Der Tod des Paris

Als die Griechen das ersehnte Schiff, das den Philoktetes mit den beiden Helden an Bord hatte, in den Hafen des Hellespont einlaufen sahen, eilten sie scharenweise unter lautem Jubel an den Strand. Philoktetes streckte die schwächlichen Hände hinaus; seine beiden Begleiter hoben ihn ans Ufer und führten mühselig den Hinkenden in die Arme der harrenden Danaer. Diese jammerten seines Anblickes. Da sprang einer der Helden aus dem Haufen heraus, heftete einen forschenden Blick auf die Wunde, rief mit lauter Rührung seinen Vater Poias bei Namen und versprach, ihn mit der Götter Hilfe schnell zu heilen. Laut jauchzten die Griechen auf, als sie seine Verheißung hörten. Es war Podaleirios, der Arzt, ein alter Freund des Poias. Schnell schaffte dieser die nötigen Heilmittel herbei, die Argiver aber wuschen und salbten den Körper des alten Helden. Die Unsterblichen gaben ihren Segen; das verzehrende Übel schwand ihm aus den Gliedern und aller Jammer aus der Seele. Der sieche Leib des Helden Philoktetes blühte auf wie ein Ährenfeld, das, am Regen dahinwelkend, von sommerlichen Winden erquickt wird. Die Atriden selbst, die Häupter des Volkes, staunten, als sie ihn so gleichsam vom Tode auferstehen sahen, und, nachdem er sich an Trank und Speise gelabt, trat Agamemnon zu ihm, ergriff ihn bei der Hand und sprach mit sichtbarer Beschämung: "Lieber Freund! Es ist in der Betörung unseres Geistes, aber auch nach göttlicher Fügung geschehen, daß wir dich vorzeiten auf Lemnos zurückgelassen haben; hege nicht länger Groll darüber im Herzen, die Götter haben uns genug dafür gestraft und diese Versuchung über uns verhängt, um uns ihren Zorn fühlen zu lassen. Für jetzt nimm die Geschenke freundlich auf, die wir dir bereitet haben: sieben troianische Jungfrauen, zwanzig Rosse und zwölf Dreifüße. Daran labe dein Herz und nimm in meinem eigenen Zelte Platz. Beim Mahl und allenthalben soll dir königliche Ehre erwiesen werden."

"Liebe Freunde", erwiderte Philoktetes gütig, "ich zürne nicht mehr, weder dir, Agamemnon, noch irgendeinem anderen Danaer, sollte sich auch einer an mir vergangen haben. Weiß ich doch, daß der Sinn edler Männer beugsam ist und sich bald strenge, bald nachgiebig zeigen muß. Doch jetzt laßt uns schlafen gehen, denn wer sich nach dem Kampfe sehnt, tut wohler daran, sich des Schlummers zu freuen als des Schmauses!" So sprach er und eilte ins Gezelt seiner Freunde, wo er bis an den Morgen behaglich der Ruhe pflegte.

