Das hölzerne Pferd

Nachdem nun die Griechen lange erfolglos um Tore und Mauern von Troia gekämpft und der versuchte Sturm auf allen Seiten abgeschlagen worden war, rief der Seher Kalchas eine Versammlung der vornehmsten Helden zusammen und redete so vor ihnen: "Unterzieht euch nicht ferner den Mühseligkeiten eines gewaltsamen Kampfes, denn auf diesem Wege kommt ihr nicht zum Ziele; besinnet euch vielmehr auf irgendeinen Anschlag, der euren Schiffen und euch selber zum Heil gereichen mag. Denn vernehmet, was für ein Zeichen ich gestern geschaut habe. Ein Habicht jagte einem Täubchen nach; dieses aber schlüpfte in die Spalten eines Felsen hinein, um seinem Verfolger zu entgehen. Lange verweilte dieser grimmig vor dem Felsenspalt, aber das Tierchen ging nicht heraus; da verbarg sich der Raubvogel mit unterdrücktem Unmut ins nahe Gebüsch, und siehe da, jetzt schlüpfte das Täublein in seiner Torheit wieder heraus, der Habicht aber schießt auf das arme Tier nieder und erwürgt es ohne Erbarmen. Laßt uns diesen Vogel zum Muster nehmen und Troia nicht fürder mit Gewalt zu erobern suchen, sondern es einmal mit der List versuchen."

So sprach der Seher; aber keinem Helden, obgleich sie hin und her sannen, wollte ein Mittel einfallen, wie dem grausamen Kriege ein Ziel gesetzt werden könnte; der einzige Odysseus kam endlich durch die Verschmitztheit seines Geistes auf ein solches. "Wisset ihr was, Freunde", rief er, freudig bewegt durch den glücklichen Einfall, "laßt uns ein riesengroßes Pferd aus Holz zimmern, in dessen Versteck sich die edelsten Griechenhelden, so viele unser sind, einschließen sollen. Die übrigen Scharen mögen sich inzwischen mit den Schiffen nach der Insel Tenedos zurückziehen, hier im Lager aber alles Zurückgelassene verbrennen, damit die Troianer, wenn sie dies von ihren Mauern aus gewahr werden, sich sorglos wieder über das Feld verbreiten. Von uns Helden aber soll ein mutiger Mann, der keinem der Troer bekannt ist, außerhalb des Rosses bleiben, sich als Flüchtling zu ihnen begeben und ihnen das Märchen vortragen, daß er sich der frevelhaften Gewalt der Achiver entzogen habe, welche ihn um ihrer Rückkehr willen den Göttern als Opfer schlachten wollten. Er habe sich nämlich unter dem künstlichen Rosse, welches der Feindin der Troianer, der Göttin Pallas Athene, geweiht sei, versteckt und sei jetzt, nach der Abfahrt seiner Feinde, eben erst hervorgekrochen. Dies muß er den ihn Befragenden so lange zuversichtlich wiederholen, bis sie ihr Mißtrauen überwunden haben und ihm zu glauben anfangen. Dann werden sie ihn als einen bemitleidenswerten Fremdling in ihre Stadt führen. Hier soll er darauf hinarbeiten, daß die Troianer das hölzerne Pferd in die Mauern hineinziehen. Geben sich dann unsere Feinde sorglos dem Schlummer hin, so soll er uns ein zu verabredendes Zeichen geben, auf welches wir unseren Schlupfwinkel verlassen, den Freunden bei Tenedos mit einem lodernden Fackelbrande ein Signal geben und die Stadt mit Feuer und Schwert zerstören wollen."

Als Odysseus ausgeredet, priesen alle seinen erfinderischen Verstand, und zumeist lobte ihn Kalchas, der Seher, dessen Sinn der schlaue Held vollkommen getroffen hatte. Er machte auf günstige Vogelzeichen und zustimmende Donnerschläge des Zeus, die sich vom Himmel herab hören ließen, aufmerksam und drängte die Griechen, sogleich zum Werke zu schreiten. Aber da erhub sich der Sohn des Achilles unwillig in der Versammlung. "Kalchas", sprach er, "tapfere Männer pflegen ihre Feinde in offener Feldschlacht zu bekämpfen; mögen die Troianer, das Treffen vermeidend, von ihren Türmen herab als Feige streiten; uns aber lasset nicht auf eine List sinnen oder auf irgendein anderes Mittel außer offenem Kampfe! In diesem müssen wir beweisen, daß wir die besseren Männer sind!"

