DIE DREISTE MAGD HAT VIEL GEWAGT

Am Marktplatze zu Brieg [Brzeg] befand sich am Beginn des 19. Jahrhunderts ein Haus, über dessen Haustür ein Gemälde war, das eine Magd auf einem Schimmel sitzend darstellt, die vom Galgen nach der Stadt flieht, darunter die obigen Worte als Unterschrift. Die Veranlassung zu diesem Bilde gab folgender Vorfall:

Im Anfange des 17. Jahrhunderts war dieses Haus eine Weinschenke. Eines Abends unterhielt sich eine größere Anzahl von Gästen über allerlei Spuk und Gespenster. Die Magd des Hauses aber erklärte, sie fürchte sich nicht vor solchen Dingen. Da gab ihr der Scharfrichter den Schlüssel zum Galgen, sie solle seine dort vergessenen Handschuhe holen, sonst sei sie eine Prahlerin.

Sie machte sich sofort auf den Weg und ereichte den Galgen um Mitternacht. Sie fand zu ihrer Überraschung die Tür des Galgens schon geöffnet. Aber gleichwohl schritt sie hinein und fand des Scharfrichters Handschuhe. Dabei entdeckte sie mancherlei Gegenstände, die auf die Anwesenheit einer Räuberbande schließen ließen, aber sie sah keinen Menschen.

Beim Hinaustreten fand sie einen reichbeladenen Schimmel, der vorher nicht dagewesen war. Rasch schwang sie sich auf seinen Rücken und trabte, so schnell sie konnte, dem Stadttore zu. Aber nur einige hundert Schritte weit war sie gekommen, als sie sich verfolgt fühlte. Todesangst ergriff sie; denn der Verfolger war dicht hinter ihr her. Dennoch gelang es ihr, das Tor zu erreichen.

Einige Tage darauf — es war gerade Sonntag, und alle Leute waren in der Kirche — traten zwei vornehm gekleidete Herren in die Schenke, wo das Mädchen allein war. Sie verlangten Wem. Von einer dunklen Ahnung ergriffen, daß dies die Räuber seien, stieg sie in den Keller hinab. Plötzlich hörte sie Fußtritte hinter sich. „Halt, Kanaille!" rief eine Stimme. Rasch blies sie das Licht aus und wußte in dem ihr wohlbekannten Keller den Ausgang zu finden, ehe die beiden Verfolger sich zurechtfanden. Sie warf die Tür zu, verrammelte sie und erstattete sogleich Anzeige bei der Obrigkeit. Die Räuber wurden festgenommen und genötigt, ihre Mitschuldigen anzugeben. Die ganze Bande wurde hingerichtet.


Quelle: Sagen aus Schlesien, Herausgegeben von Oskar Kobel, Nr. 7