Aineias in Karthago

Die beiden Wanderer gingen rüstig im Nebel dahin, immer dem Fußpfade nach. Bald hatten sie den Hügel erstiegen, der sich hoch über die Stadt erhob und auf die gegenüberstehende Burg hinuntersah. Mit Staunen betrachtete Aineias den stolzen Königsbau, der sich da erhob, wo früher nur armselige Bauernhütten gestanden hatten, die hohe steinerne Pforte der Stadt, die breiten gepflasterten Straßen, den Lärm und das Gewühl darin. Noch aber wurde an der Stadt gebaut, die Tyrier betrieben das Werk mit allem Eifer: die einen waren mit den Stadtmauern beschäftigt, die anderen mit der Vollendung der Burg, zu deren Höhen sie Quadersteine emporwälzten; viele bezeichneten mit Furchen erst den Platz, auf welchem sich ihr Haus erheben sollte. Der größere Teil der Einwohnerschaft war auf dem Marktplatze versammelt, wählte den Senat und die Richter des Volkes und beratschlagte über die Gesetze des neuen Staates. Noch andere gruben bereits an den Häfen, andere legten den Grund zu einem Theater und hieben dazu mächtige Säulen als Zierden der künftigen Bühne aus dem Felsen. Das Ganze war anzusehen wie ein Bienenschwarm, der eben schwärmt.

In ihrem Nebelgewande geborgen befanden sich Aineias und sein Begleiter bald in der Mitte des beschäftigten Volkes und gingen unerkannt hindurch. Mitten in der Stadt befand sich ein schöner Hain, voll des kühlsten Schattens, wo nach langen Stürmen und Meerfahrten die Phönizier oder Punier zuerst ein Glückszeichen, das ihnen Hera sandte, ausgegraben hatten, ein Pferdehaupt, wodurch ihnen Kriegsglück und Nahrung vorbedeutet ward. Hier baute die Königin Dido der Hera einen prächtigen Tempel; Stufen, Torpfosten und Türflügel, alles war von Erz. In diesem Haine faßte sich der Held Aineias erst wieder einen getrosten Mut und gab sich in seiner verzweifelten Lage kühneren Gedanken der Hoffnung hin. Denn während er sich in dem herrlichen Tempel umschaute und über die prächtigen Kunstwerke, die sich darin befanden, staunte, stieß er auf eine Reihe von Wandgemälden, in welchen die Schlachten Troias dargestellt waren. Priamos, die Atriden, Achilles, Rhesos und Diomedes, fliehende Griechen, und wieder Troianer, der Knabe Troilos von seinen Pferden geschleift, Troianerinnen mit fliegendem Haar im Tempel der Pallas, Hektors geschleppte Leiche, Penthesilea mit ihren Amazonen, alles erkannte der Held Aineias, ja am Ende entdeckte er auch sich selbst, wie er von der Mauer herab den ungeheuren Stein auf die Feinde schleudert.