So rief er, und Odysseus selbst mußte den hochsinnigen Jüngling bewundern; doch erwiderte er ihm: "O du edles Kind eines ebenso furchtlosen Vaters, du hast dich ausgesprochen wie ein Held und wackerer Mann. Aber doch konnte dein Vater selbst, der Halbgott an Mut und Stärke, diese herrliche Feste nicht zerstören. Du siehst also wohl, daß Tapferkeit in der Welt nicht alles ausrichtet. Deswegen beschwöre ich euch, ihr Helden, daß ihr den Rat des Kalchas befolget und meinen Vorschlag ohne Säumen ins Werk setzet!"

Alle anderen Helden gaben dem Sohne des Laertes Beifall; nur Philoktetes stellte sich auf die Seite des Neoptolemos, denn er lechzte noch immer nach Kampf und Schlachtgetümmel, und sein Heldenherz war noch nicht gesättigt. Am Ende hätten die beiden auch den Rat der Danaer zu sich herübergezogen. Aber Zeus bewegte den ganzen Luftkreis, schleuderte Blitz auf Blitz unter krachendem Donner zu den Füßen der widerstrebenden Helden herab und gab so hinlänglich zu verstehen, daß sein Wille sich mit den Vorschlägen des Sehers und des Laertiaden vereinige. So verloren die beiden Helden den Mut, sich länger zu widersetzen und gehorchten, obgleich mit innerlichem Widerwillen.

So kehrten denn alle miteinander zu den Schiffen zurück, und ehe ans Werk gegangen wurde, überließen sich die Helden dem wohltätigen Schlaf. Da stellte sich um Mitternacht im Traume Athene an das Haupt des griechischen Helden Epeios und trug ihm als einem kunstreichen Manne auf, das mächtige Roß aus Balken zu zimmern, indem sie selbst ihm ihren Beistand zu schnellerer Vollendung des Werkes versprach. Der Held hatte die Göttin erkannt und sprang freudig vom Schlafe auf; alle Gedanken wichen in seinem Geiste dem einen Auftrag, und der Geist seiner Kunst bewegte ihm die Seele. Mit Tagesanbruch erzählte er die Göttererscheinung in der Mitte alles Volkes, und nun schickten die Atriden in aller Eile in die waldreichen Täler des Idagebirges und ließen daselbst die hochstämmigsten Tannen fällen. Diese wurden eilig zum Hellespont hinabgetragen, und viele Jünglinge gingen ans Werk und halfen dem Epeios: die einen zersägten die Balken, die anderen hieben die Äste von den noch unzersägten Stämmen, wieder andere taten anderes, Epeios aber machte zuerst die Füße des Pferdes, dann den Bauch; über diesen fügte er sodann den gewölbten Rücken, hinten die Weichen, vorn den Hals; über ihm formte er zierlich die Mähne, die sich flatternd zu bewegen schien; Kopf und Schweif wurden reichlich mit Haaren versehen, aufgerichtete Ohren an den Pferdekopf gesetzt und gläserne leuchtende Augen unter der Stirn angebracht; kurz, es fehlte nichts, was an einem lebendigen Pferde sich regt und bewegt. So vollendete er mit Athenes Hilfe das Werk in drei Tagen, und das ganze Heer bewunderte die Schöpfung des Künstlers, so ausdrucksvoll hatte er Leben und Bewegung nachzubilden gewußt; man meinte jeden Augenblick, jetzt werde das Riesenpferd zu wiehern anfangen. Epeios aber hob die Hände gen Himmel und betete vor allem Heere: "Mächtige Pallas, erhöre mich, rette dein Pferd und mich selbst, hohe Göttin!" Und alle Griechen stimmten in dieses Gebet ein.

