Die Rache

Da streifte sich Odysseus die Lumpen rückwärts von den Armen, und Bogen und Köcher voll Geschosse in der Hand, sprang er auf die hohe Schwelle; hier schüttelte er sich die Pfeile vor seinen Füßen aus und rief in die Versammlung hinab: "Der erste Wettkampf wäre nun vollbracht, ihr Freier! nun folgt der zweite: und jetzt wähle ich mir ein Ziel, wie es noch kein Schütze getroffen hat; und doch gedenke ich es nicht zu verfehlen." So sprach er und zielte mit dem Bogen auf Antinoos. Dieser hob eben den gehenkelten goldenen Pokal und führte ihn ahnungslos zum Munde. Da fuhr ihm der Pfeil des Odysseus in die Gurgel, daß die Spitze aus dem Genick hervordrang. Der Becher entstürzte seiner Hand; dem Erschossenen fuhr ein dicker Blutstrahl aus der Nase, und während er zur Seite sank, stieß er den Tisch samt den Speisen mit dem Fuße um, daß diese auf den Boden rollten. Als die Freier den Fallenden gewahrten, sprangen sie tobend von ihren Thronsesseln auf; rings durchforschten sie die Wände des Saales nach Waffen; aber da war kein Speer und kein Schild zu sehen. Nun machten sie sich mit grimmigen Scheltworten Luft: "Was schießest du auf Männer, verfluchter Fremdling? Unseren edelsten Genossen hast du getötet. Aber es ist dein letzter Schuß gewesen, und bald werden dich die Geier fressen." Sie meinten nämlich, er habe ihn, ohne es zu wollen, getroffen, und ahnten nicht, daß sie alle das gleiche Schicksal bedrohe. Odysseus aber rief mit donnernder Stimme zu ihnen herunter: "Ihr Hunde, ihr meinet, ich komme nimmermehr von Troia zurück; deswegen verschwelget ihr mein Gut, verführet mein Gesinde, warbet bei meinem Leben um mein eigenes Weib, scheutet Götter und Menschen nicht! Jetzt aber ist die Stunde eures Verderbens gekommen!"

Wie sie solches hörten, wurden die Freier bleich, und Entsetzen ergriff sie. Jeder sah sich schweigend um, wie er entfliehen möchte; nur Eurymachos faßte sich und sprach: "Wenn du wirklich Odysseus von Ithaka bist, so hast du ein Recht, uns zu schelten, denn es ist viel Unziemliches im Palast und auf dem Lande geschehen. Aber der, der an allem schuldig war, liegt ja bereits von deinem Pfeil erschossen. Denn Antinoos ist's, der das alles angestiftet hat, und zwar warb er nicht einmal ernstlich um deine Gemahlin, sondern er selbst wollte König in Ithaka werden und gedachte deinen Sohn heimlich zu ermorden. Doch der hat ja nun sein Teil: du aber schone deine Stammesgenossen; laß dich versöhnen! Jeder von uns soll dir zwanzig Rinder zum Ersatz für das Verzehrte bringen, auch Erz und Gold, so viel dein Herz verlangt, bis wir dich wieder günstig gemacht haben!" -"Nein, Eurymachos", antwortete Odysseus finster, "und wenn ihr mir all euer Erbgut bötet und noch mehr, ich werde nicht ruhen, bis ihr mir alle mit dem Tod eure Missetaten gebüßt habt. Tut was ihr wollt: kämpfet oder fliehet - keiner wird mir entrinnen!"

Odysseus tötet Penelopes Freier

Odysseus tötet Penelopes Freier
Stahlstich nach Vorlage von John Flaxman
aus der dritten Auflage 1854

Herz und Knie zitterten den Freiern. Noch einmal sprach Eurymachos, und zwar jetzt zu seinen Freunden: "Liebe Männer, dieses Mannes Hände wird niemand mehr aufhalten, ziehet die Schwerter, wehrt sein Geschoß mit den Tischen ab: alsdann werfen wir uns auf ihn selber, suchen ihn von der Schwelle zu verdrängen; dann zerstreuen wir uns durch die Stadt und rufen unsere Freunde auf." So sprach er, zog sein Schwert aus der Scheide und sprang mit gräßlichem Geschrei empor. Da durchbohrte ihm der Pfeil des Helden die Leber; das Schwert sank ihm aus der Hand, er wälzte sich mitsamt dem Tische zu Boden, warf Speisen und Becher zur Erde und schlug mit der Stirn auf den Estrich. Den Sessel stampfte er mit den Füßen hinweg; es waren die letzten Zuckungen, und er lag tot auf dem Boden. Nun stürmte Amphinomos gegen Odysseus hinan, um sich mit dem Schwerte Bahn durch den Eingang zu machen. Aber diesen erreichte Telemachos' Speer im Rücken zwischen den Schultern, so daß er vorn aus der Brust hervordrang und der Getroffene auf das Angesicht zu Boden fiel. Telemachos entzog sich nach dieser Tat dem Gewühl der Freier durch einen Sprung und stellte sich zu seinem Vater auf die Schwelle, dem er einen Schild, zwei Lanzen und einen ehernen Helm zubrachte. Dann eilte er selbst zur Tür hinaus und in die Rüstkammer. Hier suchte er für sich und die Freunde noch weitere vier Schilde, acht Lanzen und vier Helme mit wallendem Roßschweif aus. Damit waffneten sie sich, er und die beiden treuen Hirten. Die vierte Rüstung brachten sie dem Odysseus, und so standen nun alle vier nebeneinander.