Wahrend er dies alles unter Schmerz und Lust mit Verwunderung sich beschaute, nahte die Königin Dido selbst, im höchsten Glänze jugendlicher Schönheit, von einem großen Gefolge tyrischer Jünglinge umgeben, dem Tempel. Unter der Wölbung des Portals setzte sie sich, von Bewaffneten umringt, auf einen hohen Thron und teilte dem Volke, das sich um sie versammelte, teils nach billiger Schätzung, teils durchs Los die Arbeit in der neuen Stadt aus, sprach Recht, gab Gesetze. Da sahen Aineias und Achates plötzlich mitten in dem Gewühle ihre verloren geachteten Freunde und Genossen, den Sergestos, den Kloanthos und viele andere Troianer, welche der Sturm von ihnen getrennt und an andere Küsten verschlagen hatte. Freude und Angst ergriff sie bei diesem Anblick: sie glühten vor Begierde, ihnen die Rechte zu traulichem Handschlage zu reichen, und doch machte sie das Unbegreifliche der Sache wieder irre: sie hielten deswegen in ihrem Nebelgewölbe an sich und warteten zu, ob sie nicht im Verlauf der Dinge das Schicksal der Freunde aus ihrem eigenen Munde erfahren würden. Denn es waren, wie sie sahen, auserwählte Männer von jedem Schiffe. Auch drängten sie sich bald aus der Menge hervor, traten in die Vorhalle des Tempels ein, und als ihnen das Wort von der Königin vergönnt wurde, hob ihr Führer Ilioneus zu sprechen an: "Edle Königin, wir sind arme Troianer, die der Sturm von Meer zu Meer geschleudert hat. Wir richteten den Lauf unserer Flotte nach dem fernen Italien, als ein unvermuteter Orkan uns unter die Klippen schleuderte, wo viele unserer Schiffe ohne Zweifel zugrunde gegangen sind. Die Überbleibsel der Flotte haben euer Gestade erreicht. Aber was sind das für Menschen, unter die wir geraten sind? Welches Barbarenvolk duldet solche Gebräuche? Man verwehrt uns, den Strand zu betreten, man droht mit Krieg, mit Verbrennung unserer Schiffe. Wenn ihr von Menschlichkeit nichts wisset, so scheuet doch wenigstens die Götter! Aineias war unser Führer - es gibt keinen größeren und frömmeren Helden! Wenn das Schicksal uns diesen Mann erhalten hat, so wird euch der Dienst, den ihr uns erweiset, niemals gereuen. Darum gestattet uns, die lecken Schiffe ans Land zu ziehen, in euren Wäldern Schiffsbalken zu zimmern und Ruder zu verfertigen. Finden wir unseren König und unsere Freunde wieder, dann dürfte uns wohl die Fahrt nach dem verheißenen Italien glücken. Hat aber ihn die libysche Flut verschlungen und ist unsere Hoffnung dahin, nun, dann gib uns wenigstens sicheres Geleit, mächtige Königin, daß wir zu unserem Gastfreunde am sizilischen Strande, von dem wir herkommen, wieder zurückkehren können."

Die Königin senkte vor den Männern den Blick auf die Erde und antwortete kurz: "Verbannet die Angst aus euren Herzen, Troianer; mein Schicksal ist so hart, mein Reich ist so jung, daß ich genötigt bin, die Grenzen des Landes ringsumher durch strenge Wachen sicherzustellen. Troias Stadt aber und ihr unglückliches Volk, ihre Helden, ihren Waffenruhm, ihre fürchterliche Zerstörung kennen wir gar wohl. Unsere Stadt ist nicht so abgelegen, daß sie nichts von ihrem Schicksal wüßte; unsere Herzen sind nicht so unempfindlich, daß es uns nicht rührte. Möget ihr euch denn Hesperien zum Wohnsitz erwählen oder Siziliens Insel: in beiden Fällen getröstet euch meiner Hilfe, ich will euch mit allem Nötigen versehen und in Frieden ziehen lassen; es wäre denn, daß ihr euch lieber hier im Lande ansiedeln wolltet! Wollet ihr das, so steht euch frei, eine Stadt zu gründen, und meine Gesetze sollen euch denselben Schutz verleihen wie meinen eigenen Untertanen. Was euren König betrifft, so sende ich auf der Stelle sichere Männer an meine Ufer und im Lande umher, um ihn auszuspähen, ob er nicht, irgendwo gestrandet, in Wäldern oder in Städten umherirrt."

