Oidipus auf Kolonos

Nach langer Wanderung, bald durch bewohntes, bald durch wüstes Land, waren die beiden eines Abends in einer sehr milden Gegend bei einem anmutigen Dorfe mitten im lieblichsten Haine angekommen. Nachtigallen flatterten durch das Gebüsch und sangen mit süßem Schall, Rebenblüte duftete, mit Oliven- und Lorbeerbäumen waren die rauhen Felsstücke, welche die Gegend viel mehr schmückten als entstellten, überkleidet. Der blinde Oidipus selbst hatte durch seine übrigen Sinne eine Empfindung von der Anmut des Ortes und schloß aus der Schilderung seiner Tochter, daß er ein geheiligter sein müsse. Aus der Ferne stiegen die Türme einer Stadt auf, und ihre Erkundigungen hatten Antigone belehrt, daß sie sich in der Nähe von Athen befänden. Oidipus hatte sich, von dem Wege des Tages müde, auf ein Felsstück gesetzt. Ein Bewohner des Dorfes, der vorüberging, hieß ihn jedoch bald diesen Sitz verlassen, weil der Boden geheiligt sei und keinen Fußtritt dulde. Da erfuhren denn die Wanderer bald, daß sie sich im Flecken Kolonos und auf dem Gebiet und in dem Hain der alles erspähenden Eumeniden befänden, unter welchem Namen die Athener hier die Erinnyen verehrten.

Nun erkannte Oidipus, daß er am Ziele seiner Wanderung angekommen und der friedlichen Lösung seines feindseligen Geschickes nahe sei. Seine Worte machten den Koloneer nachdenklich, und er wagte es jetzt schon nicht mehr, den Fremdling von seinem Sitz zu vertreiben, ehe er den König von dem Vorfall unterrichtet hätte. "Wer gebietet denn in eurem Lande?" fragte Oidipus, dem in seinem langen Elend die Geschichten und Verhältnisse der Welt fremd geworden waren. "Kennst du den gewaltigen und edlen Helden Theseus nicht", fragte der Dorfbewohner, "ist doch die ganze Welt voll von seinem Ruhme!" -"Nun, ist euer Herrscher so hochgesinnt", erwiderte Oidipus, "so werde du mein Bote zu ihm, und bitte ihn, nach dieser Stelle zu kommen; für so kleine Gunst verspreche ich ihm großen Lohn." - "Welche Wohltat könnte unserem König ein blinder Mann erweisen?" sagte der Bauer und warf einen lächelnden, mitleidigen Blick auf den Fremdling. "Doch", setzte er hinzu, "wäre nicht deine Blindheit, Mann, du hättest ein edles, hohes Aussehen, das mich zwingt, dich zu ehren. Darum will ich dein Verlangen erfüllen und meinen Mitbürgern und dem König deine Bitte melden. Bleibe so lange hier sitzen, bis ich deinen Auftrag ausgerichtet habe. Jene mögen dann entscheiden, ob du hier bleiben kannst oder gleich wieder weiter wandern sollst."

Als sich Oidipus mit seiner Tochter wieder allein sah, erhob er sich von seinem Sitz, warf sich zu Boden und ergoß sein Herz in einem brünstigen Gebet zu den Eumeniden, den furchtbaren Töchtern des Dunkels und der Mutter Erde, die eine so liebliche Wohnung in diesem Haine aufgeschlagen. "Ihr Grauenvollen und doch Gnädigen", sprach er, "zeiget mir jetzt nach dem Ausspruche Apolls die Entwicklung meines Lebens, wenn anders ich in meinem mühseligen Leben nicht immer noch zu wenig erduldet habe! Erbarmet euch, ihr Töchter des Dunkels, erbarme dich, ehrenwerte Stadt Athenes, über das Schattenbild des Königs Oidipus, der vor euch steht, denn er selbst ist es nicht mehr!"