So lange dieser noch Pfeile hatte, streckte er mit jedem Schuß einen Freier darnieder, daß sie übereinander taumelten. Dann lehnte er den Bogen an den Türpfosten, warf sich eilig den vierfachen Schild über die Schultern, setzte sich den Helm aufs Haupt, dessen Busch fürchterlich nickte, und faßte dann zwei mächtige Lanzen. In dem Saale war noch eine Seitenpforte angebracht, die in einen Gang führte, der in den Hausflur auslief. Die Öffnung der Pforte war aber eng und faßte nur einen einzigen Mann. Dieses Pförtchen hatte Odysseus dem Eumaios zur Hut anvertraut; nun aber, da jener seine Stelle verlassen, sich zu waffnen, blieb es unbewacht. Einer von den Freiern, Agelaos, bemerkte dieses. "Wie wäre es", rief er, "Freunde, wenn wir uns durch die Seitenpforte flüchteten und so in die Stadt gelangten, um das Volk aufzuwiegeln, dann hätte der Mann bald ausgewütet!" - "Sei kein Tor", sagte Melanthios zu ihm, der Ziegenhirt, der in der ' Nähe stand und auf der Seite der Freier war, "Pforte und Gang sind so eng, daß nur ein einzelner Mann hindurch kann, und wenn sich von jenen vieren nur einer davorstellt, so wehrt er uns allen. Laß lieber mich unbemerkt hinausschlüpfen, so hol ich euch Waffen genug vom Söller." Dies tat der Ziegenhirt und kam auf wiederholten Gängen mit zwölf Schilden und ebenso vielen Helmen und Lanzen zurück. Unerwartet sah Odysseus seine Feinde mit Rüstungen umhüllt und lange Speere in den Händen bewegend. Er erschrak und sprach zu seinem Sohne Telemachos: "Das hat uns eine der falschen Mägde oder der arge Geißhirt zugerichtet!" - "Ach, Vater, ich bin selbst daran schuld", erwiderte Telemachos, "ich habe vorhin, als ich die Waffen holte, die Tür der Rüstkammer in der Eile nur angelehnt." Der Sauhirt eilte nun hinauf zur Kammer, um sie zu verschließen. Durch die offene Tür sah er, wie drin schon wieder der Geißhirt stand, um weitere Waffen zu holen. Er eilte mit dieser Nachricht nach der Schwelle zurück. "Soll ich mich des Schalks bemächtigen?" fragte er seinen Herrn. "Ja", erwiderte dieser, "nimm den Rinderhirten mit, überfallet ihn in der Kammer, drehet ihm Hände und Füße auf den Rücken und hängt ihn mit einem starken Seil an die Mittelsäule der Kammer, daß er in Qualen harre. Dann schließt die Tür zu und kehret zurück." Die Hirten gehorchten. Sie beschlichen den Falschen, wie er eben im Winkel der Kammer nach Waffen umherspähte. Als er wieder zu der Schwelle kam, in der einen Hand einen Helm, in der anderen einen alten verschimmelten Schild, packten sie ihn, warfen den Schreienden zu Boden, fesselten ihm Hände und Füße auf dem Rücken, knüpften an einen Haken der Decke ein langes Seil, schlangen es um seinen Leib und zogen ihn an der Säule bis dicht an die Balken empor. "Wir haben dich sanft gebettet", sprach der Sauhirt, "schlaf wohl!" Nun verschlossen sie die Pforte und kehrten auf ihre Posten zu den Helden zurück. Unverhofft gesellte sich zu den vieren ein fünfter Streiter: es war Athene in Mentors Gestalt, und Odysseus erkannte die Göttin freudig. Als die Freier den neuen Kämpfer bemerkten, rief Agelaos zornig hinauf: "Mentor, ich sage dir, laß dich durch Odysseus nicht verleiten, die Freier zu bekriegen, sonst ermorden wir mit Vater und Sohn auch dich und dein ganzes Haus." Athene entbrannte bei diesen Worten, sie spornte den Odysseus an und sprach: "Dem Mut scheint mir nicht mehr derselbe zu sein, Freund, wie du ihn zehn Jahre lang vor Troia bewiesest. Durch deinen Rat sank diese Stadt, und nun, wo es gilt, in deiner eigenen Heimat Palast und Gut zu verteidigen, zagest du den Freiern gegenüber?" So sprach sie, seinen Mut anzufeuern, für ihn zu streiten gedachte sie nicht. Denn plötzlich schwang sie sich in Vogelgestalt empor und saß, einer Schwalbe gleich, auf dem rußigen Gebälk der Decke. "Mentor ist wieder hinweggegangen, der Prahler", rief Agelaos seinen Freunden zu, "die vier sind wieder allein. Laßt uns nun den Kampf wohl überlegen; nicht alle zugleich werfet euere Lanzen, sondern ihr sechs da zuerst; und zielet mir fein alle nur auf Odysseus: liegt er nur erst, so kümmern uns die anderen wenig!" Aber Athene vereitelte ihnen den gewaltigen Wurf: des einen Lanze durchbohrte den Pfosten; des andern fuhr in die Tür, andern blieb sie in der Wand stecken. Jetzt rief Odysseus seinen Freunden zu: "Wohl gezielt und geschossen!" und alle vier schickten ihre Lanzen ab und keiner fehlte: Odysseus traf den Demoptolemos, Telemachos den Euryades, den Elatos der Sauhirt, der Rinderhirt den Peisander, welche miteinander in den Staub sanken. Einen Augenblick flüchteten sich die noch übrigen Freier in den äußersten Winkel des Saales; bald aber wagten sie sich wieder hervor und zogen die Speere aus den Leichnamen. Dann schossen sie neue Lanzen ab; die meisten fehlten wieder, nur der Speer des Amphimedon streifte dem Telemachos die Knöchelhaut an der einen Hand, und des Ktesippos Lanze ritzte dem Sauhirten die Schulter über dem Schild. Beide wurden zum Lohne von den Verletzten durch Lanzenwürfe getötet, und der Sauhirt begleitete seinen Wurf mit den Worten: "Nimm dies, du Lästerer, für den Kuhfuß, mit dem du meinen Herrn beschenktest, als er noch im Saale bettelte."

