Machaon und Podaleirios

Am anderen Tage strömten die Danaer in die Volksversammlung, welche der Völkerhirt Menelaos berufen hatte. Als alle beisammen waren, stand er selbst auf und hob also an zu reden: "Höret mich an, ihr Fürsten des Volkes! Mir blutet das Herz, wenn ich unsere Scharen so vor uns hinsinken sehe. Für mich ist das Volk in den Kampf gezogen, und nun soll am Ende keiner mehr Heimat und Verwandte begrüßen! Ehe dies geschieht, laßt uns diesen unheilvollen Strand verlassen, und was noch übrig ist, mag mit den Schiffen, jeder in sein Vaterland zurücksegeln. Seit Achilles und Aias dahingesunken sind, ist kein Erfolg unserer Unternehmung mehr zu hoffen. Was mich betrifft, so bekümmert mich jetzt Helena, meine unwürdige Gemahlin, weniger als euch, mag sie mit dem weiblichen Paris dahinfahren!"

So redete Menelaos; doch tat er es nur, um die Griechen zu verführen, denn im Herzen wünschte er nichts sehnlicher als die Vertilgung der Troianer. Der Sohn des Tydeus aber, Diomedes, der gerade Lanzenschwinger, der seine List nicht merkte, fuhr unwillig von seinem Sitz empor und fing an zu schelten: "Unbegreiflicher! Welche schmähliche Furcht hat sich deiner Heldenbrust bemächtigt, daß du so sprechen magst? Doch bin ich ruhig. Nimmermehr folgen dir die mutigen Söhne Griechenlands, bevor sie Troias Zinnen zu Boden gestürzt haben! Entschlösse sich aber ein einziger, dir zu folgen, so soll dieser blaue Stahl ihm das Haupt vom Rumpfe trennen!"

Kaum hatte sich Diomedes wieder auf seinen Sitz niedergelassen, als sich der Seher Kalchas erhob und mit einem weisen Vorschlage den scheinbaren Zwist vermittelte. "Ihr wisset alle noch", sprach er, "wie wir vor mehr als neun Jahren, als wir zu Eroberung dieser verfluchten Stadt ausschifften, den herrlichen Helden Philoktetes, den Freund des Herakles, an einer giftigen und fressenden Wunde krank, auf der wüsten Insel Lemnos aussetzen und dort zurücklassen mußten. Zwar war der Geruch der eiternden Wunde und das Jammergeschrei des Unglücklichen unerträglich. Dennoch war es unrecht und erbarmungslos von uns gehandelt, den Armen auf diese Weise preiszugeben. Nun aber hat mir ein gefangener Seher geoffenbaret, daß nur mit Hilfe der heiligen und stets treffenden Pfeile, welche Philoktetes von seinem Freunde Herakles geerbt hat, sowie durch seine und des Pyrrhos, dieses jungen Achillessprößlings, Gegenwart Troia erobert werden könnte. Der Troianer hat mir diese Weissagung wohl nur mitgeteilt, weil er die Erfüllung derselben für unmöglich hielt, denn so dachte er: wie sollte der Haß des Philoktetes gegen die Griechen, die ihn so schändlich verlassen haben, ihm erlauben, die Pfeile auszuliefern und selbst vor Troia zu erscheinen ? Mein Rat ist daher, ohne Verzug den stärksten unserer Helden, Diomedes, und den beredtesten, Odysseus, nach dem Eilande Skyros zu senden, wo der Sohn des Achilles bei dem Vater seiner Mutter erzogen wird. Mit seiner Hilfe wollen wir dann auch den Philoktetes zu Lemnos bereden, sich mit uns wieder zu vereinigen und die unsterblichen Waffen des Herakles, durch welche Troia bezwungen werden soll, uns mitzubringen."

Die Scharen der Griechen jubelten diesem Vorschlage Beifall, und die beiden Helden gingen zu Schiffe ab. Unterdessen rüsteten sich die Heere wieder zum Kampfe. Den Troianern war der Sohn des Telephos, Eurypylos, von Mysien mit einem Heere zu Hilfe gekommen, und so fühlten sich diese von neuem gestärkt und ermutigt. Den Griechen dagegen fehlten ihre zwei besten Helden. So kam es, daß die wieder begonnene Schlacht sich ihnen zum Verderben wendete. Da wurde auch Nireus, der schönste unter den Danaern, von der Lanze des Eurypylos erreicht und lag mit den anderen Erschlagenen im Staube wie ein blühendes Stämmchen vom zerbrechlichen Olivenbaume, das, vom Flusse aufgewühlt, mit der Wurzel entführt und wieder ans Gestade getrieben wird, wo es nun mit Blüten bedeckt daliegt. Eurypylos aber spottete sein und wollte den Leichnam des schönen Harnisches berauben. Da stellte sich ihm Machaon, der Bruder des Podaleirios, entgegen, der schon den Tod des Nireus voll Zorn mit angesehen hatte. Er stieß dem Räuber seinen Speer in die mächtige Schulter, daß das Blut herausströmte. Eurypylos aber drang wie ein verwundeter Eber auf Machaon ein; dieser suchte ihn mit einem Steinwurfe abzuwehren, aber der Helm schützte jenen, und nun stieß der Sohn des Telephos dem Griechen schnell wie der Blitz den Speer mitten in die Brust, daß die blutige Spitze bis zum Rückgrat durchdrang und Machaon klirrend auf den Boden fiel. Eurypylos zog die Lanze aus dem Leibe des Erschlagenen und wandte sich höhnend wieder in die Schlacht.

