Volksversammlung der Latiner

Troianer und Latiner hatten ihre Toten unter Tränen und Opfern bestattet; die lauteste Wehklage und längste Betrübnis aber war bei den letzteren. Trauernde Mütter, Witwen, Schwestern, Knaben, ihrer Väter beraubt, irrten durch die Stadt umher, verfluchten den Krieg und das Eheverlöbnis des Turnus. Diese Stimmung verstärkte noch der Abgesandte Drances, indem er versicherte, daß nur Turnus von Aineias verlangt, nur er zur Entscheidung des Krieges durch einen Zweikampf herausgefordert werde. Auf der anderen Seite wurde auch Turnus von der entgegengesetzten Meinung eifrig verteidigt; ihn deckte der mächtige Name der Königin Amata; sein eigener Ruhm und die errungenen Siege verherrlichten ihn in den Augen des Volkes.

Die Niedergeschlagenheit der Latiner vermehrte indessen eine Botschaft, durch welche eine lang gehegte Hoffnung vereitelt wurde. Im unteren Teile Italiens, in Daunien, saß, auf der Rückkehr von Troia durch die Nachstellungen seiner treulosen Gattin von seiner Heimat Aitolien zurückgehalten, der große Griechenheld Diomedes, der Sohn des Tydeus, und hatte dort die Stadt Argyripa gegründet. Gleich beim Ausbruch des Krieges hatte Turnus zu diesem alten Feinde der Troianer einen Rutulerhelden, namens Venulus, abgeschickt, welcher demselben meldete, daß Troianer, von Aineias, dem Schwiegersohne des Königs Priamos, angeführt, im Latinerlande sich festgesetzt hätten und ein zweites Troia gründen wollten. Gegen diese verhaßten Ankömmlinge hatte Turnus die Hilfe des Königs Diomedes verlangt. Mitten in jener Aufregung nun kam Venulus, der Botschafter des Turnus, aus der griechischen Pflanzstadt des Diomedes zurück und brachte keine günstige Antwort mit. Damit war die letzte Hoffnung des alten Königs Latinus verschwunden. Niedergebeugt von Kummer, berief er die Häupter des Volkes zu einer großen Versammlung in seinen Königspalast, setzte sich mit düsterer Stirn auf seinen Herrscherthron und hieß den zurückgekommenen Boten mit seinen Begleitern Bericht erstatten.

"Bürger", begann hier Venulus, "wir sahen den Helden Diomedes und die Pflanzstadt der Argiver, unter den Eichenwäldern des Berges Garganus auf der schönen Anhöhe gelegen. Als wir ihm Namen und Heimat gesagt, unsere Geschenke vor ihm ausgebreitet und ihm gemeldet hatten, wer uns mit Krieg heimsuche, erwiderte uns der große Fürst .mit freundlichem Angesicht: ‚O ihr glücklichen Völker Ausoniens, ihr unter der Obhut des guten Saturnus lebenden, welch ein Schicksal stört auch euch aus der Ruhe auf? Wir Sieger Troias sind die Elendesten unter allen Sterblichen! Selbst Priamos müßte uns bemitleiden, wenn er schaute, wie schwer wir unseren Übermut büßen müssen. Der Lokrer Aias hat im Meere sein Grab gefunden; Agamemnon liegt im eigenen Hause erschlagen; Menelaos irrt in Aigypten umher; Odysseus zitterte vor den Kyklopen. Auch mir haben die Götter die Wiederkehr in meine Heimat mißgönnt; erlasset mir die Erzählung! Ich bin kein Mann des Glückes mehr, seit ich es gewagt habe, die unsterbliche Aphrodite im Kampfe zu verwunden! Darum reizet mich nicht zu neuen Gefechten! Seit Troia gefallen ist, bin ich kein Feind der Troianer mehr, denke auch nicht mit Freuden an das Übel zurück, das ich ihnen zugefügt. Die Geschenke, die ihr mir von Hause bringt, überreichet sie dem Aineias! Ich habe mich im Kampfe mit ihm gemessen: glaubet mir's, er ist ein gewaltiger Mann, wenn er sich mit seinem Schild emporbäumt und im Wirbel die Lanze dreht! Wären nach Hektors Tode noch zwei Männer wie er in Troia gewesen, so hätte die Welt nichts von unserem Siege zu erzählen. Darum, bietet die Hände zum Frieden, so lange es noch Zeit ist: seinen Waffen seid ihr nicht gewachsen.'"

Als Venulus seinen Bericht beendigt hatte, entstand ein murrendes Tosen in der Volksversammlung, wie ein Gießbach durch Felsen rauscht. Wie die bewegten Lippen endlich still wurden, sprach der König Latinus von seinem hohen Throne herab: "Wir führen einen unglückseligen Krieg, ihr Bürger, mit unbezwinglichen Männern, mit einem Göttergeschlecht. Beherziget deswegen, was ich euch verkündigen will. Nicht fern von dem Tiber, gegen Abend, besitze ich ein altes Gebiet, von Rutulern und Aurunkern bebaut und beweidet und von Fichtenbergen begrenzt. Dieses will ich den Troianern abtreten und sie zu Reichsgenossen aufnehmen; dort mögen sie sich ansiedeln und die verheißene Stadt begründen. Ziehen sie es aber vor, ein anderes Land aufzusuchen, so wollen wir ihnen Erz, Schiffsbauzeug und Hände darreichen, um sich fünfzig Ruderschiffe zu bereiten und auszurüsten. Außerdem sollen hundert Gesandte aus den edelsten Geschlechtern von Latium sich aufmachen, mit Friedenszweigen in der Hand, und ihnen Gold, Elfenbein und Mantel und Thron als Reichsklemodien darbringen."

Da stand der alte Drances in der Versammlung auf, ein reicher, beredter Mann, obwohl kein Held im Kampfe mehr, der seit langer Zeit den Ruhm des Turnus mit Scheelsucht betrachtete, und rief: "Vortrefflicher König, es fehlt nur eins noch! Du solltest zu den herrlichen Geschenken, die du den Troianern zu senden befiehlst, auch noch die Hand deiner Tochter Lavinia hinzufügen, und so den Frieden mit einem ewigen Bunde besiegeln!" Jetzt entbrannte das Herz dem Turnus, der eben erst von seiner Vaterstadt zurückgekehrt, sich unter die Volksversammlung gemischt hatte. Aus der tiefsten Brust emporatmend, rief er: "O Drances, so oft der Krieg Fäuste verlangt, bist du mit der Zunge da! Jetzt aber gilt es nicht, den Ratssaal mit Worten anzufüllen: die Feinde umringen unsere Stadt, gefochten will es sein! Was wird uns der Aitoler Diomedes und seine Pflanzstadt helfen, wenn unser eigener Arm, wenn Latium, wenn ganz Volskerland, das sich für uns erhoben hat, es nicht vermag? Wenn es sich aber nur um meine Seele handelt: die ist euch längst geweiht; wenn es wahr ist, daß Aineias mich allein herausfordert: ich bin Turnus, er soll mich finden!"

Während die Latiner so sich über die Lage ihres Reiches zankten, kam Aineias mit seinem ganzen Gefolge heran, und plötzlich stürmte die Botschaft durch den Palast, daß Troianer und Etrusker vom Tiberstrome hergezogen kämen.