Enzian (Gentiana-Arten)

aus: E. Hoffmann-Krayer, H. Bächtold-Stäubli, Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens,
Berlin und Leipzig 1932

gestickte Sondermarke, Briefmarke "Enzian" der österreichischen Post

Briefmarke "Enzian" der österreichischen Post.
gestickte Sondermarke
Erscheinungsdatum: 19. September 2008
Auflagenhöhe: 400.000
Entwurf: Hämmerle & Vogel GesmbH & Co KG

1. Botanisches. Die verschiedenen blaublühenden Enzianarten werden in der volkskundlichen Literatur nicht immer auseinandergehalten und meist kurz als „Enzian“ bezeichnet, so dass eine genauere Identifizierung schwierig ist. Die Enzianarten sind z.T. Gebirgspflanzen. In der Ebene wächst der Kreuz-Enzian (G. cruciata), kenntlich an seiner vier zähligen Blütenkrone und den gekreuzt gegenständigen Blättern. Auf Moorwiesen ist hin und wieder der Lungen-Enzian (G. pneumonanthe) mit lineal-lanzettlichen Blättern anzutreffen. Im Alpengebiet und im südlichen Deutschland blüht der Frühlings-Enzian (G. verna), dessen zahlreiche Volksnamen zeigen, dass er allgemein im Volke bekannt ist. Die stattlichste Art ist der gelbe Enzian (G. lutea), dessen Hauptverbreitungsgebiet die Alpen und Voralpen (auch in den Vogesen, im Schwarzwald und auf der Schwäbischen Alb kommt er vor) sind 1).

1) Marzell Kräuterbuch 269 f. 504.

2. Eine alte Zauberpflanze ist der Kreuz-Enzian. Als „Madelger“ 2) fand er vor allem Verwendung im Liebeszauber 3). Mittelalterliche Segen beim Ausgraben des Madelgers, in denen auf seine Eigenschaften als Aphrodisiacum angespielt wird, sind verschiedentlich erhalten 4). Nach diesen Beschwörungen muss die Pflanze an Johanni oder an einem Samstag früh, wenn die Sonne aufgeht, gegraben werden. Ihr Ansehen besagt auch der alte Wurzelgräberspruch: „Modelgeer ist aller Wurtzel ein Ehr“ 5). Thurneyssers „Archidoxa“ (16. Jh.) bringen den Spruch:

Verbeen (s. Eisenkraut), agrimonia (s. Odermennig), modelgeer
Charfreytags graben hilfft dich sehr
Daß dir die frawen werden holdt,
Doch brauch kein eisen, grabs mit goldt 6).

Den Grund für die Verwendung im Liebeszauber sieht Bock 7) darin, dass „die wurzel (des Kreuz-Enzians) wie ein weiblich glid zerspalten ist, darum die Circëischen Weiber ihren Handel damit treiben“. Tatsache ist, dass der Wurzelstock der Pflanze häufig gespalten ist, daher auch die alte Bezeichnung „Sperenstich“ für den Kreuz-Enzian. Nach den oben erwähnten Segen soll der hl. Petrus (deshalb „Peterswurz“) die Wurzel mit seinem Speer durchstoßen haben. Auf die „Signatur“ der wie mit einem Speer durchstoßenen Wurzel geht wohl auch der Glaube zurück, dass man nicht verwundet wird, wenn man die Wurzel am Halse trage 8). In Frankreich werden dem Fieberkranken neun Stengel des kleinen Enzians (petite gentiane), die am Himmelfahrtstag vor Sonnenaufgang gesammelt sind, um den Hals gehängt 9). – Unter dem „blauen Orant“ (Dorant, s.d.), der besonders in Ostdeutschland als zauberwidrige Pflanze genannt wird, scheint eine Enzianart (wahrscheinlich G. pneumonanthe) zu verstehen zu sein 10). Drei „Spierken“ vom blauen Orant, neben das Butterfass gelegt, schützen es vor Hexerei 11). Auch Hagen 12) sagt vom Lungen-Enzian, dass „der Pöbel vormals diese ohnehin seltene Pflanze begierig aufsuchte, um sie den Kindern gegen das Behexen in die Wiege zu legen“ 13). Wenn der Jäger sicher sein wollte, dass ihm sein Rohr nicht „versprochen“ werde, so fütterte er den Flintenstein mit Enzianwurz. Die Wurzel musste am Samstag vor Sonnenaufgang mit einem Pfennig ausgegraben, unter das Altartuch gelegt und von dem Pfarrer, der nichts davon wissen durfte, mussten drei Messen darüber gelesen werden 14).

2) Über den Namen vgl. Grimm Myth. 2, 1012.
3) Höfler Botanik 70 ff.
4) ZfdMyth. 2, 170; 3, 333; Schmeller BayrWb.2 1, 1568; Grimm Myth. 3, 355.
5) Bock Kreuterbuch 1539, 1, 70 v.
6) Grimm Myth. 2, 1003.
7) a.a.O.; ebenso Mattioli Kreuterbuch 1563, 258.
8) Albertus Magnus 20 Toledo 1, 45.
9) Sébillot Folk-Lore 3, 494.
10) SAVk. 23, 172.
11) Jahn Hexenwesen 180.
12) Preußens Pflanzen 1818, 1, 214.
13) Vgl. auch Frischbier Hexenspruch 10.
14) Perger Pflanzensagen 170 nach einem „Jägerbrevier“.