Die beiden Helden in der Wolke brannten vor Begierde, den Nebel zu durchbrechen, als sie solches hörten. "Hörst du es, Sohn der Göttin", flüsterte zuerst Achates seinem erhabenen Freunde zu, "die Schiffe, die Freunde alle sind gerettet; nur einer fehlt, den wir selbst ins Meer sinken sahen; sonst entspricht alles den Verheißungen deiner Mutter." Kaum war dieses gesprochen, als die Nebelwolke sich von selbst teilte und in den offenen Äther verschwand. Da stand nun Aineias im heiteren Lichte, wie ein Gott an Schultern und Haupt glänzend: seine Mutter hatte ihm schönes wallendes Lockenhaar auf das Haupt, das Purpurlicht der Jugend auf die Wangen und in das heitere Auge den Strahl der Huld gezaubert. Wie ein Wunder stand er vor allen da, wandte sich zur Königin und sprach: "Da bin ich, nach dem ihr verlanget, aus den Wellen Libyens gerettet, ich, der Troianer Aineias! Edle, großmütige Königin, die du die Trümmer meines unglücklichen Volkes erbarmungsvoll in deine Stadt aufgenommen hast, keiner von allen Troianern, die über die ganze Erde zerstreut sind, kann dir würdigen Dank bezahlen; mögen dir die Himmlischen vergelten! Selig sind die Eltern, die dich gezeugt haben! So lange die Erde stehet, wird dein Name bei uns von Ruhme strahlen, welches Land uns auch rufen mag!" So sprach Aineias und eilte auf seine Freunde zu, die Rechte, die Linke ihnen um die Wette darreichend. Als sich Dido vom ersten Erstaunen erholt hatte, sprach sie: "Sohn der Göttin, welches Schicksal verfolgt dich durch solche Gefahren? Du bist also jener Aineias, welchen einst Anchises, dem Troianer, die erhabene Göttin Aphrodite an den Wellen des Simoeis geboren hat! Wohl hab' ich vieles von den Schicksalen deines Geschlechts und deines Volkes von meinem Vater Belos vernommen. Als dieser in Kypros kriegte, kam der Argiver Teukros, Telamons Sohn, zu ihm, der dort nach dem troianischen Kriege eine Niederlassung gegründet hatte; dieser erzählte viel von euren Heldentaten. Er war zwar euer Feind im Kriege, aber zugleich euer Blutsverwandter, denn auch er rühmte sich, vom alten Geschlecht der Teukrer abzustammen; seine Mutter Hesione, welche Telamon als eine Kriegsgefangene von seinem Freunde Herakles zum Geschenk erhalten hatte, war eine Tochter des troianischen Königs Laomedon. Nun aber, ihr Männer, tretet getrost in unsere Häuser ein, auch ich bin eine Verbannte, auch ich fand nach langen Mühsalen erst in diesem Lande Ruhe. Ich bin wohl vertraut mit dem Jammer und verstehe mich auf den Beistand Unglücklicher."

So sprach Dido und führte den Helden unverzüglich in ihren Palast, auch ordnete sie in allen Tempeln ein prächtiges Opferfest an. Das Innere der Burg wurde mit königlichem Prunk ausgeschmückt und in den schönsten Sälen des Palastes ein Festmahl zugerüstet. Kunstvolle Purpurteppiche prangten überall, schweres Silber belastete die Tische, goldene Pokale mit erhabener Kunstarbeit schimmerten allenthalben.

Indessen ließ dem edlen Aineias seine Vaterliebe keine Ruhe; er schickte den treuen Diener Achates schleunigst zu der Flotte, dem Knaben Askanios die frohe Botschaft zu verkündigen und ihn selbst herbeizuführen. Auch allerlei Ehrengeschenke, die er aus dem Schutthaufen Troias gerettet, befahl er herbeizubringen: einen prächtigen Mantel mit goldgewirkten Bildern, den Schleier Helenas, ein Wundergeschenk ihrer Mutter Leda, den sie aus Sparta mitgebracht, das Szepter der Ilione, der ältesten Tochter des Priamos, ein Halsgeschmeide von Perlen, und eine Krone, von Gold und Edelsteinen glänzend. Mit diesen Aufträgen eilte Achates nach den Schiffen.