Das goldene Tor

Nicht weit von der Stadt Zürich weg liegt ein hübsches, kleines Dorf, Kloten geheißen. Von seinen Hügelzügen aus kann man bis an die Schneeberge sehen. In der Nähe des traulichen Dörfleins liegt seitab ein kleiner Weiher, den man das "guldin Tor" nennt. *)

Die Mütter warnen ihre Kinder, besonders die Knaben, dem Weiher nahe zu kommen, weil es dort nicht recht geheuer sei. Nicht daß der Weiher tief wäre, aber es gibt darin eine Menge unheimlicher Löcher, die unergründlich tief sind und aus denen beständig ein feiner Sand in winzigen Goldblättchen heraufquillt.

Einst, vor vielen Jahren, hütete ein Knabe vor dem Weiher die Schafe. Und da es heiß war und er schläfrig wurde, überließ er die Herde seinem wachbaren Hunde und legte sich am Wasser nieder, um etwas auszuruhen und sich durch den kühlen Odem des Teiches erfrischen zu lassen.

Aber kaum lag er am Weiherrand, da fing das Wasser an unruhig zu werden, und ein ganzer Wirbel Goldsand stieg aus der unheimlichen Flut auf. Verwundert schaute er in das goldene Sprudeln und Quillen. Da rauschten die Wasser auf, und eine schöne Jungfrau zeigte sich dem erschrockenen Knaben.

Erst wollte er auf und davon heimzu laufen, doch da sah er, wie ihn die Jungfrau gar so lieb anlächelte. Wie er nun zögernd liegenblieb, erblickte er an ihrer Hand einen Ring, den sie ihm zustreckte. Der Ring war aber so wunderschön und gab einen solchen Glanz von sich, daß der Knabe ihn nur immer anstaunen mußte. Und als ihm die schöne Jungfrau den Ring immer näher unter die Augen hielt, versuchte er ihn schnell zu erhaschen. Jedoch sie zog den Ring flink zurück, streckte ihn aber gleich wieder nach ihm, worauf er wieder danach griff, aber vergeblich. So lockte sie ihn beständig, und je schwerer es ihm wurde, den Ring zu haschen, desto eifriger ward er, ihn zu bekommen. Also beugte er sich völlig über Bord, und auf einmal fiel er mit einem lauten Aufschrei ins goldfarbige Wasser hinein.

Jetzt umschlang ihn die Jungfrau und fuhr mit ihm in die Tiefe. Noch ein paar Kreise verliefen sich zum Bord, und dann ward alles totenstill.

Aber nun eilte ein Bauer, der den Angstschrei des Knaben gehört hatte, herbei. Doch er sah nichts mehr von dem Jungen, den er noch vor kurzem unter seiner Herde am Weiher hatte liegen sehen. Er mußte ins Wasser gefallen sein. Wie er sich auch Mühe gab, im Wasser etwas von dem Knaben zu sehen, er konnte kein Fetzchen von ihm gewahren, obschon das Wasser topfeben und spiegellauter war.

Auf einmal fuhr er erschrocken zurück, denn da schoß ja der vermißte Knabe aus einem Quellenloch wie ein Pfeil wieder herauf. Rasch packte ihn der Bauer am Kittel und zog ihn ans Land. Da lag er nun naß wie eine Pelzkappe im Regentümpel am Bord und gab keinen Laut von sich. Der Bauer rieb ihn tüchtig, knetete ihn wie einen Brotteig und sog ihm den Atem. Da erholte sich der Hüterjunge allmählich, und wie er nun wieder ganz bei Bewußtsein war, erzählte er, wie's ihm ergangen war. Nämlich, als ihn die Wasserjungfrau gepackt und umschlungen habe, sei sie mit ihm mit reißender Geschwindigkeit unendlich tief hinabgefahren. Da habe sich unten plötzlich eine wunderschöne Gegend aufgetan. Und als sie nun auf festen Grund gekommen seien, habe er auf einmal eine große, herrliche Stadt mit einem goldenen Tore gerade vor sich gesehen. Im selben Augenblick sei das goldene Tor aufgegangen, und eine andere schöne Jungfrau sei herausgekommen. Da habe die Jungfrau, die ihn umschlungen hielt, rasch die Arme geöffnet, um jener entgegenzueilen. Aber wie er nicht mehr festgehalten worden sei, habe ihn ein Wasserwirbel gepackt und mit solcher Schnelligkeit emporgerissen, daß ihm die Sinne vergangen seien.

Also erzählte der Knabe. Danach lockte er seine Herde und trieb sie nachdenklich nach Hause.

Später ging er dann noch oft zu dem geheimnisvollen Weiher, aber die schöne Jungfrau hat er nie wieder gesehen.

*) So war es noch um Dorf und Landschaft bestellt, als der Verfasser seine "Schweizer Sagen" aufschrieb. Heute zeigt die Karte an jenem Ort, nördlich des Flughafens, unter dem Namen "Goldentor" nur noch ein Sümpflein an.

Quelle: Meinrad Lienert, Schweizer Sagen und Heldengeschichten, Stuttgart 1915.
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Bettina Stelzhammer, Jänner 2005.