3. Der Kreuz-Enzian (und wohl auch ihm ähnliche Enzianarten) ist ein altes Mittel gegen Viehseuchen, das vielleicht aus dem Osten zu uns gekommen ist. Nach einer ungarischen Sage schoss König Ladislaus der Heilige (1077–1095) nach göttlicher Eingebung bei einer Pestseuche einen Pfeil (vgl. oben „Sperenstich“) in die Luft ab und die Pflanze, auf die der Pfeil niederfiel, sollte gegen die Pest heilsam sein. Der Pfeil fiel auf den Kreuz-Enzian. Daher heißt er in Ungarn Lásló Király füve (= Kraut des hl. Ladislaus) 15). Das ist die gleiche Sage, wie sie von Karl dem Großen und der Eberwurz (s.d.) erzählt wird. Im 16. Jh. hatten die Hirten im Westrich ihre „Superstition“ mit dem Kreuz-Enzian und gaben ihn bei Schweinesterben (Viehseuche!) zerhackt ins Futter 16). Als „Schelmenkraut“ (Viehschelm = dämonische Viehseuche) wurde der Enzian in der Schweiz angewendet, wenn die Kühe von giftigen Spinnen gebissen waren 17); in der mährischen Walachei geben die Schafhirten die Pflanze „prostřelec“ (anscheinend der Kreuz-Enzian) dem Vieh gegen Verzauberung zu fressen 18). Der Kreuz-Enzian (und andere Enzianarten) gelten seit alters als Mittel gegen den Biss wütender Hunde 19). Der Enzian muss zu diesem Zweck zwischen den beiden Frauentagen gegraben werden 20). Im 18. Jh. gab man im Zillertal den Kühen, die „zittern und keine Milch geben“ (also offenbar eine Dämonenkrankheit), sog. Zittkräuter, zu denen auch der stengellose Enzian (G. acaulis) gehörte 21). Gegen Kolik der Pferde wurde in Mecklenburg das Kraut „Stah up und gah weg“ (= Lungen-Enzian) eingegeben. Darauf wurde ein Spruch gemurmelt, der mit den Worten „Stah up und gah weg“ schloß 22). „Steh auf und geh weg“ ist die Bezeichnung verschiedener Heilpflanzen wie für den echten Ehrenpreis, die Liebstöckelwurz usw. 23), jedenfalls eine Anspielung auf das biblische „Steh auf und wandle“.

15) Beythe Nomenclator stirpium pannonicus. Antverp. 1583; vgl. Botan. Zeitung 17 (1859), 6; Gubernatis Myth. des plant. 2, 155 f.; Hovorka u. Kronfeld 1, 124.
16) Bock Kreuterbuch 1539, 71 r.
17) Aretius Stocchorni descriptio 1560, 234 v.
18) ZföVk. 13, 25.
19) Pallas Reise durch versch. Provinzen d. russ. Reiches 1 (1776), 34; Wiss. Mitt. Bosn. Herc. 2, 546; Schullerus Pflanzen 392.
20) Nach einem im 17. Jh. niedergeschriebenen Arzneibuch: Alemannia 12, 26.
21) Schrank u. Moll Naturhist. Briefe usw. 2 (1785), 109; Höfler Krankheitsnamen 855.
22) Schiller Tierbuch 3, 26.
23) Vgl. Holfert-Arends Volkstüml. Namen d. Arzneimittel5 1908, 207.

4. Der Frühlings-Enzian gilt, wie verschiedene andere blaublühende Pflanzen, als gewitter anziehend. In Süddeutschland heißt es vielfach, dass man ihn nicht abreißen dürfe, sonst schlage der Blitz ein 24). Auf der Schwäbischen Alb heißt daher die Pflanze Hausa(n)brenner 25). Auch als Totenblume gilt der Frühlings-Enzian; wenn man ihn abreißt, stirbt jemand 26). In der Schweiz sieht man in dem schneeweißen, walzenförmigen Blütengriffel des Frühlings- Enzians ein „Tötli“ (kleine Leiche) 27). Wie von verschiedenen anderen Frühlingspflanzen (s.d.) heißt es auch vom Frühlings-Enzian, dass man nicht daran riechen dürfe, sonst bekomme man Sommersprossen (bayr. Roßmucken), daher auch „Roßmuckenveigerl“ genannt 28).

24) Marzell Bayer. Volksbot. 134; Bohnenberger 112; Fischer SchwäbWb. 4, 692.
25) Losch Volksnamen 1899, 3; so heißt auch der Hirschkäfer, weil das Haus anbrennt, in das man ihn bringt: Grimm Myth. 1, 152.
26) Meyer Baden 577.
27) SchweizId. 5, 91.
28) Marzell Bayer. Volksbot. 182.

Marzell.