Der Holzsteg über die Sihl

Vor altersgrauer Zeit wohnte eine reiche Witfrau mit ihrem einzigen Sohn auf dem Gut im Bostadel zu Finstersee. Über die nahe Sihl führte damals nur ein schmaler, schwankender Holzsteg. Wenn die bösen Gewitter kamen und das Sihlwasser anschwoll, zitterte die Brücke und nur selten wagte ein eiliger Wanderer den gefährlichen Holzsteg zu beschreiten. Wiederum war einmal ein schreckliches Unwetter über den Menzingerberg gefahren und die Sihl wälzte ganze Baumstämme in ihrem wilden Bette. Der Sohn der Witfrau vom Bostadel wollte aber trotz allen Gefahren ins nahe Zürichbiet, und die Mutter bat ihn umsonst, doch das Unwetter abzuwarten und bei ihr zu bleiben. Das Bitten und Betteln der Mutter war umsonst. Der Sohn ging und als er mitten auf der Brücke stand, kam eine gewaltige Welle der Sihl und spühlte den Wagehals vom schmalen Stege in die gierigen Fluten. Vom Zuger Ufer aus hatte die besorgte Mutter den jähen Tod ihres einzigen Kindes miterlebt, und um in Zukunft allen Müttern den großen Schmerz um ein ertrunkenes Kind zu ersparen, verschenkte sie ihren ganzen Waldbesitz am Gottschalkenberg, daß man aus dem Holz einen festen, breiten Steg bauen solle und aus dem Waldertrag alljährlich die Brücke verbessere und unterhalte. Seither führt der Wald den Namen Stegholz-Wald.

Quelle: Hans Koch, Zuger Sagen und Legenden, Zug 1955, S. 87