eierzopf" bekam und marschhungrig verschlang, während unweit davon im Wirtshause, jetzt zur „Eibe" genannt, die älteren Leute ihre durstigen Kehlen labten.

An dieser Herberge vorbei führt ein steiler, aber zum Glück schattiger Weg in zehn Minuten zum Erholungsheim auf der Egg. So heißt nun die Wirtschaft auf dieser einladenden Höhe. Was einzig in seiner Art genannt werden muß, ist die herrliche Rundschau, die man von diesem Belvedere genießt. Von der Balfrisergruppe mit dem Faulfirst und Kammeck die Kette der Schweizer Berge entlang bis zum Bodensee schweift der Blick über die westliche Alpenkette, während ostwärts die Bergflanke des Bregenzerwaldes das Bild begrenzt. Vor uns aber liegt das breite Rheintal mit seinen zahlreichen zerstreuten Ortschaften: zählt man ja von dieser Warte aus 36 Kirchtürme in der Runde. Am schönsten aber ist die Sicht gegen Südosten über das friedlich unten liegende Korneliuskirchlein und über den Tostner Turm hinaus auf das freundliche Feldkirch mit der malerischen Schattenburg und weiter in den oberen Walgau bis zu den Montafoner Bergen.

Ich sah auf die Uhr. Herr des Himmels! Bald halb zwei Uhr. Doch der Gastwirt zeigte mir einen äußerst bequemen und schönen Abkürzungsweg, der auch über den Weiler Presch in zehn Minuten im Waldschatten zur St.-Wolfgang-Kapelle führte, von wo ich vor ein paar Stunden meinen Aufstieg zur Burgruine genommen hatte.

Quelle: Ludwig von Hörmann, Der Schellenberg, in: Der Alpenfreund, Monatshefte für Verbreitung von Alpenkunde unter Jung und Alt in populären Schilderungen aus dem Gesammtgebiet der Alpenwelt und mit praktischen Winken zur genußvollen Bereisung derselben. HG Dr. Ed. Amthor, 5. Band, Gera 1872, S. 41 - 47.


© digitale Version: www.SAGEN.at