Den Eurydamas hatte der Wurf des Odysseus niedergestreckt. Jetzt erstach er mit der Lanze Agelaos, den Sohn des Damastor; Telemachos jagte dem Leiokritos den Speer durch den Bauch; Athene schüttelte ihren verderblichen Aigisschild von der Decke herab und jagte den Freiern Entsetzen ein, daß sie wie Kinder, von der Bremse gestochen, oder wie kleine Vögel vor den Klauen des Habichts, im Saale hin und her irrten. Odysseus und seine Freunde waren von der Schwelle herabgesprungen und durchwüteten mit Morden den Saal, daß überall Schädel krachten, Röcheln sich erhob und der Boden von Blut floß.

Einer der Freier, Leiodes, warf sich dem Odysseus zu Füßen, umklammerte seine Knie und rief: "Erbarme dich! nie habe ich Mutwillen in deinem Hause getrieben, habe die anderen gezähmt, aber sie folgten mir nicht! Ich bin ihr Opferer und habe nichts getan, soll ich denn auch fallen ?" - "Wenn du ihr Opferer bist", erwiderte Odysseus finster, "so hast du wenigstens für sie gebetet!" Und nun raffte er das Schwert des Agelaos, das dieser im Tode hatte sinken lassen, vom Boden auf und hieb dem Leiodes, während er noch flehte, das Haupt vom Nacken, daß es in den Staub hinrollte.

Nahe an der Seitenpforte stand der Sänger Phemios, die Harfe in den Händen. Er überlegte in der Todesangst, ob er sich durch das Pförtchen in den Hof zu retten suchen oder die Knie des Odysseus umfassen sollte. Endlich entschloß er sich zu dem letzteren, legte die Harfe zwischen dem Milchkrug und Sessel zu Boden und warf sich vor Odysseus nieder. "Erbarme dich meiner", rief er, seine Knie umschlingend, "du selbst bereutest es, wenn du den Sänger erschlagen hättest, der Götter und Menschen mit seinem Lied erfreut. Ich bin der Lehrling eines Gottes, und wie einen Gott will ich dich im Gesänge feiern! Dein Sohn kann es mir bezeugen, daß ich nicht freiwillig hierher kam, daß sie mich gezwungen haben zu singen!" Odysseus hob das Schwert, doch er zögerte; da sprang Telemachos herzu und rief: "Halt, Vater, verwunde mir diesen nicht, er ist unschuldig; auch den Herold Medon, wenn er nicht schon von den Hirten oder dir ermordet ist, laß uns verschonen: er hat auch mich schon als Kind im Hause so sorglich gepflegt und wollte uns immer wohl." Medon, der in eine frische Rinderhaut gehüllt unter seinem Sessel verborgen lag, hörte die Fürbitte, wickelte sich los und lag bald Telemachos flehend zu Füßen. Da mußte der finstere Held Odysseus lächeln und sprach: "Seid getrost ihr beide, Sänger und Herold, Telemachos' Bitte schützt euch. Gehet hinaus und verkündiget den Menschen, wie viel besser es sei, gerecht als treulos zu handeln." Die zwei eilten aus dem Saal und setzten sich noch immer vor Todesangst zitternd im Vorhofe nieder.