Naturleben.

Zögernd nur und ungleichen Schrittes zieht der Frühling in die Alpen. Während jenseits der gewaltigen Zentralkette, in den sonnigen Gründen von Bozen und Meran, die Fluren längst vom üppigsten Grün überzogen sind, Pfirsiche und Mandeln blühen, der Kirschbaum mit seinem Blust Wege und Stege überschüttet, liegt der Norden noch im starren Halbschlummer des Winters, umwirbelt von Flockengestöber, durchtost von schneidend kalten Nordwinden. Schon das uralte Bauernsprüchlein:

Paul Bekehr
Der halbe Winter hin, der halbe her,

zeigt an, daß es um diese Zeit mit dem Lenzen noch seine guten Wege habe. Denn wenn wir mit Adam Riese vom 25. Januar noch stark zweieinhalb Monate nach vorwärts rechnen, so kommen wir mit dem Frühlingsbeginn ganz hübsch in den April hinein, was auch der Wirklichkeit entspricht. Wohl lockt die Sonne, die nach Lichtmeß allmählich erstarkt, an den südlichen Lehnen da und dort ein "Tschöppele" Grün hervor und leckt im schneeigen Fruchtanger "apere" Stellen aus, auf die man die Schafe treibt. Auch blaßroten Heiderich kann man an schönen Tagen schon pflücken, Schneeglöckchen und den lilafarbigen Krokus, aber im Großen und Ganzen kommt der Pflanzenwuchs nicht zum Durchbruch, denn was die liebe Sonne unter Tags anfgetaut hat, friert Nachts wieder zu neuem Eise.

Wenn daher Meister Lenz im März in's Alpenrevier blickt, so trifft er noch Alles in grenzenloser Unordnung und Unsauberkeit. Auf den Bergen und in den Schluchten liegen riesige Schneemassen, und die Talsohle, halb weiß, halb schmutzig braun, macht mit ihren vereinzelt stehenden Türkenschöbern, "zerlatterten" Zäunen, frischgedüngten Schneefeldern den Eindruck eines unaufgeräumten Zimmers. Das muß anders werden, denkt sich Meister Lenz, für diesen Augiasstall ist "Frau Godel" (Sonne) allein zu schwach. Er ruft daher den starken Knecht "Föhn" zu Hilfe, damit er mit seinem Kehrbesen Ordnung schaffe. Mitte März beiläufig langt dieser an. Schon Tags vorher verkünden blutrote Wolkenstreifen, die sich wie Feuergarben von Südwest nach Nordost am Abendhimmel hinziehen, seine Ankunft. Die Bergvorsprünge und Wälder werden schwarz, die Höhen umwirbelt wie ein Schleier der aufgewehte Schneestaub. Auch im Tale drunten macht sich das Nahen des Südwindes bemerkbar; die einzelnen "Türken"(Mais)-schöber, die noch vom Herbst her draußen auf dem Felde stehen, erscheinen auf der Südseite dunkel abgefegt und von den Bäumen flockt es unausgesetzt. Doch noch ist der Föhn nicht ausgebrochen. Klar und ruhig dämmert die Nacht herauf; wunderbar hell funkeln die Sterne. Am folgenden Morgen spürt man einen scharfen Zugwind, die Luft ist durchsichtig wie Glas und rückt alle Gegenstände dem Auge näher. Der Himmel leuchtet in jenem eigentümlichen Glanze, der wie Frühlingsahnung den Menschen erregt. Endlich gegen zehn Uhr Vormittags braust ein kräftiger Windstoß einher, ihm folgt ein zweiter, ein dritter - und der Föhn ist da.

