Turnus von Hera gerettet
Lausus und Mezentius von Aineias erschlagen

Die Rutuler wären verloren gewesen, wenn nicht Hera den Göttervater im Olymp demütig um die Erlaubnis angefleht hätte, Turnus, ihren Führer, aus der Hand des Aineias zu retten und der Schlacht zu entführen. "Verlangst du nur Verzug seines Todes", sprach Zeus, "so mag es immerhin sein! Wenn du aber damit das Schicksal des ganzen Krieges zu ändern vermeinst, so hegst du eine vergebliche Hoffnung." Weinend erwiderte Hera: "O daß dein Herz mir gewährte, was dein Mund mir verweigert! Soll mein unschuldigster Schützling so traurig endigen? Doch ich danke dir schon für den Aufschub; vielleicht lenkt dich deine Milde doch noch auf gnädigeren Beschluß!"

Hera, von Gewölken umgürtet, ließ sich vom Sturm durch die Lüfte tragen und hatte bald das Lager der Laurenter erreicht. Hier schuf sie aus einer hohlen Wolke ein wesenloses Schattengebild, das an Gestalt dem Helden Aineias täuschend ähnlich war, bekleidete es mit einem Schatten von Panzer, Schild und Helm, der herrlichen Rüstung des Göttersohnes nachgebildet, verlieh ihm den Schritt des Wandelnden und, ohne seinen Geist, den Hall seiner Stimme. So flog die Gestalt dahin wie ein Traumbild, das unsere Sinne trügt, mischte sich unter die vordersten Reihen der Kämpfenden, reizte den Turnus mit Geschossen und forderte ihn zum Kampf heraus. Turnus eilte der Gestalt entgegen und warf die Lanze nach ihr; da wandte jene den Tritt und bot ihm den Rücken. Mit gezogenem Schwert, unter höhnischem Ruf, folgte Turnus, und merkte nicht, daß er schon die Schlachtlinie verlassen hatte. Zunächst am Strande lag eines der etrurischen Schiffe. Dorthin warf sich das fliehende Bild des Aineias und schien sich zagend in seine Schlupfwinkel zu verbergen. Nicht langsamer folgte Turnus, sprang über die Brücke und faßte Fuß auf dem Vorderverdeck. Jetzt hatte Hera ihren Zweck erreicht. Kaum hatte Turnus den Bord berührt, so riß sie das Seil ab und ließ das Schiff von der gerade zurückrollenden Ebbe hinaus in die See tragen.

Inzwischen tobte der rechte Aineias im Kampfe fort und begehrte umsonst nach dem entfernten Feind. Sein Schattenbild aber verließ den Winkel, in dem es sich geborgen, und flatterte, von Turnus ungesehen, in die Luft. Als dieser seinen Feind nicht fand und vom Meereswirbel dahingerissen wurde, schaute er nach dem Lande zurück, ratlos und ohne Dank für seine Rettung. "Allmächtiger Vater", rief er, die Hände gen Himmel erhebend, "hieltest du mich so großer Schande würdig, wolltest du mich so hart bestrafen? Alle meine Freunde habe ich im grausamen Todeskampfe zurückgelassen: wie kehr' ich zu ihnen zurück? O, daß der Meeresgrund sich unter mir auftäte, daß die Winde mein Schiff an einer Klippe zerschellten!" Erst gedachte er sich ins Schwert zu stürzen und hatte es schon aus der Scheide gezogen, doch ein Versuch, zu den Seinigen zurückzukehren, deuchte ihm für diese selbst ersprießlicher, und so sprang er, gewaffnet wie er war, ms Meer. Aber Hera trieb die Wellen ihm entgegen. Der Strom nahm ihn mit sich fort, und erst bei seiner Vaterstadt Ardea spülten ihn die Wellen ans Land.

