DER SPIELMANN ZU SANKT GALLEN

Auf einer großen Versammlung der Schweizer Kantone in Baden sollten an einem gewissen Tag die Abgeordneten der dreizehn eidgenössischen Orte in dem Herrenhof prächtig bewirtet werden. N. Steuchler, ein Spielmann zu St. Gallen, kam an demselben Tag in Sankt Gallen auf die Brücke am Multertor; da fand er nebst mehreren Bürgern auch den hochberühmten Theophrastus Paracelsus auf einer Bank sitzen und redete ihn folgendermaßen an: »Nun werden die Herren Gesandten sich zu Baden im Herrenhof lustig machen; denn ich habe gehört, sie halten heute da eine prächtige Mahlzeit. Wäre ich nun dort, ich könnte mir mit meinem Spiel einen schönen Stüber verdienen.« Darauf sprach Paracelsus: »Habt Ihr Lust, ein gut Trinkgeld da zu gewinnen, dann geht und zieht andere Kleider an, nehmt Eure Flöte und kommt wieder her, und ich will Euch ein Pferd besorgen, auf dem Ihr binnen einer halben Stunde in Baden seid.«-»Herr Theophrastus«, antwortete Steuchler, »ich weiß, daß Ihr mehr versteht als andere Leute; ich will denn gehen und tun, wie Ihr gesagt.« Er ging flugs nach Hause, kleidete sich um und kam bald zurück an das Multertor, wo ihn Paracelsus erwartete. »Geh nun«, sprach dieser zu ihm, »nach der Spießhütte, da findest du ein weißes Pferd gesattelt. Setze dich darauf und reite damit hin, aber sieh wohl zu, daß du nicht sprichst, ehe du wieder abgesessen bist, dann siehst du binnen einer halben Stunde Baden.« Steuchler bedankte sich, ging nach der Spießhütte und fand das Pferd wirklich dort, band es los, setzte sich darauf und fuhr durch die Luft hin, kam auch in einer halben Stunde zu Baden an, welches doch sechzehn tüchtige Stunden von Sankt Gallen entlegen ist. Gleich am Schloß ließ das Pferd sich nieder, er sprang ab und es verschwand. Zur Stunde begab er sich in den Herrenhof und spielte vor dem Gesandten von Sankt Gallen sehr künstlich auf seiner Flöte. Als der Gesandte ihn sah, fragte er ihn barsch: »Welcher Teufel hat dich denn hierher getragen?« Steuchler antwortete: »Ja, Herr, der lebendige Teufel und kein andrer Heiliger«, und erzählte alles, was ihm begegnet war, fügte aber hinzu: »Gott behüte und bewahre mich, daß ich nie wieder ein solch Pferd besteige.« Der Gesandte merkte die Zeit an, wo er Steuchler in Baden gesehen und fragte später in Sankt Gallen, wann er noch da gesehen worden, befand dann auch, daß er nicht mehr und nicht minder Zeit gebraucht zu der Fahrt als eine halbe Stunde.


Quelle: Johannes Wilhelm Wolf, Deutsche Märchen und Sagen. Leipzig 1845. Nr. 138, S. 245 f.