Aineias an der Küste Italiens
Sizilien und der Kyklopenstrand
Tod des Anchises

Nach langen Irrfahrten und mancherlei Abenteuern erschien endlich eine niedrige Küste mit dämmernden Hügeln aus der Ferne. "Italien", rief zuerst der Held Achates, der das Land vor den anderen erblickt hatte. "Italien!" riefen einfallend unter Freudengeschrei die jubelnden Genossen. Der Greis Anchises bekränzte einen geräumigen Becher und füllte ihn bis zum Rand mit Wein. Auf dem Hinterverdeck stehend, flehte er die Meeresgötter um günstigen Wind und leichte Fahrt an. Auch wehte wirklich die erbetene Luft kräftiger, immer näher flogen sie einem sich vor ihren Augen erschließenden Hafen, und von einem Hügel des Landes winkte ihnen ein schöner Tempel. Vertrauensvoll rollten sie die Segel zusammen und drängten die Schiffe nach dem Strande. Der Hafen bildete, von der östlichen Brandung des Meeres ausgehöhlt, einen Bogen, an vorgelagerten Klippen spritzte die Meerflut schäumend auf, eine Mauer getürmter Felsen senkte rechts und links ihre Arme ins Meer herab, und der Tempel, in der Mitte der Bucht gelegen, trat in den Hintergrund. Hier erblickten sie am Gestade als erstes Vorzeichen vier schneeweiße Rosse, die hier und dort im tiefen Grase weideten. "Rosse bedeuten Krieg", rief Anchises aus, "mit Krieg droht uns dieses Land, so gastlich es aussieht. Laßt uns Athene, die auf uns herniederblickt, anbeten und eilig mit unseren Schiffen umkehren!"

Sie taten nach dem Rat des Alten und flogen zurück in das Meer. Nun schifften sie an mancherlei Küstenländern vorüber, immer dem Süden zu, vorbei am Meerbusen von Tarent, an der Stadt Kroton mit ihrem Heratempel, an dem klippenvollen Skylakeion. Schon tauchte aus der fernen Flut Sizilien mit seinem Aitna, schon von weitem hörten sie jetzt ein gewaltiges Tosen des Meeres, Brandung um die Felsen, am Gestade gebrochenen Laut: aus tiefem Abgrunde sprudelte die Flut empor, und Sand unter Wasserschaum stäubt ein die Luft. "Das ist die Charybdis", rief der länderkundige Anchises, "das gräßliche Felsenriff. Werft euch an die Ruder, Gefährten, reißt uns aus der Todesgefahr." Eifrig lenkten alle mit den Schiffen zur Linken um, Palinuros mit dem krachenden Schiffsschnabel voran. Bald flogen die Schiffe aus den Wölbungen des Strudels zu den Wolken empor, und wenn die Wogen verrollten, versanken sie wie in die Unterwelt, und dies geschah dreimal. Als sie der Gefahr glücklich entronnen waren, gerieten sie, aller Bahn unkundig, an den Strand der Kyklopen, wo ein geräumiger Hafen sie aufnahm. In ihrer Nähe hörten sie hier den feuerspeienden Berg Aitna donnern, der bald schwarzes Gewölk, Pechqualm und glühende Asche in die Luft emporwirbelt, bald das Eingeweide des Berges, Steine und geschmolzene Felsen hinaufschleudert und vom untersten Grunde aus brausend siedet. Der Leib des Giganten Enkelados, vom Blitze Zeus' versengt, soll hier in den Gründen der Erde liegen, und der mächtige Aitna, über ihn geworfen, sende, sagt man, den Flammenhauch des Riesen aus seinem Schlund empor; so oft jener, unter der drückenden Last ermattet, seine Seite wechselt, bebt die ganze Insel von dumpfer Erschütterung, und ein Rauch hüllt den Himmel in seinen Schleier.