Die Schlacht vor den Lagermauern wütete fort. Die Troianer waren im Vorteil und jauchzten. Aber der vertriebene König von Agylla, der Etrusker Mezentius, der wildeste Bundesgenosse der Rutuler, der bisher bei der Hinterhut gehalten hatte, brach jetzt vor und stürzte sich auf die Feinde. Als die Etrusker ihren Todfeind herankommen sahen, stürmten sie in ihrem alten Hasse alle auf den einen los und bedrängten ihn von allen Seiten mit ihren Geschossen. Er aber stand wie ein Fels im Meer fest, streckte Etrusker und Phryger, wer ihm nahte, zu Boden. Bald war der Kampf wieder ins Gleiche gesetzt; schon konnten sich die Troianer nicht mehr Sieger nennen. Mezentius hatte eine Gasse in die Feinde gebrochen, und furchtbar schritt seine hohe Gestalt in den mächtigen Waffen emher. Da ward Aineias, der inzwischen auf der anderen Seite des Treffens getobt hatte, den furchtbaren Feind aus der Ferne gewahr, ließ plötzlich vom Gefecht ab und kehrte sich ihm entgegen. Dieser aber hemmte seinen Schritt auf Schußweite von seinem Feind, ergriff mit der Linken die Hand seines Sohnes Lausus, der ihm schon lange an der Seite gestritten hatte, hob mit der Rechten den Wurfspieß, schwenkte ihn in den Lüften und rief: "Wohlan, du mein Arm, der du von jeher mein Gott warst, denn ich kenne keinen anderen, und du mein Speer, jetzt gilt's! Du aber, mein Sohn Lausus, sollst das lebendige Siegeszeichen über diesen Räuber werden, wenn du mir in der erbeuteten Prachtrüstung desselben prangst!" Nun warf er den zischenden Wurfspieß seinem Gegner zu; dieser aber prallte vom Schilde des Aineias zurück und traf den Antores, einen edlen argivischen Auswanderer, der mit Euander nach Italien gekommen war und nun zusammensinkend seinem fernen griechischen Vaterlande einen Seufzer der Sehnsucht zuschickte. Darauf schleuderte auch Aineias seinen Speer ab. Dieser durchbohrte den dreifachen Erzschild des Feindes und fuhr diesem in die Weiche. Als Aineias das Blut des Etruskers fließen sah, riß er erfreut sein Schwert von der Hüfte und drang wütend auf den Bebenden ein. Gespießt von der Lanze und entkräftigt zog sich Mezentius mit dem durchbohrten Schild zurück. Tränen rollten seinem guten Sohne Lausus aus den Augen, als er den Vater verwundet sah; er brach mit seinem Schild vor und lief dem Troianer, der schon mit seiner Rechten zum tödlichen Streich ausholte, unter die drohende Klinge, indem er dem Vater den Schild vorhielt. Ihm folgten seine Genossen mit großem Geschrei, und alle schleuderten Geschosse, so daß Aineias mitten in seinem Grimm stillhalten und sich mit seinem Schild bedecken mußte. Von Lanzen umhagelt, rief er dem Lausus zu: "Wahnsinniger, was rennst du in den Tod? Deine Liebe betrügt dich über deine Kräfte!" Als aber Lausus nicht wich, verdoppelte sich der Grimm des Helden, und nun rannte ihm Aineias das Schwert, tief eintauchend, mitten durch den Leib, das den Weg ohne Mühe durch den leichten Schild und den goldgestickten Rock des Jünglings, das Kunstwerk der zärtlichen Mutter, gefunden hatte. Aber als Aineias in das erbleichende Antlitz des sterbenden Knaben sah, da erbarmte ihn sein, und das Bild der kindlichen Liebe durchbebte sein eigenes Vaterherz. Er reckte die Hand nach dem Sinkenden aus und rief: "Unglückseliger Jüngling, du hättest eine bessere Gabe von mir für dein rühmliches Tun verdient! Deine leichte Rüstung und dein Goldkleid, dessen du dich freutest, soll nicht von dir genommen werden. Wie du bist, sollst du bei deinen Vätern schlafen dürfen, und so wenigstens sollst du inne werden, daß du einem großmütigen Feind erlegen bist!" So sprach Aineias, hob ihn selbst von der Erde empor, daß das schmucke Lockenhaar nicht von Staub und Blut besudelt würde, und ermahnte seine erschrockenen Genossen, den Leichnam in Empfang zu nehmen.

