209. Der geheimnisvolle Krämer

Ein Italiener, Namens Sander, hatte mehrere Sommer hindurch seinen Krämertisch im Korridor des Badgebäudes aufgeschlagen. Seine gut assortierten Schmuckartikel fanden unter den Badgästen immer reißenden Absatz.

Den Badangestellten und Stammgästen kam es aber nach und nach sehr sonderbar vor, daß der Italiener stetsfort einen reichlichen Vorrat von Waren befaß, obschon er täglich viel davon verkaufte und niemand wahrnehmen konnte, wie, wann und woher er dieselben erhielt.

Dieses Rätsel wurde endlich gelöst. Sander hatte nämlich einen Schlafkameraden, welcher einmal um Mitternacht im Schlafzimmer aus- und eingehen und vor der Türe deutlich sprechen hörte. Auf das flehentliche Bitten des einen, daß ihm die verabredete Frist noch um ein Jahr verlängert werde, erwiderte der andere: "Dein Ausreden und Bitten hilft nichts mehr; es ist nun einmal Zeit, daß du mitkommst; ich lasse dich diesmal nicht mehr los!"

Hierauf blieb alles stille. Ein höllischer Gestank erfüllte das ganze Badgebäude, Krämer Sander war und blieb verschwunden; doch fand man am Morgen zunächst hinter der Trinklaube, auf der Quellenbrücke, die da über die wilde Tamina führt, die Pantoffeln und den Schlafrock desselben.
I. Natsch.

Quelle: Sagen des Kantons St. Gallen, Jakob Kuoni, St. Gallen 1903, Nr. 209, S. 101
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Irene Bosshard, Juni 2005.