Die Troianer waren in der Zwischenzeit vom letzten Kampfe an scheu hinter ihren Mauern geblieben. Um so lauter tobte der Zwiespalt unter den Göttern, selbst jetzt, wo Troias Verhängnis erfüllt werden sollte. Sie fuhren in zwei getrennten Haufen, der eine den Griechen günstig, der andere ihnen abhold, auf die Erde herunter und stellten sich am Flusse Xanthos, den Sterblichen unsichtbar, in zwei Schlachtordnungen gegeneinander auf. Auch die Meergottheiten schlössen sich der einen oder der anderen Seite an. Die Nereiden hielten es, als Verwandte des Achilles, mit den Griechen; andere Meergötter waren auf der Seite Troias, und diese empörten die Flut gegen die Schiffe und trieben sie ans Land gegen das tückische Roß. Sie hätten beide zerstört, wenn das Schicksal es gestattet hätte. Unter den oberen Göttern begann unterdessen der Kampf, und Ares stürzte der Athene zum Kampf entgegen. Damit war das Zeichen des allgemeinen Streites gegeben, und die Götter warfen sich gegenseitig aufeinander; bei jeder Bewegung klirrten die goldenen Rüstungen, und das Meer rauschte mit seinen Wogen darein; unter den Füßen der Unsterblichen bebte die Erde, und alle schrien laut zusammen, so daß der Schlachtruf der Götter bis zur Unterwelt hinabdrang und die Titanen im Tartaros davor erbebten. Es hatten aber die Himmlischen sich zum Kampf eine Zeit ersehen, wo Zeus, der Vater der Götter und Menschen, fern auf einer Reise an den Ozean begriffen war, wohin die Regierung der Erde ihn gerufen hatte. Doch seinem scharfsichtigen Geiste entging auch aus der Ferne nichts von dem, was auf der Oberfläche des Erdbodens sich ereignete. Und so wurde er kaum den Götterkampf inne, als er schnell von der Flut des Ozeans mit seinen geflügelten Windrossen auf dem Donnerwagen, den Iris leitete, in den Olymp zurückkehrte und von dort aus seine Blitze unter die kämpfenden Götter warf. Da erbebten die Unsterblichen und hielten inne mit Kämpfen. Themis, die Göttin des Rechts, die allein dem Streite ferngeblieben war, trat ein unter die Götter und schied sie voneinander, indem sie ihnen verkündigte, daß Zeus die gänzliche Vernichtung der Himmlischen beschlossen hätte, wofern sie nicht gehorchten. Jetzt ward den Göttern bange für ihre Unsterblichkeit, sie unterdrückten die Erbitterung ihrer Herzen und kehrten zurück aus dem Kampfe, die einen zum Olymp, die anderen in die Tiefe des Meeres.

Das Pferd im griechischen Lager war indessen in vollkommene Bereitschaft gesetzt, und Odysseus erhob sich in der Versammlung der Helden. "Jetzt gilt es", sprach er, "ihr Führer des Danaervolkes! Jetzt beweise es, wer wirklich durch Kraft und Mut hervorragt. Denn jetzt ist's Zeit, in dem Bauche des Rosses, der uns beherbergen wird, der dunkeln Zukunft entgegenzugehen! Glaubet mir, es gehört mehr Mut dazu, in diesen Schlupfwinkel zu kriechen, als dem Tode in offener Feldschlacht zu trotzen! Darum, wer sich am tapfersten fühlt, der entschließe sich zu diesem Wagestück. Die anderen mögen vorerst nach Tenedos schiffen! Ein wackerer Jüngling aber bleibe in der Nähe des Pferdes und tue, wie ich geraten habe. Wer will sich diesem Auftrag unterziehen?"