Die Wirkung dieses "warmen Windes", wie er östlich von der Schweiz heißt, ist eine ganz unglaubliche. Was der Sonne in einem Monat nicht glückt, vollbringt er in drei Tagen. Er "frißt den Schnee", sagen die Bauern. Sein heißer Atem macht in Kürze die Talsohle strohtrocken und läßt von den Jöchern Lawine um Lawine niederdonnern. Die festgefügten Massen alten, steinharten Schnee's und Eises, welche der milde Sonnenstrahl nie aufzusaugen vermöchte, bewältigt er mit Leichtigkeit. Sein Walten hat etwas dämonisch Wildes, das Sinne und Nerven unheimlich erfaßt und aufregt. Wenn er nächtlicher Weile mit seinen gewaltigen Stößen heulend und sausend dürch's Tal fährt, daß die alten Bäume knarren, Scheunentore, Gebälke und Schindeldächer krachen und stöhnen, während dann plötzlich wie abgeschnitten lautlose Todesstille herrscht, so begreift man, wie Tiere und Menschen mit einem gewissen Angstgefühl vor diesem unwirschen Gesellen erfüllt sind. Und doch ist er der größte Wohltäter in den Alpen, der rettende - ich möchte fast sagen - Wind-Golfstrom, ohne den diese Gebirgsgegenden vergletschern müßten. Seine Herrschaft dauert gewöhnlich drei bis vier Tage, dann setzt sich an den Bergkämmen graulicher Dunst an, der Himmel überzieht sich erst mit weißlichem Flor, dann mit einer dichten Wolkendecke und es erfolgt ein vorübergehender Schnee oder Regen. Bald aber reißt die graue Hülle wieder und der Föhnsturm beginnt auf's Neue seine segenbringende Tätigkeit.

So geht es in regelrechten Jahren den halben März und halben April hindurch, bis der Schnee weit hinauf weggefressen und die Talsohle erweicht ist. Noch ein mehrtägiger "warmer" Regen, und es wird grün, es wird - Frühling in den Alpen. Wie wunderschön ist doch diese Tapezierarbeit des Meisters Lenz. Erst überzieht es sich an der sonnseitigen Lehne, wo der Mittagsstrahl so warm hineinfällt und die Bächlein voll Eile hinablaufen, mit frischem Grün, bald da, bald dort, je nachdem Boden und Lage günstig ist; dann rückt es weiter und weiter hinauf und greift zurück über die bereits saftgrünen Wintersaatfelder der Talsohle auf die Lehnen der Schattenseite. Die Blumenwelt bleibt nicht zurück. Der Huflattich streut seine Goldsterne in feuchte Lehm- und Schutthalden, der sanftrothe Heiderich überpolstert die Gehänge, und an freien Plätzen erscheint das Maasliebchen, das rotviolette röhrenblütige Lungenkraut, die grüngelbe Vogelmilch. Am Raine sonnt sich die purpurlippige und die gefleckte Taubnessel mit der gelben Ranunkel, in den sickernden Bachrünsten prahlt die pausbackige Dotterblume, am Waldsaum unter den Gebüschen sitzen gruppenweise die dreifarbigen Anemonen und das bescheidene Veilchen. - Ja, es ist eine wahre Pracht, an einem schönen Frühlingstage in den Alpen den ersten Spaziergang zu machen, wo aus jedem grünen Flecklein eine Lebenshoffnung lacht, die Haselbüsche uns mit ihrem Goldregen überschütten und tausend Blumenglocken den Ostertag in die Welt läuten, lind erst wenn die Bäume ihre neuen Kleider tragen mit dem Aufputz der schönen Blüten! Seht einmal die jungen saftgrünen Birken an neben den fahlroten Lärchen, und wie bei den Kirschbäumen die strotzende Lebenskraft aus den harzigen Knospen bricht. Ist das nicht eine helllichte Pracht! Wunderlieblich sind besonders die rosenrot blühenden Pfirsichbäumchen anzusehen und die weißrot schimmernden Apfelbäume, die gleich riesigen Blumensträußen im grünen Anger stehen. Darüber wiegt sich wie ein goldenes Engelchen der gelbe Zitronenfalter, am pechigen Kirschbaume klebt der braune Fuchs; Käfer, Fliegen, Hummeln, Bienen schwirren und summen kreuz und quer durch die Luft, auf dem dampfenden Boden krabbeln Spinnen, huschen Grillen, Feldmäuse, Eidechsen, Blindschleichen, auf den Äckern sucht der Rabe nach Fruchtkörnern. Der schwarze Griesgram bekommt bald Gesellschaft. Tag für Tag wird Baum und Strauch von den gefiederten Frühlingsboten belebter, das Orchester vollständiger. Der Fink singt sein "Zizizi Bräutigia, Bräutigam zieh, sollst Hochzeit halten und kommst nie", die Wachtel tutet ihr "Findst mi nit, findst mi nit", der Zeisig trällert sein geistreiches "Zigelgeng", von den Amseln, Drosseln, Rotkehlchen, Spechten und Meisen gar nicht zu reden. Das ist ein wirres Durcheinanderzwitschern, Schlagen, Pfeifen und Wispeln, daß man sein eigenes Wort kaum versteht. Auch der Zaunkönig produziert am Waldsaum sein neuestes Stücklein und der niedliche Baumläufer, über Alle aber schwingt sich die Lerche, die heitere Frühlingsbotin, und ruft der durchreisenden Frau Nachtigall ihr jubelndes Grüßgott zu.

