Die Vision im Thronsaal

Im Jahre 1789 zur mitternächtlichen Geisterstunde machte der Graf O'Donell mit der Burgwache die Runde durch die Räume der Hofburg und kam dabei in den Thronsaal, der in einem fahlen Lichte lag. Die Eintretenden blieben tief betroffen stehen, denn zu ihrem höchsten Erstaunen erblickten sie die Erzherzogin Elisabeth, die junge Gemahlin des Thronfolgers Erzherzog Franz, in einem kaiserlichen Prunkgewand vollkommen regungslos auf dem Thronsessel sitzend. Nur ihre Augen verrieten eine hoheitsvolle Abwehr, sonst schien sie in ihrer auffallenden Starrheit ein unheimliches Scheindasein zu führen. Da es bekannt war, daß die Erzherzogin längst ihr Schlafgemach aufgesucht hatte, fand es O'Donell für gut, die diensttuende Hofdame eilends von dem Spuk im Thronsaal zu unterrichten, die den sonderbaren Vorfall sofort der Erzherzogin, die noch wach war, mitteilte. Elisabeth begab sich kurz entschlossen mit der Wache in den Saal, wo auch sie bestürzt das noch immer unbeweglich thronende Abbild von sich sah und sogleich der Wache befahl, auf dasselbe zu schießen, worauf die unheildrohende Erscheinung in nichts zerfloß. Drei Monate später starb Elisabeth im Kindbett am 18. Februar 1790.

Quelle: Gugitz, Gustav, Die Sagen und Legenden der Stadt Wien, Wien 1952, S. 155