Am anderen Tage waren die Troianer außerhalb der Mauer mit der Beerdigung ihrer Toten beschäftigt, als sie die Griechen schon wieder zum Streite heranrücken sahen. Polydamas, der weise Freund des gefallenen Hektor, riet ihnen im Gefühl ihrer Schwäche sich hinter die Mauern zurückzuziehen und sich dort getrost zu verteidigen. "Troia", sprach er, "ist das Werk der Götter, und ihre Werke sind nicht leicht zu zerstören, auch fehlt es uns weder an Speise noch an Getränk, und in den Hallen unseres reichen Königs Priamos liegen noch Vorräte genug, um dreimal so viel Volk zu sättigen, als wir sind." Aber die Troianer gehorchten seinem Rate nicht und jauchzten vielmehr dem Aineias Beifall, der sie zu rühmlichem Sieg oder Tod auf dem Schlachtfelde aufforderte. Bald stürmte der Kampf wieder in beider Heere Reihen. Neoptolemos erschlug zwölf Troianer hintereinander mit dem Speere seines Vaters, aber auch Eurymenes, der Gefährte des kühnen Aineias, und Aineias selbst rissen blutige Lücken ins griechische Heer, und Paris tötete den Gefährten des Menelaos, den Demoleon aus Sparta. Dagegen raste Philoktetes unter den Troianern wie der unbezwingliche Ares selber, oder wie ein tosender Strom, der breite Fluren überschwemmt. Wenn ein Feind ihn nur von ferne erblickte, so war er verloren; schon des Herakles herrliche Rüstung, die er trug, schien die Troer zu verderben, als stünde das Medusenhaupt auf seinem Panzer. Zuletzt aber wagte es doch Paris und drang auf ihn ein, Bogen und Pfeile mutig in der Luft schwenkend. Auch schnellte er bald einen Pfeil ab, doch er schwirrte an Philoktetes vorüber und verwundete seinen Nebenmann Kleodoros an der Schulter. Dieser wich, mit der Lanze fortkämpfend, zurück, aber ein zweiter Pfeil des Paris traf ihn zum Tode. Jetzt griff Philoktetes zu seinem Bogen, und mit donnernder Stimme rief er: "Du troianischer Dieb, Urheber alles unseres Unheils, du sollst es büßen, daß dich gelüstet hat, in der Nähe dich mit mir zu messen. Wenn du einmal tot bist, so wird deinem Haus und deiner Stadt das Verderben mit schnellen Schritten heraneilen!" So sprach er und zog die gedrehte Sehne des Bogens bis nahe an die Brust, so daß das Hörn sich bog, und legte den Pfeil so auf, daß er nur ein weniges über den Bogen hervorragte. Mit einem Schwirren der Sehne flog der zischende Pfeil dahin und verfehlte aus der Hand des göttlichen Helden sein Ziel nicht, doch ritzte er dem Paris nur die schöne Haut, und auch dieser spannte seinen Bogen wieder; da traf ihn ein zweiter Pfeil des Philoktetes in die Weiche, daß er nicht länger im Kampf auszuharren vermochte, sondern entfloh, wie ein Hund vor dem Löwen, am ganzen Leibe zitternd.

Der blutige Kampf dauerte noch eine Weile fort, während die Ärzte sich um die schmerzliche Wunde des Paris bemühten. Aber das Dunkel der Nacht war eingebrochen, und die Troianer kehrten in ihre Mauern, die Danaer zu ihren Schiffen zurück. Paris durchstöhnte die Nacht ohne Schlaf auf seinem Schmerzenslager. Der Pfeil war bis ins Mark des Gebeines eingedrungen und die Wunde durch die Wirkung des scheußlichen Giftes, in das die Pfeile des Herakles getaucht waren, ganz schwarz vor Fäulnis. Kein Arzt vermochte zu helfen, ob sie gleich Mittel aller Art anwandten. Da erinnerte sich der Verwundete eines Orakelspruches, daß ihm einst in der größten Not nur seine verstoßene Gattin Oinone helfen könne, mit welcher er, als er noch Hirt auf dem Ida war, glückliche Tage verlebt hatte. Aus dem eigenen Munde der Gattin hatte er damals, als er nach Griechenland zog, diese Wahrsagung vernommen. So ließ er sich denn jetzt ungern, aber von der harten Qual gezwungen, dem Berg Ida, wo seine erste Gemahlin noch immer wohnte, zutragen. Von dem Gipfel des Berges herab krächzten Unglücksvögel, als die Diener mit ihm hinanstiegen. Ihre Stimme füllte ihn bald mit Entsetzen, bald trieb ihn wieder die Lebenshoffnung, sie zu verachten. So kam er in der Wohnung seiner Gattin an. Die Dienerinnen und Oinone selbst erfüllte der unerwartete Anblick mit Staunen; er aber stürzte sich zu den Füßen seines verschmähten Weibes und rief: "Ehrwürdige Frau, o hasse mich jetzt nicht in meiner Bedrängnis, weil ich dich einst unfreiwillig als Witwe zurückließ. Denn siehe, es waren die unerbittlichen Moiren, die mich Helena entgegengeführt. O wäre ich doch gestorben, ehe ich sie in den Palast meines Vaters gebracht. Doch jetzt beschwöre ich dich bei den Göttern und unserer früheren Liebe, habe Mitleid mit mir und befreie mich von dem quälenden Schmerz, indem du auf meine Wunde die Mittel auflegst, die nach deiner eigenen Weissagung mich allein zu retten vermögen!"

