Sturm des Turnus abgeschlagen

Schmetternd ertönten die Trompeten der Rutuler. Ein Schrei erhob sich in dem ganzen Lager, und der Widerhall von den Bergen antwortete. Von allen Seiten stürmten die Feinde heran, rückten unter den Schilddächern vor, mühten sich, die Gräben auszufüllen und die Schanzen einzureißen, und schon legten sie an den Stellen, wo die Vorfechter des Lagers dünner auf den Zinnen standen, die Sturmleiter an die Mauern. Die Troianer dagegen, durch die lange Verteidigung ihrer Vaterstadt im Belagerungskampfe wohlgeübt, entsandten Geschosse aller Art, wälzten Steine und Felsblöcke auf die Schilddächer und stießen die Emporkletternden mit Spießen danieder. Schon setzten die angerückten Rutuler das blinde Gefecht nicht mehr fort, sondern lenkten ihre Schritte rückwärts von den Mauern und versuchten es nur mit Lanzenwürfen, die Teukrer vom Walle hinwegzutreiben. Endlich richteten sie alle ihre Streitkräfte auf einen hoch emporragenden Turm, der durch schwebende Brücken mit der Lagermauer verbunden war. Diesen zu erobern, strengten sich die Rutuler um die Wette an, die Troianer aber verteidigten ihn, indem sie jetzt von der Zinne herab Steine wälzten, jetzt durch hohle Schießscharten Pfeile hinunterschnellten. Endlich schleuderte Turnus eine Brandfackel, die, an die Seite des Turmes sich anhängend, das Getäfel ergriff. Ehe die Verteidiger sich flüchten konnten, stürzte das unterhöhlte Gebälk zusammen, und krachend setzte sich der Turm zu Boden. Die einen fielen mit ihm, von den eigenen Waffen durchbohrt, die anderen spießten sich in die Trümmer des Holzes; und viele von denen, die noch unversehrt waren, sahen sich bald von Scharen des Turnus umringt und wurden niedergehauen. Endlich erwehrten sich die Troianer der Zudrängenden. Der Knabe Askanios, der bisher nur fliehendes Wild mit seinen Pfeilen zu erlegen gewohnt war, durchbohrte dem Remulus, der kürzlich des Turnus jüngere Schwester gefreit hatte und auf diese Auszeichnung stolz prahlend auf die Teukrer eindrang und sie feige Phrygier schalt, das Haupt mit einem sicheren Pfeilschuß. Die Troianer jubelten, und die erschreckten Feinde machten einen Schritt rückwärts. Iulos wollte sie verfolgen. Da stellte sich ihm Apollon selbst, dem alten Waffenträger seines Großvaters, der ihm vom Vater beigegeben war, an Gestalt und Stimme gleich, in den Weg und sprach: "Sohn des Aineias, dir genüge, daß du einen Helden ungestraft erlegt hast; diesen Beginn deines Ruhmes hat Apollon dir vergönnt, für jetzt aber meide den Krieg!" Die Fürsten Ilions erkannten die Gegenwart des Gottes und hielten den Iulos vom weiteren Kampfe ab. Sie selbst aber erneuerten das Gefecht, und der Schlachtruf tönte um die äußersten Bollwerke der Mauer fort. Als die innerhalb der Tore aufgestellten troianischen Wächter hörten und sahen, wie ihre Freunde draußen so mutig und kraftvoll kämpften, faßten Pandaros und Bitias, die Söhne Alkanors vom Berg Ida, stark und schlank wie ihre heimischen Tannen, den trotzigen Entschluß, das ihnen vom Feldherrn anvertraute Tor zu öffnen und im Übermute den Feind in die Mauern einzuladen. Sie selbst aber standen inwendig mit blinkenden Schwertern rechts und links am Eingang, und von ihren hohen Helmen nickten die Federbüsche. Als die Rutuler die Torflügel offen sahen, stürmten sie, ohne sich zu besinnen, hinein. Aber vier oder fünf ihrer Helden, mit einem ganzen Gefolge von Kriegern, fielen unter den Stößen und Streichen der beiden Jünglinge oder wurden in schmählicher Flucht zum offenen Tore hinausgetrieben.