Aineias und seine Genossen waren bei Nacht an die Insel verschlagen worden, und der Berg war ihnen noch dazu von Wäldern verdeckt. Auch umzog den verfinsterten Himmel ein dichtes Gewölk, und hinter seinen Schichten verbargen sich der Mond und die Sterne. So hörten sie die ganze Nacht hindurch nur das fürchterliche Tosen, ohne die Ursache erraten zu können. Als der Morgenstern am Himmel stand und Eos die Schatten vertrieb, sahen die Flüchtlinge, die sich am Strande gelagert, einen fremden seltsamen Mann, ganz in Lumpen gehüllt, ein rechtes Jammerbild des Elends, plötzlich aus den Wäldern hervortreten und die Hände flehend nach ihnen zu dem Ufer ausstrecken. Abscheulicher Schmutz entstellte ihn, die Fetzen seines Gewandes waren mit Dornen zusammengeheftet, sein langes verwirrtes Barthaar flog im Winde. Übrigens erkannte man auch in diesem jämmerlichen Aufzug noch den Griechen, der einst vor Troia gekämpft hatte. Als dieser in der Ferne troianische Rüstungen sah, stutzte er einen Augenblick und hemmte schüchtern seine Schritte. Bald aber rannte er entschlossen wieder vorwärts zum Ufer und flehte weinend zu den Ankömmlingen hinüber: "Bei den Gestirnen, bei den Göttern, beim Himmelslichte beschwöre ich euch, Troianer, nehmt mich fort mit euch, wohin es auch gehen mag! Ich weiß wohl, ich bin einer vom Danaerheer, ich habe eure Stadt befehdet, habe sie zerstören helfen. Nun, seid ihr unversöhnlich, so reißt mich in Stücke und versenkt mich im tiefsten Wasser: wird mir so doch der Trost zuteil, von Menschenhänden zu sterben!" So sprach der Unglückliche, umfaßte die Knie des Helden Aineias und schmiegte sich fest an ihn an. Da ermahnten ihn alle, sein Geschlecht, seinen Namen, sein Schicksal zu melden, und der ehrwürdige Greis Anchises reichte ihm selbst die Hand und nötigte ihn, vom Boden aufzustehen. Allmählich erholte sich der Arme von der Furcht. "Ich stamme", begann er, "aus Ithaka und war ein Genösse des erfahrungsreichen Helden Odysseus. Achaimemdes ist mein Name; weil mein Vater Adamastos arm war, entschloß ich mich, mit gegen Troia zu ziehen. Es war mein Unheil; den Gefahren des Krieges glücklich entronnen, wurde ich hier in der scheußlichen Höhle des Kyklopen, als Odysseus und meine anderen Begleiter, so viele der Menschenfresser noch nicht geopfert hatte, die Höhle mit List verließen, krank und elend in einem Winkel der Kluft liegend, vergessen. Ich hatte es mit angesehen, wie das Ungetüm von meinen armen Freunden ein Paar ums andere verschlang, und mit Hand angelegt, als der einäugige Riese von Odysseus im Rausch geblendet ward. Ich selbst bin nur durch ein Wunder aus seiner Höhle entkommen; aber, umringt vom ungeschlachten Volk der Kyklopen, brachte ich seit vielen Tagen mein Leben in Hunger und Todesangst hin. Auch ihr, unglückliche Fremde, wenn ihr nicht die Beute dieses abscheulichen Riesenvolkes werden wollet (denn gleich Polyphem irren über hundert in diesem unwirtlichen Gebirge umher), auch ihr besteigt eilig die Schiffe wieder und löst die Seile vom Strand! Drei Monate sind es, daß ich zwischen Höhlen und Wildlagern mein Leben fortschleppe, mich von der ärmlichen Kost der Waldbeeren und Wurzeln ernährend, stets auf der Lauer vor dem Riesengeschlecht; vor dessen tosenden Tritten und brüllenden Stimmen ich erbebe. Da sah ich diese Flotte dem Ufer nahen; ihr mich zu ergeben, brach ich auf, wessen sie auch sein mochte."

Kaum hatte er dieses gesprochen, als die Troianer auch schon auf der Höhe des Berges den Kyklopen Polyphem gewahr wurden, den unförmlichen Riesen mit dem geblendeten Auge, einen behauenen Fichtenstamm als Stock in der Hand, inmitten seiner Schafherde, seines einzigen Trostes im Unglück, einherschlendernd. Am Meere angekommen, ging er mitten in die Fluten hinein, die ihm doch noch nicht einmal bis an die Hüfte gingen. Hier bückte er sich und wusch aus dem ausgestochenen Auge das immer noch fließende Blut, stöhnend und zähneknirschend. Bei diesem gräßlichen Anblick beschleunigten die Troianer ihre Flucht, nahmen den bejammernswürdigen Flüchtling, obgleich er ihr Stammfeind war und ihre Stadt hatte zerstören helfen, mit sich zu Schiffe und hieben stillschweigend die Seile ab. Jetzt vernahm der Riese den Ruderschlag und wandte seine Schritte, noch immer in der Flut, dem Schall des Geräusches zu. Mit Mühe entging das letzte Schiff seinen haschenden Händen, und als er vergebens in die Luft griff, erhob er ein so ungeheures Gebrüll, daß die Klüfte des Aitna wie von einem langen Donner wiederhallten und das ganze Kyklopengeschlecht, in den hohen Bergen aufgestört, zum Gestade herabgerannt kam. Wie luftige Eichen oder Cypressen ragten ihre Häupter gen Himmel, und sie schickten der absegelnden Flotte drohende Blicke nach.

Um der Skylla und Charybdis zu entgehen, segelte diese rückwärts, längs dem Gestade der Insel hin, von Achaimenides beraten, der diesen Weg früher mit Odysseus zurückgelegt hatte. Auf dieser Fahrt traf den Aineias ein großer Schmerz. Sein greiser Vater Anchises, von den Anstrengungen, Gefahren und Schrecken der Reise ermattet, sollte Italien, das gelobte Land seiner Sehnsucht, nicht mehr erreichen. Er wurde zusehends schwächer, seine Sinne schwanden, seine Zunge erlahmte, und ohne nur ein Lebewohl sagen zu können, gab er in den Armen seines Sohnes den Geist auf, als sie eben in den Hafen der sizilianischen Stadt Trepanon eingelaufen waren. Die troianischen Flüchtlinge veranstalteten dem ehrwürdigen Vater ihres Führers ein feierliches Leichenbegängnis. Doch hing Aineias nicht lange der Trauer nach. Die Verheißung der Götter trieb ihn, das Volk, welches sich ihn zum Beschützer erkoren hatte, dem Lande der Ahnen entgegenzuführen und das versprochene Reich dort zu gründen.