Die Helden zögerten. Da trat ein tapferer Grieche, namens Sinon, auf und sprach: "Sehet mich bereit, das verlangte Werk zu tun! Mögen mich die Troianer mißhandeln, mögen sie mich lebendig ins Feuer werfen, mein Entschluß steht fest!" Die Völker jubelten ihm Beifall zu, und mancher alte Held sprach bei sich im Herzen: "Wer ist doch dieser junge Mensch? Wir haben seinen Namen nie gehört; noch keine tapfere Tat hat ihn ausgezeichnet. Ihn treibt gewiß ein Dämon, entweder den Troianern oder uns selbst Verderben zu bringen!" Nestor aber erhob sich und sprach ermunternd zu den Danaern: "Jetzt, liebe Kinder, bedarf es wackeren Mutes, denn jetzt legen die Götter das Ziel zehnjähriger Mühseligkeiten in unsere Hände, darum rasch hinein in den Bauch des Pferdes. Ich selbst fühle noch die jugendliche Kraft in meinen Greisengliedern, von der ich beseelt war, als ich mit Iason das Argonautenschiff besteigen wollte, und es auch bestiegen hätte, wenn ich nicht von dem König Pelias abgehalten worden wäre!"

So rief der Greis und wollte sich vor allen anderen durch die geöffnete Seitentüre in den Bauch des hölzernen Rosses schwingen, aber Neoptolemos, der Sohn des Achilles, beschwor ihn, diese Ehre ihm, dem Jüngling, abzutreten und seines Greisenalters eingedenk die Führung der übrigen Griechen nach der Insel Tenedos zu übernehmen. Mit Mühe ließ sich Nestor überreden, und nun stieg der Jüngling in voller Rüstung zuerst in die geräumige Höhle. An ihn schlossen sich Menelaos, Diomedes, Sthenelos und Odysseus, dann Philoktetes, Aias, Idomeneus, Meriones, Podaleirios, Eurymachos, Antimachos, Agapenor und so viele sonst noch der Bauch des Rosses fassen mochte. Zuletzt stieg der Verfertiger des Rosses, Epeios, selbst hinein. Dann zog er die Weiteren zu sich herauf in die Höhlung, verschloß sie von innen fest und setzte sich vor den Riegel; die übrigen harrten im Bauche des Rosses in tiefem Schweigen und saßen in dunkler Nacht zwischen Tod und Sieg.

Die andern Griechen aber, nachdem sie die Zelte und alles Lagergeräte in Brand gesteckt hatten, brachen, von Agamemnon, dem Völkerfürsten, und dem König Nestor befehligt, mit den Schiffen auf und segelten der Insel Tenedos zu. So war es von den Danaern bestimmt worden, welche den beiden Helden nicht gestattet hatten, sich dem Pferde anzuvertrauen, dem ersten um seiner Würde, dem anderen um seines Alters willen. Vor Tenedos warfen sie die Anker aus, stiegen ans Land und sahen mit sehnendem Herzen dem Feuerzeichen entgegen.

Die Troianer bemerkten es bald, wie am Hellespont der Rauch in die Lüfte emporwirbelte, und als sie von den Mauern aufmerksam nach dem Gestade hinabspähten, waren auch die Schiffe der Griechen verschwunden. Voll Freuden strömten sie in Scharen dem Ufer zu, doch vergaßen sie nicht, sich in ihre Rüstungen zu hüllen, denn sie waren der Furcht noch nicht ganz los. Als sie nun auf der Stelle des alten feindlichen Lagers das glatte hölzerne Pferd gewahr wurden, stellten sie sich staunend rings um dasselbe her, denn es war ein gar gewaltiges Werk. Während sie noch darüber stritten, was mit dem seltsamen Wunderdinge anzufangen sei, und die einen der Meinung waren, es in die Stadt zu schaffen und als Siegesdenkmal für alle Zukunft auf der Burg aufzustellen, die anderen das unheimliche Gastgeschenk der Griechen in die See zu werfen oder zu verbrennen rieten, eine Beratung, der die im Bauche des Pferdes eingeschlossenen griechischen Helden zu ihrer Qual zuhören mußten, da trat mit eiligen Schritten Laokoon, der troianische Priester des Apollon, in die Mitte des gaffenden Volkes, und rief schon von weitem: "Unselige Mitbürger, welcher Wahnsinn treibt euch? Meinet ihr, die Griechen seien wirklich davongeschifft, oder eine Gabe der Danaer verberge keinen Betrug? Kennet ihr den Odysseus so? Entweder ist irgendeine Gefahr in dem Rosse verborgen, oder es ist eine Kriegsmaschine, die von den in der Nähe lauernden Feinden gegen unsere Stadt angetrieben werden wird! Was es aber auch sein mag, trauet dem Tiere nicht!" Mit diesen Worten stieß er eine mächtige eiserne Lanze, die er einem der neben ihm stehenden Krieger entriß, in den Bauch der Maschine. Der Speer zitterte im Holz, und aus der Tiefe tönte ein Widerhall wie aus einer Kellerhöhle. Aber der Geist der Troianer blieb verblendet.

