Odysseus als Bettler im Saal

Im Innern des Hauses wurde Telemachos zuerst den Sauhirten gewahr und rief ihn heran. Eumaios schaute sich vorsichtig um, ergriff den leeren Stuhl, auf welchem der Fleischzerleger vor dem Mahl zu sitzen pflegte, und setzte sich auf einen Wink an den Tisch seines Herrn, diesem gegenüber, wo ihm sofort der Herold Fleisch und Brot reichte. Bald nach ihm wankte auch Odysseus der Bettler am Stabe herein und setzte sich innerhalb der Pforte auf die Schwelle von Eschenholz nieder, an den einen der schön geschnitzten Türpfosten aus Cypressenholz gelehnt. Sobald Telemachos ihn erblickte, langte er aus dem vor ihm stehenden Korbe ein ganzes Brot, nahm dazu eine Handvoll Fleisch und gab beides dem Sauhirten mit den Worten: "Hier, mein Freund, reiche diese Gabe dem Fremdling und sage ihm, er solle sich der Scham entschlagen und bei den Freiern herumbetteln!" Odysseus empfing die Gabe segnend mit beiden Händen, legte sie sich vor die Füße auf seinen Ranzen und fing an zu essen. Das ganze Mahl über hatte der Sänger Phemios die Gäste mit seinem Lied ergötzt; jetzt schwieg er, und man hörte nur noch den wilden Lärm der Schmausenden durch den Saal. In diesem Augenblick näherte sich die Göttin Athene unsichtbar dem Odysseus und trieb ihn an, Brocken von den Freiern einzusammeln, um die billiger Denkenden von den 'rohen unterscheiden zu lernen. Aber dennoch war ihnen allen miteinander das Verderben von der Göttin zugedacht; es sollte nicht einer milderen Todes sterben als der andere. Odysseus befolgte das Geheiß der Göttin, ging flehend von Mann zu Mann und streckte seine Hand hin, so geläufig, als wäre er seit lange das Betteln gewöhnt. Manche zeigten sich mitleidig und gaben ihm, und es entstand ein Fragen unter den Freiern, woher der Mann wohl kommen möge. Da sagte zu ihnen der Ziegenhirt Melanthios: "Ich habe den Burschen zuvor schon gesehen, der Sauhirt hat ihn hereingebracht!" Diesen fuhr jetzt der Freier Antinoos zornig an: "Du berüchtigter Sauhirt, sage uns, warum hast du diesen Menschen in die Stadt geführt? Haben wir nicht Landstreicher genug, daß du uns auch noch diesen Fresser in den Saal schleppst?" - "Harter Mann", antwortete Eumaios gelassen, "den Seher, den Arzt, den Baumeister, den Sänger, der uns durch seine Lieder erfreut, sie alle beruft man wetteifernd in die Paläste der Großen; den Bettler hat niemand berufen, er kommt von selber, aber man stößt ihn auch nicht hinaus! Und das soll auch diesem nicht geschehen, so lange Penelope und Telemachos dies Haus bewohnen." Aber Telemachos hieß ihn schweigen und sagte: "Bemühe dich mit keiner Antwort, Eumaios, du kennst ja die böse Gewohnheit dieses Mannes, andere zu beleidigen. Dir aber, Antinoos, sage ich: du bist nicht mein Vormund, daß du mir gebieten dürftest, diesen Fremdling aus dem Hause zu treiben. Gib ihm vielmehr und schone meines Gutes nicht! Aber freilich, du willst lieber selbst verzehren als anderen geben!" - "Siehe da, wie der trotzige Knabe mich schmäht", rief Antinoos dagegen, "wollte jeder Freier diesem Bettler eine solche Gabe reichen wie ich, er würde drei Monate lang das Haus nicht wieder betreten! Damit ergriff er seinen Fußschemel, und als Odysseus auf seinem Rückwege zu der Schwelle eben an ihm vorüberging und auch ihn noch um eine Gabe anflehte, wobei er von langen Bettlerfahrten durch Aigypten und Kypros ihm vorjammerte, rief dieser unwillig: "Welch ein Dämon hat uns diesen zudringlichen Schmarotzer'gesandt! Weiche von meinem Tisch, daß ich dir dein Aigypten und Kypros nicht gesegne!" Und als Odysseus murrend sich zurückzog, warf ihm Antinoos den Fußschemel nach, daß dieser ihm rechts auf die Schulter fuhr, dicht ans Halsgelenk. Odysseus stand unverrückt wie ein Fels und schüttelte schweigend sein Haupt, voll von Entwürfen. Dann kehrte er zur Schwelle zurück, legte den mit Gaben gefüllten Ranzen zu Boden und klagte niedersitzend den Freiern die Kränkung, die ihm Antinoos angetan. Dieser aber rief dem Bettler zu: "Schweig und friß, du Fremdling, oder packe dich, sonst zieht man dich an Hand und Fuß über die Schwelle, daß dir die Glieder bluten!"

