Die Puppe auf Klariden

Auf der Klaridenalp zwischen Glarus und Uri sömmerten vor mehreren Jahrhunderten ein Senn und zwei Knechte ihr Vieh. Es war eine reichgesegnete Alp, auf der so milchreiche Kräuter wuchsen, dass man die Kühe dreimal täglich melken konnte. Die drei Männer hatten wenig Arbeit, denn das Vieh brauchte auf der Weide fast nicht gehütet zu werden, und es wurde nicht gestallt. So wurde es den dreien zu wohl. Sie wurden übermütig. Der Senn sagte: "Es scheint, dass der Herrgott vergessen hat, dass auf Klariden auch Menschen leben. Wenn wir nur einen vierten zum Kartenspiel hätten oder wenigstens ein Weibervolk, das uns die Hütte besorgt. Aber wenn der Herrgott keinen schickt, so mache ich selber einen. So groß wird die Kunst nicht sein."

Eines Tages suchte der Senn wirklich allerlei alte Fetzen und Hudeln zusammen, zerschlissene Hosen, einen alten Filzhut und siebenmal geflickte Socken. Er trennte das Zeug auf und schneiderte daraus eine lebensgroße Puppe zusammen, die einem Weibe ähnlich war und die er mit Heu ausstopfte.

Die Männer nannten die Puppe Zurrimutzi und trieben allerlei Mutwillen mit ihr. Sie legten sie unter die Kühe und molken ihr ins Maul. Sie setzten sie beim Kartenspiel an den Tisch und klemmten ihr die Spielkarten in die steifen Finger. Nachts nahmen sie sie mit in ihr Lager. Beim Essen setzten sie sie zu sich an den Tisch, fragten spöttisch: "Zurrimutzi, willst du auch etwas?", warfen ihr einen Löffel Nidel zu oder strichen ihr Milchreis ins Maul. Schließlich drückten sie ihr einen Löffel in die Hände und wollten sie essen lehren.

Als der Senne der Puppe wieder einmal Nidel ins Gesicht strich, geschah etwas Unheimliches: Die Puppe verzog das Maul, die Augen verloren den gläsernen Blick und wurden lebendig, der Mund klaffte auf, Geifer floss der unheimlichen Gestalt über die Lippen, und der Rahm verschwand zwischen den Zähnen.

Die Männer erschraken zu Tode. Sie wollten fliehen, aber als sie sahen, dass die Puppe ruhig am Tische sitzen blieb und selbst weiterlöffelte, kehrten sie zögernd in die Hütte zurück. In den folgenden Tagen begann die Puppe maßlos zu fressen. Sie fraß für drei und verschlang alles, was man ihr vorsetzte: Käse, Brot, Butter, Milch, Reis, Nidel. Es wurde aus ihr eine große, feste, unförmige Weibsperson. Alle Sonntage mussten der Senn und die beiden Knechte sie auf die benachbarte Alp hinübertragen, um sie dort an die Sonne zu legen. Mit der Zeit wurde sie so schwer, dass die drei Männer zusammen sie kaum mehr zu tragen vermochten.

Schließlich fing die Gestalt auch an zu sprechen. Sie half den Männern in der Hütte, fuhr mit dem Besen herum, wusch mit plumpen Händen die Gepsen und kochte kübelweise Essen, für sich am meisten.

Wenn die Männer abends Karten spielten, spielte sie mit. Und wer's mit ihr hatte, der gewann immer. Manchmal rannte sie wie wild auf dem Dach der Alphütte hin und her, so dass es polterte, als galoppierten ein Dutzend Pferde darüber hinweg.

So ging der Sommer vorüber, und der Herbst kam. Die Alptriften erbleichten, und der Winter hatte schon die ersten Vorboten auf die Bergspitzen gelegt. Die Älpler, die zu Tal fahren mussten, schämten sich, den hässlichen, mächtigen Weibspfropfen mit sich zu nehmen, weil sie das Gespött und Geschwätz der Leute fürchteten. Sie ratschlagten lange, was mit dem Unwesen zu geschehen hätte. Totschlagen mochten sie es nicht, und es einfach einsperren und verhungern zu lassen, brachten sie auch nicht über sich. So beschlossen sie denn, das Weib am Morgen der Alpabfahrt nicht zu wecken und sich in grauer Morgenfrühe lautlos und heimlich davonzumachen.

Der Morgen der Alpabfahrt kam. In aller Stille machten die Sennen ihre Kühe bereit, banden den Saumpferden die Habe auf und wollten fort. Da stand aber plötzlich das Weib unter der Türe und reklamierte. Mit ernster und deutlicher Gebärde gebot es dem Sennen als dem Oberhaupt der Alp, bei ihm zu bleiben. Die andern zwei könnten zu Tal fahren, aber ohne sich ein einziges Mal umzusehen.

Der Senne war einverstanden, er wolle mit dem Weibsbild schon allein fertig werden, sagte er. Nicht leichten Herzens verließen die beiden andern die Alp. In einer Alphütte auf halber Höhe blieben sie über Nacht und wollten dort auf ihren Meister warten. Der aber kam nicht.

Am andern Morgen stiegen die beiden wieder der Alp zu. Sie beteten bei jeder Wegbiegung ein Vaterunser. Als sie sich der Alphütte näherten, sahen sie ein Wesen auf dem Hüttendach umherhopsen. Beim Näherkommen erkannten sie die lebendig gewordene Puppe. Ein kaltes Grausen überlief sie. Sie blieben wie angewurzelt stehen. Die Puppe hatte die Haut des Sennen zum Trocknen über das Hüttendach ausgebreitet. Und während sie zuschaute, wie das Blut in die Dachrinne tropfte, hüpfte sie von einem Bein aufs andere. Wie sie die beiden Knechte erblickte, brüllte sie: "Wer hat euch beten heißen, ihr Lumpen? Wenn ihr nicht gebetet hättet, so bisse ich euch wie dem da die Gurgel durch!"

Da rannten die zwei Sennen zu Tal und schauten nicht mehr zurück, bis sie die Kapelle im Urner Boden erreichten.

Quelle: Die schönsten Schweizer Sagen, Nacherzählt von Peter Baumgartner, Innsbruck 1969, S. 63 - 67.