Schustermichel

Hart an der Mariahilferkirche betrieb der Schuster Michel um 1700 eine Gastwirtschaft. Vom Volksmund Schustermichelwirt benannt, genoß der Alte wegen seiner Habgier üblen Ruf.
In einer grausen Nacht, da er nach Abzug aller Gäste insgeheim die Tageslosung zählte und verbarg, begehrte jemand leise pochend Einlaß. Neugier und Gewinnsucht scheuchten bald das erste Widerstreben weg und Michel öffnete, zur Stille mahnend, seinem späten Gast. Als dieser sich versichert hatte, mit dem Wirt allein zu sein, entspann sich folgendes Gespräch:

"Ich muß um Mitternacht dem Gnadenbild zu Füßen knien, vermögt Ihr mir den Einlaß in die Kirche zu erwirken?"

"Vom Aveläuten bis zum Morgengrauen darf kein Mensch das Gotteshaus betreten." -

"Doch wenn ich Euch und den Mesner reichlich lohne? Zwei Beutel Goldes setz' ich daran!"

"Das ist was andres, gebt und kommt!"

Den einen Geldsack steckte Michel ein, und mit dem zweiten schlichen sie zum Mesner, dessen Weigerung verstummte, als das Geld in seinen Händen war. Der Fremde stürzte vor dem Gnadenbilde auf die Knie und stöhnte lange, lange händeringend um Vergebung. Sichtlich getröstet stand er endlich auf und zog sich auf ein Kämmerlein in Michels Gasthaus scheu zurück.

Am nächsten Morgen rief der Fremde den Wirt zu sich, bezahlte königlich und reichte ihm ein wohl verschnürtes Kästchen mit den Worten: "Verwahrt sorgsam diesen Schrein, bis ich ihn hole, erst wenn ich nach Jahresfrist nicht komme, öffnet ihn und führt getreulich aus was Ihr auf einem Zettel in dem Kästchen lesen werdet. Mein Heil wie das Eure hängt daran." Dann schied er, unbemerkt, wie er gekommen war.

Das ganze Jahr durch wartete der Wirt und hatte Mühe, seine Gier zu zügeln, doch als die Zeit verstrichen war, erbrach er insgeheim das schwere Kästchen, das bis zum Rand mit purem Gold gefüllt war. Wohl las der Wirt die Widmung dieses unerhörten Schatzes für das Gotteshaus Mariahilf, doch dachte er nicht daran, den Auftrag zu befolgen. Er barg das Geld in seinem tiefsten Schrein, verriet kein Wort und gönnte sich nur selten einen Blick in diesen reichen Schatz. Von Stund an war er aber nimmer seines Lebens froh, erkrankte bald und böse Träume kündeten ihm seinen frühen Tod.

Da ließ er, der seit Jahr und Tag die Kirche mied, den Pfarrherrn von Mariahilf zu sich bitten, bekannte seine Schuld, gab alles Gold des Fremden in des Priesters Hand, gewann Verzeihung, aber sein Gewissen blieb noch schwer bedrückt; er setzte seinen letzten Willen auf und starb.

Das Testament verschrieb der Kirche zu Mariahilf ein reiches Erbe, das die lang ersehnte Herstellung der größten Glocke möglich machte. Als des Schustermichels Glocke ihre ersten Schläge hören ließ, erschienen sie dem Volke so dumpf und schwer, daß jedermann darin das Stöhnen ihres Stifters zu vernehmen glaubte, der im Grab nicht Ruhe finden konnte. Das Spottwort Schustermichel aber ward zum Glockennamen und erhielt sich so geadelt bis auf unsere Zeit.

Quelle: Die Sagen und Legenden der Stadt Wien, herausgegeben von Gustav Gugitz, Wien 1952, Nr. 63, S. 79ff
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Anja Christina Hautzinger, Mai 2005.