80. Die Plöhligeiß

Einst lebte in Rüti eine Witwe, die sehr geizig und jähzornig war. Sie hatte ein einziges Kind, ein Mädchen von sechs Jahren. Dieses hielt sie sehr streng zur Arbeit an; wenn es nicht leistete, was es sollte, so bekam es nichts zu essen. Einst mußte die Kleine den ganzen Tag Heidelbeeren suchen und kam am Abend spät heim, ohne das mitgenommene Geschirr ganz gefüllt zu haben. Darüber wurde die Mutter zornig und schickte das Mädchen wieder fort, damit es bei der hellen Vollmondnacht das Versäumte nachhole. Das Mädchen wollte nicht gehen, weil es sich fürchtete. Endlich ging es doch, jedoch nur bis zum Plöhli, einer Bergwiese nördlich von Rüti, wo es jämmerlich zu schreien anfing. Die Mutter eilte ihm nach; aber nun fürchtete es sich noch mehr, weil es den Zorn der Mutter kannte. Diese, durch das Geschrei des Kindes ganz außer sich gebracht, hieb auf dasselbe ein, bis es tot zu Boden sank. Da erschrak das Weib und wollte durch allerlei Liebkosungen das Kind wieder zum Leben erwecken. Die ganze Nacht irrte sie mit der Leiche im Arm im Plöhli umher. Am Morgen kamen die Leute, nahmen ihr das tote Kind ab und legten es an der Stelle in ein Grab, wo es von seiner Mutter ermordet worden. Das Weib wurde bald darauf krank und starb. Es konnte jedoch im Grabe keine Ruhe finden, sondern mußte seither immer in mondhellen Nächten als schneeweiße Ziege im Plöhli umherirren, die man bis zum Rhein hinaus kläglich mekern hörte. Seit einer Reihe von Jahren hat man von der Plöhligeiß nichts mehr verspürt. Wahrscheinlich hat sie nun ihren Frevel abgebüßt.
D. Gächter

Nach der Aussage anderer bedeutet das Läuten der Plöhligeiß heftige Gewitter mit Überschwemmungen.

Quelle: Sagen des Kantons St. Gallen, Jakob Kuoni, St. Gallen 1903, Nr. 80, S. 36f
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Irene Bosshard, April 2005.