Aber seine Worte erweichten den harten Sinn der Verstoßenen nicht. "Was kommst du zu der", sprach sie scheltend, "die du verlassen und dem bitteren Jammer preisgegeben hast, weil du an Helenas ewiger Jugend dich zu erfreuen hofftest? So geh nun und wirf dich ihr zu Füßen, ob sie dir helfen möge, meine Seele aber hoffe nicht mit deinen Tränen und Klagen zum Mitleid zu stimmen!" So schickte sie ihn wieder aus ihrer Behausung fort, ohne zu ahnen, daß ihr eigenes Schicksal an das ihres Gatten gebunden sei. Paris schleppte sich, von den Dienern gestützt und getragen, kummervoll über die Höhen des waldigen Ida hin, und Hera vom Olymp herab labte sich an dem Anblick. Noch war er nicht an den Abhang des Berges gelangt, als er der giftigen Wunde erlag und seinen Geist noch auf den Gipfeln des Ida selbst aushauchte, so daß seine Buhlin Helena ihn nicht wieder erblickte.

Ein Hirt brachte seiner Mutter Hekabe die erste Kunde von seinem traurigen Tode. Ihr wankten die Knie bei der Nachricht, und sie sank bewußtlos nieder. Priamos aber wußte noch nichts davon, er saß klagend am Grabe seines Sohnes Hektor und wußte nicht, was draußen vorging. Helena dagegen ließ ihren strömenden Klagen bei der Botschaft ihren Lauf, wiewohl ihr Gemüt wenig davon wußte, denn sie war nicht sowohl über den Tod des Mannes betrübt, als über ihre eigene Schuld, an welche sie sich jetzt mit Zagen erinnerte.

Unerwartete Reue bemächtigte sich der Seele Oinones, die ferne von allen troianischen Frauen auf der Höhe des Ida im einsamen Hause lag, und der jetzt erst die Erinnerung an ihre mit Paris in Liebe verlebte Jugend zurückkehrte. Wie das Eis, das auf dem hohen Gebirge sich in den Wäldern angesetzt und die Schluchten umher deckt, unter dem lauen Hauche des Westwindes wieder schmilzt und in strömende Quellen zerfließt, so schmolz die Härtigkeit ihres Herzens dahin vor dem Kummer; das Herz ging ihr auf, und Ströme von Tränen quollen aus ihren lang vertrockneten Augen. Endlich raffte sie sich auf, öffnete mit Heftigkeit die Pforte ihres Hauses und stürzte wie ein Sturmwind hinaus. Von Fels zu Fels, über Schluchten und Bergströme trugen sie die flüchtigen Füße durch die Nacht hin. Mitleidsvoll blickte die Mondgöttin vom blauen Nachthimmel auf sie herunter. Endlich gelangte sie an die Stelle des Gebirges, wo der Leichnam ihres Gatten auf dem Holzstoß flammte und von den Schafhirten des Berges umringt war, die dem Freund und dem Königssohn die letzte Ehre erwiesen. Als ihn Oinone erblickte, machte sie der heftige Schmerz ganz sprachlos; sie verhüllte ihr schönes Antlitz in die Gewänder, sprang rasch auf den Scheiterhaufen, und ehe die Umstehenden sie retten, ja nur beklagen konnten, war sie mit dem Leichnam des Gatten ein Opfer der Flammen.