Die Gespensterkirche

In Bergreichenstein lebte eine alte gottesfürchtige Frau. Einmal zur Adventzeit weckte der Mond das alte Waberl auf, und sie sah die Küche licht und meinte, es graue schon und sie habe verschlafen. Da warf sie den Mantel um und eilte zur Nikolaikirche, daß sie die Frühmesse nicht versäume. Kein Mensch war auf der Gasse, aber das wunderte die Alte nicht, sie meinte, die Leute wären alle schon in die Messe. Die Kirche war hoch erleuchtet und drin spielte die Orgel und die Leute sangen eifrig dazu. Da setzte sich das Waberl in ihren Stuhl. Wie sie aber um sich schaute, da sah sie einen fremden Pfarrer am Altar und in den Bänken saßen wildfremde Leute in vergangenen Trachten und auch Bekannte und Verwandte, aber das waren lauter Verstorbene, und darunter saßen auch ihre toten Eltern, doch kümmerten sie sich gar nicht um sie. Alle schauten das Waberl an mit scharfen feindseligen Augen. Da kam ihre verstorbene Taufpatin
zu ihr und warnte sie und wisperte, sie solle verkehrt aus der Kirche gehen und beim Tor den Mantel fallen lassen. Das Waberl folgte und ging in großer Angst rücklings zur Tür. Da schössen alle die wilden Toten auf sie zu. Schnell warf sie den Mantel weg und sprang zur Kirche hinaus und rannte heim. Da schlug es ein Uhr. In der Früh fand man auf jedem Grab einen Fetzen des Mantels. Das Waberl aber überlebte den Schrecken nicht lange.

Quelle: Hans Watzlik, Böhmerwald-Sagen, Budweis 1921 (Böhmerwalder Dorfbücher, 5. Heft)