Diese Roheit empörte selbst die Freier; einer von ihnen erhob sich und sprach: "Antinoos, du hast nicht wohl daran getan, den Unglücklichen zu werfen. Wie nun, wenn es ein Himmelsbote wäre, der Menschengestalt angenommen? Denn solches geschieht ja manchmal!" Aber Antinoos achtete nicht auf diese Warnung. Telemachos selbst sah schweigend die Mißhandlung seines Vaters und drängte seinen Ingrimm in den Busen zurück.

In ihrem Frauengemach konnte Penelope durch die offenen Fenster alles vernehmen, was im Saal geschah. So hörte sie auch, wie es dem Bettler dort erging, und empfand Mitleid mit ihm. Sie ließ in der Stille den Sauhirten zu sich hereinrufen und befahl ihm, jenen kommen zu heißen. "Vielleicht", setzte sie hinzu, "weiß er mir etwas von meinem Gemahl zu berichten, oder hat ihn gar selbst gesehen, denn er scheint weit in der Welt umhergewandert zu sein." - "Ja", antwortete Eumaios, "wenn die Freier schweigen und hören möchten, er könnte vieles erzählen. Drei Tage schon beherberge ich ihn, und seine Berichte entzücken mein Herz, als wären sie das Lied eines Sängers. Er ist von Kreta und mit deinem Gemahl, wie er behauptet, durch väterliches Gastrecht verbunden. Und so will er denn auch wissen, daß Odysseus gegenwärtig im Land der Thesproter lebe und nächstens mit vielem Gute heimkehren werde." - "Geh", sagte Penelope bewegt, "rufe den Fremdling herbei, daß er mir selbst erzähle! Diese üppigen Freier! Es fehlt uns nur ein Mann, wie Odysseus war; käme dieser, so würden er und Telemachos den Trotzigen bald vergelten!" Als sie so sprach, nieste eben Telemachos im Saal so laut, daß das Gewölbe wiederhallte. Penelope mußte lächeln und sprach zum Sauhirten: "Hörst du, wie mein Sohn mir zuniest, ist das nicht eine gute Vorbedeutung? Rufe mir geschwind den Fremdling herbei!"

Eumaios meldete dem Bettler den Befehl Penelopes; dieser aber erwiderte: "Wie gern möchte ich der Königin erzählen, was ich von Odysseus weiß, und ich weiß viel von ihm; aber das Betragen der Freier flößt mir Besorgnis ein. Eben jetzt, wo ich durch den Wurf des bösen Mannes dort so schwer gekränkt worden bin, hat sich weder Telemachos noch ein anderer meiner angenommen. Darum soll Penelope für jetzt ihr Verlangen bewältigen, bis die Sonne untergegangen ist, dann soll sie mich an ihren Herd sitzen lassen, denn mich friert in meinen Lumpen; so will ich ihr alles mögliche erzählen." So begierig Penelope auf den Fremdling war, so konnte sie seinen Gründen doch nicht unrecht geben und beschloß, sich zu gedulden.

Eumaios kehrte unter das Gewühl der Freier zurück und flüsterte seinem jungen Herrn ins Ohr: "Ich will mich jetzt wieder nach meinem Gehege aufmachen, Herr; sorge du hier für das Nötige, zumal aber für dich selbst, und sei vor jeder Gefahr auf der Hut, welche von selten der arglistigen Freier dich bedrohen könnte." Auf die Bitte Telemachos' verweilte jedoch der Sauhirt noch bei Tische, bis es Abend geworden war, dann brach er auf und versprach, am frühen Morgen mit auserlesenen Schweinen wiederzukommen.