Jetzt wagten die Troianer sich schon in dichteren Scharen zusammenzurotten; ein regelmäßigeres Handgemenge entspann sich, und die Rutuler wurden rückwärts gedrängt. Als Turnus, der auf einer anderen Seite stritt, die Nachricht von dieser neuen Wendung des Kampfes erhielt, stürzte er, von gräßlichem Zorn gespornt, mit einer auserlesenen Schar von Kriegern herbei und warf sich über eine Bahn von troianischen Leichen auf das geöffnete Lagertor. Seine mächtige Lanze, aus der Ferne geschleudert, durchbohrte den Bitias, daß der Boden von seinen fallenden Riesengliedern bebte und der Schild auf den Liegenden herniederrasselte. Die Troianer flohen zurück in das Tor, und nach drängten sich die siegenden Rutuler. Da faßte Pandaros mit einem Blick auf die ausgestreckte Leiche seines Bruders die Torflügel in ihren Angeln und warf sie, mit den Schultern angestemmt, in die Wölbung zurück, daß das Tor verschlossen war und viele Troianer im Gefecht draußen, viele Rutuler in die Mauern eingezwängt zurückblieben. Aber der Unbesonnene hatte nicht bedacht, daß mitten unter den Eingeschlossenen Turnus selbst sich befand, wie ein Tiger, der in den Stall eingelassen ist. Voll Entsetzen erkannten die Troianer das schreckliche Gesicht und die riesigen Glieder. Nur Pandaros, ein Riese wie er, erschrak nicht. Voll Erbitterung über die Ermordung seines Bruders, stellte er sich ihm entgegen und rief: "Hier bist du nicht im Palast der Schwiegermutter, schmachtender Bräutigam, im Feindeslager stehst du und wirst nicht wieder hinauskommen!" Turnus lächelte nur und erwiderte ganz ruhig: "Bind' an, wenn du es wagst und beginne nur den Zweikampf: und wenn du ein Hektor wärest, so sollst du deinen Achilles finden!" Pandaros schleuderte darauf seinen Wurfspieß ab, in dem die Rinde noch mit allen Knoten saß; aber Hera lenkte das Geschoß ab, und die Lanze flog in den Torflügel. Jetzt bäumte sich Turnus und schwang sein Schwert: "Diesem Streiche wirst du nicht entfliehen", schrie er und spaltete ihm die Schläfe mitten durch die Stirn, daß das Haupt, in gleiche Teile zerhauen, dem Zusammensinkenden von den Schultern herunterhing.

Zitternd stäubten die Troianer auseinander; und wäre dem Sieger jetzt der Gedanke gekommen, das Tor wieder zu öffnen und seine Freunde hereinzulassen, so wäre es um die neue Ansiedelung Troias geschehen gewesen. So aber ließ er sich von der Mordlust betören und drang von Sieg zu Sieg mit den Seinen immer tiefer in das Innere des Lagers ein. Schon war die Verwirrung bis zu Serestos und Mnestheus gedrungen, die in der Mitte der Mauern befehligten. Da brachte zuerst Mnestheus die fliehenden Freunde mit den Worten zur Besinnung: "Wohin wendet ihr euch, Unsinnige, was für andere Mauern, was für andere Burgen besitzt ihr? Soll ein einziger Mann, ringsumschlossen von euren Wällen, ungestraft ein solches Gemetzel unter euch anrichten? Habt ihr euer Vaterland, euren Führer Aineias, die Götter eurer Heimat so schamlos vergessen?" Mit solchen Reden beschämte und kräftigte er die Fliehenden, daß sie, in eine dichte Rotte zusammengedrängt, wieder standhielten. Den Turnus hatte der siegreiche Kampf selbst allmählich ermüdet. Zum Tore zurückzudringen konnte er nicht mehr hoffen; so kämpfte er sich mühsam vorwärts, wo das Lager ohne Mauern an den Fluß grenzte. An den Sandbänken des Stromes angelangt, zog er sich mit schnelleren Schritten, doch noch ohne Flucht, zurück, und wenn ihm der Feind zu nahe auf den Leib kam, trieb er ihn immer noch siegreich mit dem Schwerte zurück. Nun flogen aus der Ferne von allen Seiten Geschosse nach ihm, von den anprallenden Steinen erklang sein Helm, der Busch war zerfetzt, der Schild steckte voll Speere und ward so schwer, daß seine Linke ihn kaum mehr zu halten vermochte. In diesem Augenblick stürmte auch Mnestheus in blitzenden Waffen auf ihn zu, und wie flüssiges Pech rann ihm der Schweiß über den Leib. So war er fechtend am Rande des Flusses angekommen. Da zum erstenmal kehrte Turnus dem Feinde den Rücken und warf sich in voller Rüstung in die Wogen des Tiberstroms. Dieser nahm den Kommenden willig auf und trug ihn mit sanften Wellen aus dem Bereiche des Lagers ans Gestade, wo er bald, von Blut und Staub rein gewaschen, bei den Seinigen ankam.