368. Die weißen Gemsen

Ein Quintner Gemsjäger sah auf den Freibergen der Kurfirsten sechs schneeweiße Gemsen mit hochroten Füßen.

Obwohl er wissen konnte, daß nach einer alten Überlieferung das Töten solcher Gemsen Unglück bringe und auch ohnehin das Erlegen von Gemsen auf den Freibergen gesetzlich verboten sei, übernahm ihn die Begierde, eine zu schießen.

Als er dann aber in geeigneter Distanz auf einen prächtigen Bock anlegte und schoß, flog sein Stutzer in vielen Stücken auseinander und verstümmelte ihm die eine Hand auf grausige Weise.
J. Natsch

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Die Sage, daß weiße Gemsen nicht geschossen werden können, ist vielverbreitet; es sind nicht Tiere, sondern unschuldig verzauberte Menschen.

Quelle: Sagen des Kantons St. Gallen, Jakob Kuoni, St. Gallen 1903, Nr. 368, S. 206f
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Irene Bosshard, Juni 2005.