WIE DAS "SOMMERSINGEN" IN SCHLESIEN AUFKAM

Micislaus, der Sohn des Herzogs von Schlesien und Polen, war bis zu seinem siebenten Lebensjahre blind gewesen, dann aber, als man ihm nach damaliger Sitte zum ersten Male das Haupthaar abschnitt, wieder sehend geworden. Als er zum Jünglinge herangereift war, erhob er seine Augen zu Dombrowka, der Tochter des Königs von Böhmen. Sie aber war Christin, während Micislaus noch Heide war. Sicher hätte die schöne Böhmin nie einen Heiden geheiratet. Darum rieten viele in Gnesen wohnende Freunde, die bereits Christen geworden waren, dem Sohne ihres Herzogs, auch zum Christentume überzutreten. Dann werde Dombrowka bestimmt seiner Werbung freundlich zustimmen, und seine Ehe werde vom Glück begünstigt sein.

Dem jungen Prinzen leuchtete das ein. Er vermählte sich am Sonntag Lätare, dem 16. März des Jahres 965, mit der geliebten Braut und trat gleichzeitig zum Christentume über.

Als er die Herrschaft über sein Reich angetreten hatte, befahl er seinen Untertanen, gleichfalls Christen zu werden und sofort alle Götzenbilder mit Schimpf und Spott zum Tore hinauszuschlep-pen und in die Sümpfe zu versenken. Auch gab er den Befehl, alle Jahre an diesem Sonntage Lätare Puppen, die ihre alten Götzen darstellen sollten, hinauszutragen und so in ihnen den Tod des Heidentums zu vertreiben. So trug man am Sonntag Lätare die Götzenpuppen hinaus und sang dazu Lieder, die den Sinn der Handlung wiedergeben sollten. Eines dieser Lieder lautet:

Woas troan mir, woas troan mir,
A lebendiga Tud begroaba wir,
Wir begroaba ihn under die Tunne,
Doaß scheint die liebe Sunne.

Dieser Brauch hat sich bis heute, namentlich in den niederschlesischen Gauen erhalten. In dem Tode, den man hinaustreibt, glaubt man auch den Wintertod zu Grabe zu tragen. Und so verkündet der Sonntag Lätare für das wintermüde, nunmehr hoffnungsfreudig gewordene Volk sozusagen den Beginn der wärmeren Zeit. Darum nennt man den Sonntag Lätare auch den Sommersonntag und den Brauch, an diesem Tage mit geschmückten „Sommerbäumen" frohe Umzüge zu veranstalten, wobei ernste und scherzhafte Lieder gesungen werden, das Sommersingen. Eines dieser Lieder sei hier angeführt:

Den Winter haben wir hinausgetrieben,
Den lieben Sommer bringen wir wieder,
Den Sommer oder Maien,
An Blümlein vielerleien,
An Blümlein vieler Zweigelein;
Der liebe Gott wird bei uns sein,
Er wird auch bei uns wohnen,
Dort oben in den Kronen,
Dort oben in der Seligkeit,
Da ist der Frau der Stuhl bereit,
Dort oben soll sie sitzen,
Sie wart't auf Jesum Christen.
Ein Schock, zwei Schock,
Hundert Taler Vorrat!


Quelle: Sagen aus Schlesien, Herausgegeben von Oskar Kobel, Nr. 1