Während dies vorging, zogen einige Hirten, welche die Neugierde dicht an das hölzerne Pferd herangelockt hatte, unter dem Bauche desselben den schlauen Sinon hervor und schleppten ihn, als einen gefangenen Griechen, vor den König Priamos, und bald sammelte sich das troianische Kriegsvolk, das bisher um das Pferd herumgestanden hatte, um dieses neue Schauspiel. Er aber, waffenlos und zagend, spielte die Rolle, die ihm von Odysseus aufgegeben war. Flehend streckte er die Arme gen Himmel und dann wieder nach den Umstehenden aus und rief unter Schluchzen: "Wehe mir, welchem Lande, welchem Meere soll ich mich anvertrauen, den die Griechen ausgestoßen haben und die Troianer niedermetzeln werden!" Diese Seufzer rührten die Jünglinge selbst, die ihn anfangs als einen Feind gepackt und roh behandelt hatten. Alle Krieger traten teilnehmend herzu und hießen ihn sagen, wer und woher er sei, auch guten Mutes sein, wenn er nichts Feindliches im Schilde führe. Jener ließ die erheuchelte Furcht endlich fahren und sprach: "Ich bin ein Argiver, das will ich ja nicht leugnen; wenn Sinon auch unglücklich ist, so soll er doch nicht zum Lügner werden. Vielleicht habt ihr etwas von dem euboiischen Fürsten Palamedes gehört, der von den Griechen auf Odysseus' Anstiften abscheulicherweise gesteinigt wurde, weil er den Feldzug gegen eure Stadt mißriet; als sein Verwandter zog ich in diesen Krieg, arm und nach seinem Tode ohne Stütze. Und weil ich es wagte, mit Rache für die Ermordung meines Vetters zu drohen, zog ich den Haß des falschen Laertiden auf mich und wurde diesen ganzen Krieg über von ihm geplagt. Auch ruhte er nicht, bis er mit dem lügnerischen Seher Kalchas meinen Untergang verabredet hatte. Als nämlich meine Landsleute die oft beschlossene und wieder aufgehobene Flucht endlich ins Werk setzten und dieses hölzerne Pferd hier schon aufgezimmert stand, schickten sie den Eurypylos zu einem Orakel des Apollon, weil sie am Himmel bedenkliche Wunderzeichen beobachtet hatten. Dieser brachte aus dem Heiligtum des Gottes den traurigen Spruch mit: "Ihr habt bei eurem Auszuge die empörten Winde mit dem Blute einer Jungfrau versöhnt, mit Blut müßt ihr auch den Rückweg erkaufen und eine Griechenseele opfern." Dem Kriegsvolke ging ein kalter Schauder durch die Gebeine, als es dies hörte. Da zog Odysseus den Propheten Kalchas mit großem Lärm in die Volksversammlung und bat ihn, den Willen der Götter zu offenbaren. Fünf Tage lang schwieg der Betrüger und weigerte sich heuchlerisch, einen Griechen für den Tod zu bezeichnen. Endlich, wie gezwungen durch das Geschrei des Odysseus, nennt er meinen Namen. Alle stimmten bei, denn jeder war froh, das Verderben von seinem eigenen Haupte abgewendet zu sehen. Und schon war der Schreckenstag erschienen, ich wurde zum Opfer ausgeschmückt, mein Haupt mit den heiligen Binden umwunden, der Altar und das geschrotene Korn in Bereitschaft gehalten. Da zerriß ich meine Bande, entfloh und versteckte mich, bis sie abgesegelt waren, im Schilfrohr eines nahen Sumpfes. Dann kroch ich hervor und suchte ein Obdach unter dem Bauche ihres heiligen Rosses. In mein Vaterland und zu meinen Landsleuten kann ich nicht zurückkehren. Ich bin in eurer Hand, und von euch hängt es ab, ob ihr mir großmütig das Leben schenken oder mir den Tod geben wollt, der mich von der Hand meiner eigenen Volksgenossen bedroht hat."