Teukros, der die beiden hatte fallen sehen, rief die Griechen auf, um ihre Leichname zu kämpfen. Zuletzt aber erlagen sie den Troianern. Nachdem der Lokrer Aias von Aineias mit einem Steine hart verwundet und zu Boden gestreckt war, mußten die Achiver den schwach atmenden Helden aus der Schlacht tragen, und zogen sich alle nach den Schiffen zurück; die Troianer richteten unter den Fliehenden eine große Niederlage an. Ja, sie hätten die Schiffe selbst durchs Feuer vernichtet, wenn die Nacht nicht dazwischen gekommen wäre. So aber zog sich der riesige Mysier mit den Seinigen vor dem einbrechenden Dunkel zurück zu den Mündungen des Simoeis, wo er freudig sein Nachtlager aufschlug. Die Danaer dagegen, auf dem sandigen Ufer bei ihren Schiffen gelagert, seufzten die ganze Nacht durch vor Schmerz und beklagten das Los der unzähligen Brüder, die sie im Kampfe verloren hatten.

Aber kaum glühte die Morgenröte am Himmel, als auch die Griechen schon wieder aufbrachen, voll Begierde, sich an Eurypylos zu rächen. Andere von ihnen legten bei den Schiffen den schönen Nireus und den hochbegabten Arzt und mächtigen Kämpfer Machaon ins Grab. Während nun in der Ferne die Schlacht wieder tobte, lag Podaleirios, der Bruder Machaons, und wie er berühmt als der trefflichste Arzt im Heere, Trank und Speise verschmähend, im Staube unter lautem Stöhnen. Er wich nicht vom Grabe seines geliebten Bruders; brütend sann er in seinem Geiste auf Selbstmord und legte bald die Hand ans Schwert, bald suchte er ein schnellwirkendes Gift, das er selbst gebraut hatte und immer bei sich trug, zu verschlingen. Seine Freunde aber wehrten ihm und sprachen ihm Trost ein; doch hätte er sich endlich am frischen Grabhügel seines Bruders getötet, wenn nicht der greise Nestor dem Verzweifelnden genaht wäre. Dieser traf ihn, wie er sich bald jammernd auf das Grab warf, bald wieder Staub auf sein Haupt streute, sich die Brust mit den nervigen Händen zerschlug und zugleich den Namen des getöteten Bruders ausrief. Schwer lag sein Kummer auf allen Dienern und Gefährten, die ihn umgaben. Da fing Nestor an mit schmeichelnden Worten den Betrübten zu trösten: "Liebes Kind, mach doch deinem bitteren Kummer ein Ende. Es ziemt einem verständigen Manne nicht, wie ein Weib an dem Grabe eines Toten zu jammern. Deine Klage ruft ihn doch nicht mehr ans Licht; das Feuer hat seinen Leib verzehrt und seine Gebeine ruhen in der Erde. Er schwand, wie er gekommen ist. Du aber trage deinen großen Schmerz, wie ich den meinigen getragen habe, als der Sohn der Eos mir den Knaben erschlug, der mein liebster war und seinen Vater liebte wie keiner meiner Söhne. Als er für mich gestorben war, nahm ich doch Nahrung zu mir wie vorher; ich ertrug es, das verhaßte Tageslicht auch ferner zu schauen; denn ich dachte daran, daß wir ja alle denselben Weg zum Hades wandeln müssen."

Podaleirios hörte den Greis an, während ihm die Tränen noch über die Wangen liefen, und sprach: "Vater, wie sollte der Gram um den erschlagenen Bruder mein Herz nicht beugen, der mich, der ältere, als unser Vater Asklepios zum Olymp entrückt wurde, wie das eigene Kind auf den Armen trug, mit mir an demselben Tische saß, sein Lager, seine Habe mit mir teilte, in seiner herrlichen Kunst mich unterrichtete? Nachdem er mir gestorben, mag ich das liebliche Tageslicht nicht mehr schauen!"

Doch der Greis ließ nicht ab mit seinem Tröste: "Bedenke doch", sprach er zu dem Bekümmerten, "daß die Götter es sind, welche uns die Geschicke senden, gute wie schlimme, und daß über allen die dunkle Moira waltet, welche dieselben blind auf die Erde hinabwirft; darum stürzt oft großes Unheil auf redliche Männer, und keiner gehet ganz sicher einher. Das Leben gestaltet sich stets wechselnd; bald führt es zu großem Jammer, bald wieder zu Besserem. Dazu gehet ja auch die Sage unter den Menschen, daß der Gute zum seligen Himmel emporsteige und der Frevler in die Schrecken des Dunkels. Dein Bruder aber war ein menschenfreundlicher Mann, dazu ein Göttersohn; darum hoffe, daß er zum Geschlechte der Götter emporgestiegen ist." Mit solchen Trostworten hob Nestor den lange Widerstrebenden vom Boden auf und führte ihn von dem traurigen Grabe hinweg; dieser aber sah sich noch oft nach dem Grabhügel um.

Unterdessen nahte Eurypylos der Mysier auf dem Schlachtfelde, und die Danaer flohen aufs neue zu den Schiffen und fochten hier bald vor diesen, bald vor der weithin reichenden Mauer.