Der verwundete Mezentius hatte sich indessen an den Tiberstrand gerettet und stillte, an einen Uferbaum gelehnt, das Blut seiner Wunde mit dem Wasser des Flusses. Sein eherner Helm hing an einem Ast, seine schwere Rüstung lag im Grase; junge, erlesene Streitgenossen standen um ihn her, er selbst, schwach und keuchend, stützte sich das Haupt mit der Hand, und sein hängender Bart fiel ihm auf die Brust herab. Gar oft fragte er nach seinem Sohne Lausus, viele Boten sandte er, die ihn herbeirufen, die ihm seines geängstigten Vaters Befehle bringen sollten. Da nahte sich die weinende Schar der Freunde, die den entseelten Jüngling mit seiner klaffenden Brustwunde auf dem Schilde dahertrugen. Mezentius, Unheil vorahnend, verstand ihr Wehklagen schon in der Ferne. Als sie angekommen waren, streute er Staub auf sein graues Haar, streckte die Hände gen Himmel und klammerte sie dann um den Leichnam. "Ist's möglich", rief er, "geliebter Sohn, konnte mich die Lebenslust so betören, daß ich dich statt meiner in die Hand des Feindes rennen ließ? Muß dein Tod mein Leben sein? Wehe mir, jetzt erst wird mir die Verbannung aus dem Etruskerlande zur unerträglichen Qual! Jetzt erst fühle ich meine Wunde! Ist's möglich, daß ich noch lebe, daß ich das Tageslicht und die Menschen nicht verlasse? Aber ich will sie verlassen!" Mit diesen Worten richtete er sich auf bis zur kranken Hüfte, und so tief die Wunde saß, verlangte er doch sein Roß. Dies war seine Lust, dies war sein Trost; noch aus allen Gefechten hatte es ihn siegreich zurückgetragen. Auch das Streitroß schien über den Jammer seines Herrn zu trauern, es stand mit gesenktem Haupt da, und die Mähne floß regungslos über den Hals. "Wir haben lange gelebt, guter Rhoebus", redete der wunde Held sein Pferd an, "wenn irgend etwas auf der Erde lang ist; aber heute noch wirst du als Sieger mit mir den Lausus rächen und Haupt und Rüstung des Mörders blutig heimtragen, oder wir fallen miteinander, denn du wirst, hoffe ich, keinen Troianer tragen wollen!" Schnell waffnete sich der Greis, so gut es die Wunde erlaubte, wieder; das Erz des Helmes umleuchtete sein Haupt, der Roßschweif flatterte in den Lüften, seine Hand hielt ein Bündel Speere; so trug ihn Schmerz, Wahnsinn und Mut hoch zu Rosse wieder in die Schlacht.

"Das gebe Zeus und Apollon", rief Aineias erfreut, als er den Gegner wieder auf sich zukommen sah, "daß du den Zweikampf mit mir erneuerst!" Und nun eilte er ihm mit gehobenem Speer entgegen. Mezentius rief dagegen: "Glaubst du mich noch schrecken zu können, nachdem du mir den Sohn entrissen hast? Ich fürchte den Tod nicht, ich frage nach keinem Gott; sterben will ich, aber dir sende ich zuvor diese Gabe!" Sprach's und sandte einen ersten Speer nach seinem Feind und einen zweiten und einen dritten, indem er ihn dreimal dazu mit seinem Roß umkreiste. Aineias drehte seinen Schild nach den Würfen und fing die Geschosse, eins um das andere, mit der goldenen Schutzwaffe auf. Dann brach er hervor und schleuderte seine eigene Lanze dem Streitrosse des Feindes in die Schläfe. Das Tier bäumte sich, streckte seine Vorderhufe in die Lüfte, schüttelte den Reiter ab und deckte ihn fallend mit dem Rücken. Ein Schrei stieg aus den beiden Heeren gen Himmel. Aineias aber flog herbei, riß das Schwert aus der Scheide und rief höhnend: "Wo ist nun der wilde Mezentius, wohin hat sich der Trotzende verkrochen?" - "Grausamer", seufzte der Gefallene vom Boden empor, "spottest du mein im Tode noch? Sterb' ich doch den edeln Tod in der Schlacht! Nur um eine Gunst bitte ich dich: gönne meinem Leib die Decke des Bodens; du weißt, daß mich wilder Haß alter Untertanen umringt: wehre ihre Wut von mir ab, gönne mir ein Grab mit meinem Kinde!" So sprach er und reichte den Hals dem Schwerte des Feindes dar; sein Blut strömte auf die Rüstung, und sein Leben war dahin.