Die Troianer waren gerührt, Priamos sprach gütige Worte zu dem Heuchler, hieß ihn die alten Griechen vergessen und versprach ihm eine Zufluchtsstätte in seiner Stadt, wenn er ihnen nur offenbaren wolle, was für eine Beschaffenheit es mit dem hölzernen Rosse habe, dem er soeben den Beinamen eines heiligen gegeben. Sinon hob seine der Fesseln entledigten Hände gen Himmel und betete mit trügerischer Andacht: "Ihr Götter, denen ich schon geweiht war, du Altar und du, verfluchtes Schwert, das mich bedrohte, ihr seid mir Zeugen, daß die Bande, die mich an mein Volk bisher knüpften, zerrissen sind, und daß ich nicht frevle, wenn ich ihre Geheimnisse aufdecke! Von jeher war alle Hoffnung der Danaer in diesem Kriege auf die Hilfe der Göttin Pallas Athene gebaut. Seitdem aber aus dem Tempel, den sie bei euch zu Troia hat, ihr Bild, das Palladion, entwendet worden - und zwar, was ihr Troianer wohl zum erstenmal erfahret, durch die Hände schlauer Griechen - ging alles rückwärts, die Göttin war erzürnt, und das Glück hatte die Waffen der Danaer verlassen. Da erklärte Kalchas, der Seher, auf der Stelle müßte man mit den Schiffen umkehren, um im Vaterlande selbst neue Befehle der Götter einzuholen. Ehe das Palladion an seine Stelle zurückgebracht sei, dürften sie auf keinen glücklichen Ausgang des Feldzuges hoffen. Dies bewog die Danaer, die Flucht zu beschließen, welche sie nun auch wirklich ausgeführt haben. Zuvor aber erbauten sie noch auf den Rat ihres Propheten dieses hölzerne Riesenpferd, das sie als Weihgeschenk für die beleidigte Göttin zurückließen, um ihren Zorn zu versöhnen. Diese Maschine ließ Kalchas so unermeßlich in die Höhe bauen, wie ihr sehet, damit ihr Troianer sie nicht durch eure Tore führen und in eure Stadt bringen könntet, weil auf diese Weise der Schutz der Athene euch zuteil werden würde. Wenn hingegen eure Hand sich an dem geheiligten Pferde, als einem Überbleibsel eurer Feinde, vergriffe - dies war es, was sie zu hoffen wagten -, dann wäre euer und euer Stadt Verderben gewiß. Und in dieser Zuversicht gedenken sie in kurzer Frist, sobald sie zu Argos die Götterbefehle vernommen, zurückzukehren, und hoffen, das Palladion der Göttin eurer eroberten Stadt zurückgeben zu können."