Sie blieben nicht lange allein. Die Kunde, daß ein blinder Mann von Ehrfurcht gebietendem Aussehen sich in dem Erinnyenhaine gelagert, den zu betreten Sterblichen sonst nicht vergönnt ist, hatte bald die Ältesten des Dorfes, welche die Entweihung zu hindern gekommen waren, um ihn versammelt. Noch größerer Schrecken ergriff sie, als der Blinde sich ihnen als einen vom Schicksal verfolgten Mann zu erkennen gab. Sie fürchteten den Zorn der Gottheit auf sich zu laden, wenn sie einen vom Himmel Gezeichneten länger an diesem heiligen Orte duldeten, und befahlen ihm, auf der Stelle ihre Landschaft zu verlassen. Oidipus bat sie inständig, ihn von dem Ziele seiner Wanderschaft, das ihm die Stimme der Gottheit selbst angewiesen habe, nicht zu verstoßen; Antigone vereinigte ihr Flehen mit dem seinen. "Wenn ihr euch der grauen Haare meines Vaters nicht erbarmen wollet", sprach die Jungfrau, "so nehmet ihn doch um meiner, der Verlassenen willen auf, denn auf mir lastet ja keine Schuld. Eilet, bewilliget uns eure Gunst unverhofft!" Während sie solche Zwiesprache pflegten und die Einwohner zwischen Mitleid und Furcht vor den Erinnyen in ihrem Entschlüsse zweifelhaft hin- und herschwankten, sah Antigone ein Mädchen, auf einem kleinen Rosse sitzend, das Angesicht mit einem Reisehut vor der Sonne geschützt, heraneilen. Ein Diener, gleichfalls zu Rosse, folgte ihr. "Es ist meine Ismene", sagte sie in freudigem Schrecken, "schon glänzt mir ihr liebes, helles Auge! Gewiß bringt sie uns neue Kunde aus der Heimat!" Bald war die Jungfrau, das jüngste Kind des verstoßenen Königs, bei ihnen angelangt und vom Saumrosse gesprungen. Mit einem einzigen Knechte, den sie allein treu befunden, hatte sie sich von Theben aufgemacht, um dem Vater Nachricht von dem Stande der dortigen Angelegenheiten zu bringen. Dort waren seine Söhne von großer, selbstverschuldeter Not bedrängt. Anfangs hatten sie die Absicht, ihrem Oheim Kreon den Thron ganz zu überlassen, denn der Fluch ihres Stammes schwebte ihnen drohend vor Augen. Allmählich aber, je mehr ihres Vaters Bild in die Ferne trat, verlor sich diese Regung; das Verlangen nach Herrschaft und Königswürde und mit ihm die Zwietracht erwachte bei ihnen. Polyneikes, der das Recht der Erstgeburt auf seiner Seite hatte, setzte sich zuerst auf den Thron. Aber Eteokles, der jüngere, nicht zufrieden, abwechslungsweise mit ihm zu herrschen, wie der Bruder vorschlug, verführte das Volk und stieß den älteren Bruder aus dem Lande fort. Dieser, so ging in Theben das Gerücht, war nach Argos im Peloponnes entflohen, wurde dort der Schwiegersohn des Königs Adrastos, verschaffte sich Freunde und Bundesgenossen und bedrohte seine Vaterstadt mit Eroberung und Rache. Zugleich aber war ein neuer Götterspruch ruchbar geworden, welcher dahin lautete, daß die Söhne des Oidipus ohne ihn selbst nichts vermögen; daß sie ihn suchen müßten, tot oder lebendig, wenn ihr eigenes Heil ihnen lieb wäre.

Dies waren die Nachrichten, welche Ismene ihrem Vater brachte. Die Ältesten des Dorfes horchten staunend, und Oidipus hob sich empor von seinem Sitze: "Also stehet es mit mir", sprach er, und königliche Hoheit strahlte von dem blinden Angesicht, "bei dem Verbannten, bei dem Bettler, sucht man Hilfe? Nun, da ich nichts bin, werde ich erst ein rechter Mann?" - "So ist es", fuhr Ismene in ihren Nachrichten fort. "Auch wisse, Vater, daß eben deswegen unser Oheim Kreon in ganz kurzer Zeit hierher kommen wird, und daß ich mich sehr beeilt habe, ihm zuvorzukommen. Denn er will dich überreden oder fangen, wegführen, und an die Grenzen des thebanischen Gebietes stellen, damit der Orakelspruch sich zu seinen und unseres Bruders Eteokles Gunsten erfülle und deine Gegenwart die Stadt doch nicht entweihe." - "Von wem weißt du alles dieses?" fragte der Vater. "Von Opferpilgern, die nach Delphi ziehen." - "Und wenn ich dort sterbe", fragte Oidipus weiter, "werden sie mich in thebanischer Erde begraben?" - "Nein", erwiderte die Jungfrau, "das duldet deine Blutschuld nicht." - "Nun", rief der alte König entrüstet, "so sollen sie auch meiner niemals mächtig werden! Wenn bei meinen beiden Söhnen die Herrschsucht stärker ist als die kindliche Liebe, so soll ihnen auch der Himmel nie ihre verhängnisvolle Zwietracht löschen, und wenn auf mir die Entscheidung ihres Streites beruht, so soll weder der, der jetzt das Szepter in Händen hat, auf dem Throne sitzen bleiben noch der Verjagte je sein Vaterland wiedersehen! Nur diese Töchter sind meine wahren Kinder! In ihnen ersterbe meine Schuld, für sie erflehe ich den Segen des Himmels, für sie bitte ich auch um euren Schutz, mitleidige Freunde! Gewähret ihnen und mir euren tätigen Beistand, und ihr erwerbet dadurch eurer Stadt eine mächtige Brustwehr!"