DER ULMER SPATZ

Es ist schon lange her, da hatten die Ulmer einmal einen sehr großen Balken in die Stadt zu bringen. Da sie den Balken aber der Breite nach trugen, so konnten sie mit demselben nicht durch das Tor kommen und beratschlagten nun, wie diese Schwierigkeit zu beseitigen sei. Nach vielen vergeblichen Vorschlägen stritt man zuletzt nur noch darüber, was vorzuziehen sei: entweder den Balken schmäler oder aber das Tor breiter zu machen.

Da kam endlich durch das Tor ein Spatz geflogen, der trug einen langen Strohhalm zu seinem Neste. Selbiger Spatz nun trug aber den Strohhalm der Länge und nicht der Breite nach. «Halt!» rief da ein aufmerksamer Ulmer, «mir geht ein Licht auf!» Und sofort machte er den Vorschlag, dem Beispiele des Spatzen zu folgen, was denn auch allgemeinen Anklang bei den anwesenden Bürgern gefunden haben soll, so daß sie den Balken auf gute Weise in die Stadt brachten. Seitdem müssen sich die Ulmer den Namen der [Spatz] gefallen lassen bis auf den heutigen Tag. (Schwaben)


Quelle: Ernst Meier, Deutsche Sagen, Sitten und Gebräuche aus Schwaben, Bd. I und II, Stuttgart 1852, II, S. 362, Nr. 403, Mündlich.
aus: Historische Sagen, Leander Petzoldt, Schorndorf 2001, Nr. 77, S. 49