Das Lügengewebe war so wahrscheinlich ersonnen, daß Priamos und alle Troianer dem Betrüger Glauben schenkten. Athene aber wachte über das Geschick ihrer Freunde, die in dem Rosse noch immer in banger Erwartung eingeschlossen saßen und seit der Warnung des Laokoon in beständiger Todesangst schwebten. Die Helden wurden aus ihrer Gefahr durch ein entsetzliches Wunder befreit. Eben jener Laokoon, der Priester des Apollon, hatte nach dem Tode des Poseidon-Priesters auch diese Würde durchs Los erhalten und opferte jetzt gerade am Meeresgestade dem Gölte einen stattlichen Stier am Altar. Siehe, da kamen von der Insel Tenedos aus durch die spiegelglatte Meerflut zwei ungeheuere Schlangen gerudert und nahmen ihren Weg nach dem Ufer; ihre Brust und die blutrote Mähne ragten aus dem Wasser hervor, der übrige Teil ihrer Leiber ringelte sich unter den Fluten fort. Die See plätscherte unter ihrer Spur, und jetzt waren sie am Lande, züngelten und zischten und sahen sich mit feurigen Augen um. Die Troianer, die noch immer in Menge um das Roß herumstanden, wurden totenblaß und ergriffen die Flucht, die Tiere aber nahmen ihre Richtung nach dem Uferaltar des Meergottes, wo Laokoon mit seinen zwei jungen Söhnen beim Opfer beschäftigt war. Zuerst wanden sie sich um die Leiber der beiden Knaben und bohrten ihren giftigen Zahn in ihr zartes Fleisch. Als die Verwundeten laut aufschrien und der Vater selbst ihnen mit gezogenem Schwerte zu Hilfe kommen wollte, schlangen sie sich mit mächtigen Windungen auch diesem zwiefach um den Leib und überragten ihn bald mit ihren aufgerichteten Hälsen und zischenden Häuptern. Seine Priesterbinde troff von Eiter und Gift. Vergebens bestrebte er sich, die Schlingen mit seinen Händen loszumachen, und inzwischen entfloh der schon getroffene Stier blutig und brüllend vom Altar und schüttelte das Beil aus dem Nacken. Laokoon erlag mit seinen beiden Kindern den Schlangenbissen, und nun schlüpften die Tiere in langen Krümmungen dem hochragenden Tempel der Athene zu und bargen sich dort unter den Füßen und dem Schilde der Göttin.

Das Troianervolk sah in diesem gräßlichen Ereignis eine Bestrafung der frevelhaften Zweifel seines Priesters. Ein Teil eilte der Stadt zu und riß die Mauer nieder, um dem unheilvollen Gaste den Weg zu bahnen, ein anderer fügte Räder an die Füße des Rosses, wieder andere drehten gewaltige Seile aus Werg und warfen sie dem hölzernen Riesentier um den Hals. Dann zogen sie es im Triumphe nach der Stadt; Knaben und Mädchen, die Hand an die Seile gelegt, sangen in Chören feierliche Hymnen dazu. Als die Maschine über die erhöhten Torschwellen rollte, stockte viermal ihr Lauf, und viermal dröhnte ihr Bauch wie von Erz. Aber die Troianer waren mit Blindheit geschlagen und führten das Ungeheuer jubelnd auf ihre heilige Burg. Mitten unter der Raserei der öffentlichen Freude blieb nur das Gemüt und der Geistesblick der Seherin Kassandra, der gottbegabten Königstochter des troianischen Hauses, ungetrübt. Nie sprach sie ein Wort aus, das nicht erfüllt worden wäre. Aber sie hatte das Unglück, niemals Glauben zu finden. So hatte sie auch jetzt unheilvolle Zeichen am Himmel und in der Natur beobachtet und stürzte mit flatternden Haaren, vom Geiste der Weissagung getrieben, aus dem Königspalast hervor: ihre Augen starrten in fieberhafter Glut, ihr Nacken wiegte sich hin und her wie ein Zweig im Windhauche, sie holte einen tiefen Seufzer aus der Brust herauf und rief durch die Gassen der Stadt: "Ihr Elenden, sehet ihr nicht, daß wir die Straße zum Hades hinunterwandeln, daß wir am Rande des Verderbens stehen? Ich schaue die Stadt mit Feuer und Blut erfüllt, ich sehe es aus dem Bauch des Rosses hervorwallen, das ihr mit Jauchzen auf unsere Burg hinaufgeführt habt. Doch ihr glaubt mir nicht, und wenn ich unzählige Worte spräche. Ihr seid den Erinnyen geweiht, die Rache an euch nehmen wegen Helenas frevelhafter Ehe."

Wirklich wurde die weissagende Jungfrau nur verlacht oder geschmäht, und hier und da sprach einer der Begegnenden zu ihr: "Hat dich denn die jungfräuliche Scham ganz verlassen, Kassandra, bist du ganz irre geworden in deinem Geiste, daß du dich öffentlich auf den Straßen herumtreiben magst und nicht siehest, wie die Menschen dich verachten, törichte Schwätzerin? Kehre zurück in dein Haus, daß dich nichts Schlimmes treffe!"