Und der Mensch im Hochgebirge? Es bleibt mir die Antwort fast im Halse stecken, aber offen gesprochen, der Gebirgsbauer, so viel ich ihn kenne, kümmert sich in seinem mehr auf das Praktische gerichteten Sinne um die Schönheit des neugekommenen Frühlings nur insofern, als er ihm ein gutes oder schlechtes Jahr voranzeigt. Nicht die Schönheit ist für ihn maßgebend, sondern die richtige Zeit, wann der Frühling eintritt und die Umstände, die ihn begleiten. Mit ängstlicher Sorge beobachtet er daher schon von Neujahr an alle ererbten Wetterzeichen, die ihm den richtigen Zeitpunkt für seine Feldarbeiten andeuten. Keine Zeit des Jahres ist reicher an Loostagen und Wetterregeln, als diese vier, fünf ersten Monate. Vor Allem fürchtet er ein zu voreilig eintretendes Frühjahr, wenn z. B. ein wunderschöner März den ganzen Pflanzenwuchs herauslockt. Weiß er ja, daß der Umschlag der Witterung nur zu bald eintritt und ein später Nachwinter die Blütenknospen und Wintersaat verdirbt, "Was im März aufgeht, soll man mit Eisenstecken hinabschlagen", sagt der Bauer, und "Märzenregen mit den Fingernägeln hinauskrallen". Viel lieber sieht er in diesem Monat, wenigstens in der ersten Hälfte desselben, noch Schnee, eingedenk des Spruches: "Märzenschnee düngt" oder wie er in seinen derben Ausdrücken noch sagt: "Der März soll eingehen wie eine Sau und aus wie eine Frau", Hingegen sieht er den April gern schön, weil er ihn zum "Baum" der Felder braucht. Eine besondere Aufmerksamkeit schenkt er auch dem Wind, vorzüglich dem "Gregoriwind". In früheren Zeiten stieg man z. B. in Alpach am Gregoritag (12. März) sogar auf die Bäume, um zu forschen, ob er nicht komme. Denn:

Gregoriwind
Geht, bis Georgi (24. April) kimmt.

Damit ist nämlich jener scharfe Nordostwind gemeint, der dem austrocknenden "warmen Wind" die Waage hält und die zu rasche Entfaltung der Vegetation verhindert. Wenn man übrigens dieses Kunterbunter von Wetterregeln prüft, so muß man unwillkürlich lachen, so widersprechend ist oft ihr Inhalt. Zudem müßte der liebe Herrgott hexen können, wenn er es allen Bauern recht machen wollte. Der will an dem und dem Tag ein "warmes Regele", der "a bissele Schnee", der Dritte meint, jetzt sollt' halt der "Sommerwind" kommen, und so gehen die Wünsche durcheinander, je nachdem einer sandigen oder lehmigen Boden hat und diese oder jene Fruchtgattung bauen will.

Quelle: Ludwig von Hörmann, Das Tiroler Bauernjahr, Jahreszeiten in den Alpen, Innsbruck 1899, S. 1 - 8.
Rechtschreibung behutsam neu bearbeitet und auf den aktuellen Stand gebracht.
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